- Wenn der Wahlkampf schon jetzt nur noch nervt
Unser Genusskolumnist hat überhaupt keine Lust auf das beginnende Wahlkampfgetöse. Und macht sich Gedanken, wie er diese nervige Phase einigermaßen unbeschadet übersteht.
Das Bullshit-Bingo um den Termin für die vorgezogenen Neuwahlen ist beendet. Am 23. Februar – rund 7 Monate vor dem turnusgemäßen Termin – dürfen die Wahlberechtigten an die Urne schreiten. In den Parteizentralen werden die Phrasendreschmaschinen angeworfen, wobei die Wahlbürger wohl mehrheitlich wissen, dass die dann präsentierten Programme nicht das Papier wert sind, auf dem sie gedruckt sind. Am Mittwoch gab es im Bundestag schon mal großes Dampfplauder-Kino der führenden Protagonisten. Politische Gestaltung seitens einer Regierung wird es in den nächsten 4-5 Monaten nicht geben, was angesichts der allgemeinen Lage eigentlich unfassbar ist.
Die Medien werden ebenfalls bald auf Wahlkampfmodus schalten, aber ob sich so etwas wie echte Spannung produzieren lässt, ist fraglich. Der nächste Kanzler wird Friedrich Merz heißen und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit der SPD koalieren. Spannend wird allenfalls, wer in der nächsten parlamentarischen Repräsentationsrunde überhaupt noch mitspielen darf. Mit Sicherheit CDU, CSU, SPD, Grüne und AfD, mit großer Wahrscheinlichkeit das BSW. Eine Zitterpartie könnte es für die FDP werden, und die LINKE hat kaum realistische Chancen erneut in den Bundestag einzuziehen.
Komplett entziehen kann man sich nicht
Viele freuen sich, dass die seit langer Zeit defekte und zuletzt nur noch schrottreife Ampel auf dem Müllhaufen der Geschichte verschwindet. Viele haben das Gefühl, dass unser Land derartig im Eimer ist, dass es eigentlich kaum noch schlimmer kommen kann. Was abzuwarten bleibt, denn der künftige US-Präsident Donald Trump, der am 20.Januar sein Amt antritt, wird nicht nur Deutschland und seiner Regierung ein paar knifflige Denksportaufgaben präsentieren.
Eine ruhige oder friedvolle Advents- und Weihnachtszeit steht uns jedenfalls nicht bevor. Es wird laut werden und teilweise auch ziemlich hässlich. Ganz zu schweigen von zwei bedrückenden Kriegen, die auch massiv in unsere Gesellschaft hineinwirken. Und es wird nervig. Briefkästen werden bald nicht nur mit Werbung für „Weihnachtsangebote“ geflutet werden, sondern auch mit Propaganda-Flyern der Parteien. Und irgendwann wird man dann auch genau die Gesichter, die man eigentlich nicht mehr sehen will, an jeder Laterne hängen sehen.
Man wird sich alldem nicht komplett entziehen können, und das wäre auch falsch. Denn es geht nicht um die Zukunft der Herren Merz, Scholz, Habeck, Lindner und Kiesewetter, sowie der Damen Strack-Zimmermann, Baerbock, von der Leyen und Wagenknecht, sondern um unsere Gegenwart und Zukunft. Das gilt auch für die Herren Trump, Putin, Selenskyj und Netanjahu.
Mal einfach an sich selbst denken
Es geht um höchst individuelle Selbstbestimmung und -verortung. Wer bin ich, was kann ich und was will ich tun, für mich und für die Gesellschaft? Wie kann ich mir in diesen chaotischen Zeiten ein bisschen Würde und vor allem ein bisschen Lebensfreude erhalten? Vielleicht sollte man seinen Medienkonsum etwas einschränken bzw. selektiver gestalten. Denn der Journalismus ist in weiten Teilen hochgradig verkommen und hat einstmals anerkannte Grundsätze, wie die Trennung zwischen Bericht und Kommentar, längst über Bord geworfen. Vielleicht sollte man auch seine eigenen Kommunikationsformen mal kritisch hinterfragen. Es ist gut, möglichst viele Gespräche zu führen und sich mit seinen Mitmenschen auszutauschen, dabei aber auch zuzuhören. Denn wer glaubt, alles zu wissen bzw. besser zu wissen, weiß eigentlich gar nichts.
Vielleicht sollte man sich auch einfach mal bemühen, die vielschichtige Atmosphäre in unserem merkwürdig zerrütteten Land wahrzunehmen. Und sich an Kleinigkeiten erfreuen, die einem begegnen können, wenn man sich dafür öffnet. Wie etwa einen kleinen Martinsumzug, wie er neulich durch meine Straße zog. Oder an den Klängen einer Chorprobe, wie sie derzeit an vielen Abenden aus vielen Kirchen zu hören sind. Oder einer Buchempfehlung von Freunden und Bekannten folgen, auch wenn einem der Autor bislang unbekannt war.
Mentales Überlebenstraining
Auch bewusstes Musikhören kann ein Mittel sein, um angesichts der vorherrschenden Enge und Beschränktheit und dem verbreiteten Gefühl der Wut und Ohnmacht mal ein paar Fenster für frische Luft in der Seele zu öffnen. Am besten Werke, von denen man weiß, und bei denen man schon mal empfunden hat, dass sie eine schwer zu fassende universelle Botschaft enthalten und eine große emotionale Kraft verströmen. Das kann alles Mögliche sein: Die h-Moll-Messe von Johann Sebastian Bach, das Requiem von Wolfgang Amadeus Mozart Requiem, aber auch das spirituelle Masterpeace von John Coltrane (A love supreme) oder Stücke von Rage Against the Machine.
Und natürlich können auch gutes Essen – am besten selbst gekocht – und ein guter, gerne mal besonderer Wein Momente der Besinnung und Freude sein. Und das alles nicht als Rückzug oder Flucht vor den bedrückenden Zuständen und dem bevorstehenden Wahlzirkus, sondern – wie oben formuliert – als Elemente einer angemessenen Selbstfindung und Selbstverortung. Man könnte es auch mentales Überlebenstraining nennen. Ich werde das jedenfalls versuchen, und wenn ich dann merken sollte, dass mir der Wahlkampf nur noch ein entspanntes, amüsiertes Grinsen abringt, dann weiß ich, dass ich da irgendwas richtig gemacht habe. Und dann gehe ich ganz entspannt wählen.
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