- Irgendwie typisch Deutsch
Ein Besuch im deutschen Wohnzimmer, das die Hamburger Agentur Jung von Matt vor knapp zehn Jahren eingerichtet und seitdem permanent aktualisiert hat
Claudia Müller ist 47 Jahre alt und hat offenbar eine Vorliebe für Pastellfarben. Die Couch in ihrem Wohnzimmer ist safrangelb, der Teppichboden hellblau. Auf dem Glastisch vor dem Sofa liegt eine weiße Blümchendecke mit Spitzenrand. Gegenüber steht der Wandschrank: helle Eiche, halb Biedermeier, halb gemäßigter Barock. Man könnte ihn fast für ein Stück Architektur halten, mit seiner imposanten Schaufassade: Der bauchig gewölbte Unterbau nimmt in zwei kühnen Schwüngen Anlauf für die Postamente der Doppelvitrinen, die rechts und links bis knapp unter die Zimmerdecke emporragen. Dazwischen hat er eine große Aussparung für den Fernseher. In den Regalen reihen sich Rücken an Rücken Bestseller der vergangenen Jahre: Dan Browns „Sakrileg“, Stieg Larssons „Millennium“-Trilogie und „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarrazin.
Seit Claudia Müller mit Freundinnen gerne mal einen Latte Macchiato trinkt, hat sie vier Latte-Macchiato-Gläser im Schrank, auf denen „Latte Macchiato“ steht. Der Formel-1-Ferrari im Maßstab 1:18 und die repräsentative Flasche Champagner gehen dagegen auf das Konto ihres Mannes, Thomas. Er ist auch für die Unterhaltungselektronik zuständig: PC, Flatscreen, DVD-Player, da hat Claudia nicht viel zu melden. Thomas wirft Dinge nur ungern weg: Das erkennt man an den alten Netzsteckern, Ladegeräten und Fernbedienungen, die er in einer der unteren Schrankschubladen aufbewahrt.
Thomas und Claudia Müller sind reine Fiktion
Dass einem das Wohnzimmer von Thomas und Claudia Müller irgendwie typisch deutsch vorkommt, ist kein Zufall: Es ist typisch deutsch. Der absolute Durchschnitt, empirisch ermittelt, analytisch fundiert und präzisiert durch Dutzende von persönlichen Interviews. Thomas und Claudia Müller? Sind die reine Fiktion, erfundene Personen, genauso wie ihr Sohn Jan, 18. Thomas, Claudia und Jan Müller sind Versuchskaninchen in einem Experiment, das in dieser Form in Deutschland einmalig ist. Eine soziologische Versuchsreihe in 3D, erdacht von keinem Forschungsinstitut und keinem Museum, sondern von der Werbeagentur Jung von Matt (JVM) in Hamburg.
Die anonyme Masse, die das Geld bringt, verstehen
JVM gehört zu den Großen der Branche. Als Remy von Matt vor zehn Jahren die Idee entwickelte, das Müller’sche Wohnzimmer in das Fabrikgebäude einzubauen, in dem die Agentur ihren Stammsitz hat, wollte er es anders machen als die Konkurrenz. Seine Mitarbeiter sollten nicht im luftleeren Raum agieren, wenn von „dem Kunden“ die Rede war. Er wollte, dass sie sich besser in denjenigen hineinversetzen, der das Geld bringt: in den Konsumenten. In den Käufer, der durch seine Unwissenheit und Orientierungslosigkeit Werbeagenturen überhaupt erst notwendig macht. In die anonyme Masse, über die so viele Daten und Analysen kursieren, und die doch keiner kennt. In der Fachsprache nennt man es Raumwirkungstheorie: wenn die Umgebung das Denken lenkt. Eine Art Method Acting für Werber.
Thomas Müller, der häufigste Name
Peter John Mahrenholz ist Leiter der Strategischen Planung bei JVM. Er sitzt auf dem safrangelben Sofa und erklärt: „Wir wollten möglichst viel über die Motivation erfahren, warum sich Menschen so verhalten, wie sie sich verhalten.“ Deswegen haben sie das Wohnzimmer der Familie Müller nachgestellt, ausgestattet mit den Gegenständen, die in Deutschland statistisch gesehen am meisten verkauft werden. Mahrenholz: „Wir haben uns an den Durchschnittswerten orientiert. Und wo das nicht ging, haben wir das genommen, das am meisten vorkommt.“ Der geburtenstärkste Jahrgang der Babyboomer-Generation war 1964, der häufigste Jungsname damals Thomas, der häufigste Nachname Müller.
