Das Journal - Solang das Deutsche Reich besteht

Der Historiker Gregor Schöllgen knüpft einen außenpolitischen Faden von Bismarck bis Schröder

Bücher über Außenpolitik sind noch prob­lematischer als Bücher von Außenministern. Diese berichten zwar aus erster Hand, dürfen jedoch nur annähernd sagen, was sie wissen. Bücher, die ausschließlich von Außen­politik handeln, unterwerfen sich einer Selbst­beschränkung, die schnell einer Realitätsverweigerung gleichkommt. Auch der Erlanger Historiker Gregor Schöllgen entgeht dieser Gefahr nicht, denn er möchte die Geschichte von Bismarck bis zu Gerhard Schrö­der als Geschichte der jeweiligen Au­ßenpolitik darstellen.

Das geht gründlich schief, denn die Außenpolitik ist im komplexen Geflecht der Politikfelder mit Sicherheit die abhängigs­te Variable. Schöllgen bezeichnet seine Geschichte als «aus den Quellen gehoben», aber zu diesen zählen einzig die Aktenpub­likationen des Auswärtigen Amtes, die Memoiren von Außenpolitikern und ein paar Standardwerke der Sekundärliteratur. Vor dieser Reduktion hätte ihn ein Satz des Au­ßenpolitikers Willy Brandt bewahren können: «Ich hatte gelernt, dass die aufmerksame Lektüre einiger ausländischer Zeitungen, zusätzlich zu solchen des eigenen Landes, mehr bringt als das meiste, was amtlicherseits als ‹geheim› gestempelt wird.»

Schon der Untertitel des Buches – «Die Deutschen in der Weltpolitik von Bismarck bis heute» – ist zweideutig. Geht es um Deutsche als Objekte von Weltpolitik oder um Deutsche, die Weltpolitik gemacht haben? Nach wenigen Seiten erweist sich, dass Schöllgen sich mit den wenigen Deutschen beschäftigt, die in den letzten 130 Jahren Außenpolitik gestaltet haben. Diese werden artig mit ihren biografischen Rohdaten vorgestellt, aber wenn Schöllgen ihr Handeln beschreibt, dann treten Bismarck, Stresemann, Hitler oder Schröder Mal für Mal als «die Deutschen» auf, die «den» Franzosen oder «den» Russen entgegentreten, so als ob ganze Völker außenpolitische Kalküle mitbestimmten oder auch nur kennten. Das ist Geschichtsschreibung im Stil des 19. Jahrhunderts.

Schöllgen referiert übersichtlich und in flüssiger Sprache die wichtigsten Wendepunkte: von Bismarcks abruptem Übergang zur imperialistischen Kolonialpolitik 1884 über die forcierte Aufrüstung nach 1890, die beiden Weltkriege, die Westorientierung Ade­nauers, die Ostpolitik Brandts, die Wiedervereinigung Kohls bis zur rot-grünen Au­ßenpolitik. Wirtschaftliche Interessen oder innenpolitische Zwänge, die die Außenpolitik jeweils mitbestimmt haben, klammert Schöllgen aus und vertraut weitgehend auf die ebenso beschränkte wie hochspekulative Erklärungskraft völkerpsychologischer Triebfedern wie «Übermut», «Größenwahn», «Neid» und «Hass».


Geradewegs in den Untergang

Da Schöllgen Außenpolitik als quasi autonomes Handeln, jenseits von wirtschaftlichen, politischen, juristischen und militärischen Voraussetzungen beschreibt, bleibt ihm zur Strukturierung des immensen Stoffes nur die Chronologie, die sich unter der Hand in eine Kausalkette verwandelt. Tatsächliche und vermeintliche Kontinuitäten haben es ihm besonders angetan. So zieht er eine durchgehende Linie von den Schlesischen Kriegen Friedrichs des Großen über Bismarcks Einigungskriege bis zu Hitlers Kriegen, um daraus den «wohl zwangsläu­figen Untergang» des Reiches abzuleiten. Was auch passiert, alles bekommt bei Schöllgen den Charakter des Unausweichlichen.

Die offensichtliche Hybris der wilhelminischen Welt- und Flottenpolitik nach Bismarcks Sturz, die besonders die englische Führung irritierte, verharmlost Schöllgen mit dem Hinweis: «Wenn es einen Fehler gab, dann war er 1871, vielleicht auch erst 1884 gemacht worden. Was folgte, war unausweichlich, soweit es um den Weg in die Welt ging.» Aus deutscher Sicht «zwingend» erscheinen Schöllgen die unsinnigsten kolonialen Abenteuer in Afrika und China. Selbst den Ersten Weltkrieg, den die politische und militärische Führung maßgeblich, wenn auch nicht allein zu verantworten hat, sieht Schöllgen als «späte Konsequenz aus der Reichsgründung» – als ob diese zwangsläufig auf eine Hegemonie des Reiches in Europa ausgerichtet gewesen wäre.

Zwar betont er schon im Vorwort, die deutsche Geschichte sei «keine Einbahnstraße in die Katastrophe», aber der Gestus des Buches widerspricht dieser Einsicht. Auf Schritt und Tritt begegnet man historistischen Argumentationsmustern, mit denen das Spätere als quasi logischer «Endpunkt» eines ziemlich beliebig herzitierten Früheren dargestellt wird.

Mitunter mischen sich apologetische Untertöne in Schöllgens sonst um Sachlichkeit bemühte Darstellung. So verteidigt er die offen imperialistische Antrittsvorlesung Max Webers von 1895 oder spricht vom Präventivkrieg, mit dem Hitler Stalin angeblich zuvorgekommen sei – was der renommierte Militärhistoriker Gerhard Schreiber nach gegenwärtigem Forschungsstand als «blanken Unsinn» bezeichnet. Und das brutale deutsche Friedensdiktat von Brest-Litowsk, das Russland mehr zumutete, als Deutschland im Frieden von Versailles abverlangt wurde, nennt Schöllgen beschönigend «Friedensverhandlungen».

 

Gregor Schöllgen
Jenseits von Hitler. Die Deutschen in der Weltpolitik von Bismarck bis heute
Propyläen, Berlin 2005. 400 S., 24,90 €

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