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Sissel Tolaas - Die Frau, die Gerüche sammelt

In sieben Jahren hat sie 6703 Düfte gesammelt. Sie hat auch das Odeur eines Schlachtfelds des Ersten Weltkriegs für Militärhistorische Museum nachgestellt. Sehr, sehr starkes Odeur.

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Clewing, Ulrich

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Der Apparat, dem Sissel Tolaas so viel verdankt, sieht aus wie eine Mischung aus Staubsauger und Geigerzähler. Damit hat sie etwas gesammelt, von dem man nicht dachte, das man es überhaupt sammeln kann: Gerüche. Eine Enzyklopädie der Düfte, von den wohlriechenden bis zu jenen, für die sich sonst keiner interessiert, außer vielleicht Mitarbeiter des Gesundheitsamts. Das Aroma von Brandmauern und Bürgersteigen, von Parkanlagen, U‑Bahnhöfen und Pissecken. Nichts, was man landläufig als angenehm beschreiben würde – aber da hätte man aus Sissel Tolaas’ Sicht bereits den ersten Fehler gemacht.

Ein Mietshaus in Berlin-Wilmersdorf, gediegene Innenstadtlage, die Wohnung liegt im dritten Stock. Eine schlanke, groß gewachsene Frau Mitte vierzig öffnet die Tür, die hellblonden Haare zu einem jugendlich franseligen Pagenkopf geschnitten. Sissel Tolaas, in Norwegen geboren, hat nicht nur Chemie studiert, sondern auch Bildende Kunst, in Oslo, Moskau, Warschau und in Oxford. So ungewöhnlich wie die Liste ihrer Studienorte liest sich auch ihr beruflicher Werdegang. Mal ist sie Künstlerin, mal Wissenschaftlerin. Sie hat für Sportschuhfabrikanten gearbeitet und für die Nasa, sie hält Vorträge an den renommiertesten Universitäten der USA und veranstaltet Aktionen in Museen wie dem Moma in New York, dem SF Moma in San Francisco und dem Hamburger Bahnhof in Berlin. In ihrem Lebenslauf nennt sie sich einen professional In-Betweener.

Auf den ersten Blick ist an der Altbauwohnung, in der sie lebt, nichts Besonderes zu entdecken. Wäre dort nicht dieses Eckzimmer, in dem ungefähr 2500 kleine Fläschchen mit Duftproben stehen. „Was Sie hier sehen, ist nur ein kleiner Teil meines Archivs. Der Rest befindet sich im Lager. Es hat mich sieben Jahre gekostet, es zusammenzutragen“, sagt Tolaas. 6703 Düfte diverser Herkünfte: Damit hätte sie das Zeug, die Welt zu verändern. Oder zumindest die Menschen, mit ihren Angewohnheiten, Klischees und Vorurteilen. Denn was wir riechen, hält Tolaas zum großen Teil für willkürliche Konditionierung. Der Geruch von Schweiß, so wird einem von Klein auf eingetrichtert, ist schlecht, der von Rosen gut. Dass beide ihrer Meinung nach sehr nahe beieinander liegen – für diese Erkenntnis ist in unserer deodorierten, sterilisierten Gegenwart kein Platz.

Früher hat sie Gerüche „analog“ aufgelesen: mit einem Schwamm. Doch seit sie den Vakuumsauger zur Verfügung hat, geht alles viel einfacher. Der Apparat saugt Luft an. In der Luft befinden sich Moleküle. Die Proben werden vakuumverpackt und nach New York geflogen, wo einer der Marktführer, die International Flavors and Fragrance Inc., ihre chemische Zusammensetzung analysiert. Diejenigen Moleküle, die in der Luftprobe am häufigsten vorkommen, sind auch jene, welche den Geruch an dem Ort, an dem die Probe genommen wurde, am stärksten prägen. Anhand dieser Auswertungen kann Tolaas dann damit beginnen, den spezifischen Duft künstlich zu replizieren.

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Wahrscheinlich gehen Parfümhersteller ähnlich vor, doch an dem Punkt wird die Norwegerin grundsätzlich. „Mit Parfüms hat meine Arbeit wenig zu tun“, sagt sie und wechselt, obwohl schon seit Anfang der neunziger Jahre in Berlin, vor Aufregung ins Englische. „Der Geruchssinn ist eine fundamentale Empfindung des Menschen. Er löst sofort Emotionen aus. Dabei dürfte es interessant sein zu erfahren, dass man neutral geboren wird. Die Fähigkeiten, Düfte zu unterscheiden, bilden sich erst nach und nach heraus.“ Ob sie als gefällig oder störend wahrgenommen werden, hängt vom Kulturkreis ab. Vor allem aber von der Situation, in der man das erste Mal mit ihnen konfrontiert wird. „Diesen Moment“, sagt Tolaas, „vergessen Sie Ihr Leben lang nicht.“ Eine Erkenntnis, die auch Marketing-Experten nutzen: Den penetranten Duft einiger Filialen des Kleidungsherstellers Abercrombie & Fitch riecht man bereits aus zehn Metern Entfernung, bevor man die Produkte sieht.

Die Nase kann dem Menschen Gefahr signalisieren, Freude oder Trauer wecken, dem Gedächtnis helfen oder die Seele heilen. Sissel Tolaas weiß von Untersuchungen, bei denen man Schülern abstrakte, das heißt synthetische, bis dahin noch nicht gerochene Düfte unter die Nase hielt, während sie lernten. Bei erneuter Verabreichung konnten die Probanden das Gelernte deutlich besser referieren als jene ohne Duft-Stimulation. Umgekehrt kann man mit geduldigem Training aber auch erreichen, dass ein Mensch die einmal mit einem Geruch verbundene Situation wieder aus seinem Gedächtnis löscht. Diese Erkenntnis könnte sich für die Behandlung von Trauma-Patienten, die mit einem bestimmten Geruch ein schreckliches Erlebnis verbinden, noch als wertvoll herausstellen.

Als vergangenen Dezember in Dresden Daniel Libeskinds Neubau für das Militärhistorische Museum eröffnet wurde, erhielt sie den Auftrag, das Odeur eines Schlachtfelds des Ersten Weltkriegs nachzustellen. Das Resultat überzeugte. Bald stellte die Museumsleitung geeignete Gefäße auf – zu viele Besucher mussten sich übergeben.

Sissel Tolaas’ hat eine 15 Jahre alte Tochter – was sagt die zur Tätigkeit ihrer Mutter? „Sie findet es okay. Und sie hat eine außerordentlich liberale Nase.“ 

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