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Also ist Thomas Müller heute 49 Jahre alt, seine Frau Claudia zwei Jahre jünger. Die beiden haben 1,3 Kinder, im konkreten Fall bedeutet das: einen Sohn, den bereits erwähnten Jan. Die Müllers wohnen in der größten Stadt des bevölkerungsreichsten deutschen Bundeslands: in Köln in Nordrhein-Westfalen. Claudia verdient ihr Geld als kaufmännische Angestellte und arbeitet halbtags, Thomas ist Techniker, Vollzeit. Verfügbares Haushaltseinkommen: 2700 Euro netto pro Monat. Jan geht noch aufs Gymnasium und macht bald Abitur. Er kommt hier praktisch nicht vor, obwohl er sich mit seinen Eltern gut versteht (bei Thomas und dessen Vater war das noch anders). Der Grund für Jans Abwesenheit: Das Wohnzimmer ist der Raum, in dem Erwachsene den größten Teil ihrer Freizeit verbringen – und Jan gilt noch nicht als Erwachsener (sein Zimmer, das „Jugendzimmer“, befindet sich in der Stuttgarter Niederlassung der Agentur).
Das Haus, in dem Familie Müller lebt, stammt aus den frühen sechziger Jahren. Um den Eindruck so authentisch wie möglich zu gestalten, haben sie in dem alten Fabrikgebäude, in dem JVM sitzt, extra kleinere Fenster eingebaut. Auch die Decke wurde abgehängt: In einem durchschnittlichen deutschen Wohnzimmer beträgt die Raumhöhe 2,30 Meter. Es ist 24 Quadratmeter groß.
„Die Gestaltung der Wohnung obliegt in Deutschland üblicherweise der Frau des Hauses“, sagt Peter John Mahrenholz, „deshalb hat die meisten Dinge Claudia Müller ausgesucht.“ Dass Claudia hier präsenter ist als ihr Mann, ist ganz offensichtlich. Das Kaffeeservice und das runde Dutzend Porzellankätzchen kommen von ihr. Sie war es, die das New-York-Foto aufgehängt hat, auf dem man Arbeiter eines Hochhauses auf einem Stahlträger frühstücken sieht. Sie hat die Karten für das Musical aufgehoben, in das sie Thomas an ihrem zehnten Hochzeitstag eingeladen hatte. Nicht ausgeschlossen, sagt Peter John Mahrenholz, dass in der Küche eine Espressomaschine ihren Dienst tut: „Filterkaffee ist ziemlich out.“
Die häufigste Familie geht nicht auf den Flohmarkt
Die JVM-Leute haben ganze Arbeit geleistet: Die Illusion, es mit echten Menschen zu tun zu haben, ist perfekt bis ins Detail. Die Küchenrolle neben dem Flatscreen, die Pinwand aus Kork für Notizen – alles durch Umfragen gesichert und mit Statistiken belegt. Ebenso die Summe, die Thomas und Claudia für ihre Wohnzimmereinrichtung ausgegeben haben: rund 8000 Euro. Dabei war jeder Gegenstand, jedes Möbel einmal neu. Die häufigste deutsche Familie geht nicht auf den Flohmarkt, interessiert sich nicht für Antiquitäten, baut keinen Tisch selber.
Der Raum, den man dazu nutzt, um sich anderen mitzuteilen
Auf den ersten Blick wirkt das alles ein bisschen billig, ungebildet und wenig inspiriert. Die Menschen in Deutschland leben im Land der Effizienz, der Kehrwochen und umfassend ausgestatteten, großen Autos. Chic, verfeinerter Stil oder ein ausgeprägter Sinn für Ästhetik zählen hingegen nicht zu ihren vordringlichsten Eigenschaften. Das mag man bedauern, doch Peter John Mahrenholz geht es nicht um Geschmacksfragen. Von Berufs wegen beschäftigt er sich mehr mit dem Verbindenden als mit dem Trennenden. Für ihn ist das Müller’sche Wohnzimmer zugleich Konkretion und Abstraktion. Es bildet ein durchschnittliches Umfeld hyperrealistisch ab, doch er sieht darin auch die universelle Struktur. „Das Wohnzimmer“, sagt Mahrenholz, „war für unsere Zwecke deswegen besonders geeignet, weil es nicht nur am meisten frequentiert wird. Es ist auch der Raum, den man dazu nutzt, um sich anderen mitzuteilen.“
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Hipster, Stilaristokraten und Distinktionsgewinnler werden das nur ungern hören, aber aus Peter John Mahrenholz’ Sicht ist die Differenz zwischen ihnen und den Müllers geringer, als sie es sich je hätten träumen lassen. „Generell lässt sich feststellen“, sagt Mahrenholz, „dass ein Wohnzimmer der emotional am stärksten aufgeladene Ort einer Wohnung ist.“ Hier kommt man als Familie zusammen und empfängt seine Gäste. Hier bewahrt man Sachen auf, die für einen persönlich bedeutsam sind, Fotos der Liebsten, Zeugnisse der eigenen Sammelleidenschaft, Erinnerungen an schöne Ferien und Reisen in fremde Länder. Mahrenholz: „Das sind Gesetzmäßigkeiten, die überall gelten, unabhängig davon, aus welchem sozialen Umfeld man stammt und welchen Beruf man ausübt.“
Nur ein Unterschied der Form
Sicher, es ist ein Unterschied, ob sich die Müllers vor ihrem All-inclusive-Ferienclub ablichten lassen oder ob man zu den Fotos der weitverzweigten Familie noch dasjenige steckt, das die Tochter oder der Sohn kürzlich vom Campus in Harvard geschickt hat. Aber es ist nur ein Unterschied der Form – der Gehalt ähnelt sich bis zur Deckungsgleichheit. Natürlich ist ein Schrank, der seit 200 Jahren in der Familie weitervererbt wird, wertvoller als das banale Möbel der Müllers. Doch es bleibt immer noch ein Schrank, auch wenn in dem einen ein 200-Euro-Service steht und in dem anderen ein handbemaltes von Nymphenburg. Die Funktion ist dieselbe: eine Mischung aus Benutzen, Herzeigen und Wegschließen.
Es fällt vielleicht nicht jedem leicht, dies zu akzeptieren, aber die Bandbreite der menschlichen Rituale ist nicht so groß, als dass es dabei nicht zu Überschneidungen käme. Betrachtet man die Wohnung als Theater und das Wohnzimmer als Bühne, dann mögen Eingang und Foyer, Zuschauerraum und Bühnenbild unterschiedlich sein. Das Stück aber, das dort gegeben wird, ist immer dasselbe.
Claudia wird gerade ihre Kritiker überraschen
Auch was die Form betrifft, gebietet sich Vorsicht vor voreiligen Schlussfolgerungen. Denn Claudia Müller ist mal wieder kurz davor, die ganze Einrichtung einem Revirement zu unterziehen – wobei es sicher einige Überraschungen geben wird, gerade für ihre Kritiker. Verschwinden wird der dominante, überdimensionierte PC. Stattdessen kommt ein Laptop ins Haus, schon im nächsten Jahr der in Deutschland am häufigsten verkaufte Computer, was dann auch den Schreibtisch, auf dem der PC jetzt noch steht, überflüssig macht. Ausgewechselt wird auch die spießige Schrankwand. In der Vergangenheit war sie deshalb nötig, weil darin der alte Fernseher Platz finden musste. Nachdem Thomas Müller vor zwei Jahren in einen Flatscreen investierte, brauchen sie das massive Möbel nicht mehr. Bald wird es ersetzt durch Regale und ein Sideboard, das man bis vor kurzem nur in angesagten Design-Galerien in Berlin-Mitte stehen sah.
Künftig offener, modularer, aus unserem Blickwinkel eleganter
„In Müllers Wohnzimmer“, sagt Mahrenholz, „wird es künftig offener, modularer, aus unserem Blickwinkel vielleicht auch eleganter zugehen.“
Das zeigt: Der Durchschnitt ist ein schillerndes Gebilde. Dazugehören möchten die wenigsten, doch birgt der Wunsch, sich davon abzugrenzen, eine Gefahr: Er ist so verbreitet, dass er eigentlich recht durchschnittlich ist.
Mahrenholz jedenfalls, Sohn des Politikers und Verfassungsrichters Ernst Gottfried Mahrenholz, hat im Wohnzimmer von Thomas und Claudia Müller aus Köln „Demut gelernt“. Er weiß: „Mit der eigenen Individualität ist es nicht so weit her, wie man das selber gerne hätte.“
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