Das Journal - Eine Blutspur in den Akten

Bernd Greiner beschreibt das wahre Ausmaß des amerikanischen Krieges in Vietnam

Aus Büchern über historische Ereignisse, die man selbst als Zeitung lesender Zeitgenosse verfolgt hat, erwartet man oft wenig Neues. Wer aber glaubt, über den Vietnamkrieg Bescheid zu wissen, sollte zu Bernd Greiners monumentaler Studie «Krieg ohne Fronten» greifen. Er wird auf jeder Seite eines Besseren belehrt. Es war zwar alles ungefähr so, wie man es erinnert, aber Greiner demonstriert, dass es tatsächlich viel schlimmer war.

Seit 1994 sind die Akten der «Vietnam War Crimes Working Group» im Nationalarchiv in College Park, Maryland, freigegeben. Aber noch kein Historiker hat sie auch nur annähernd so intensiv ausgewertet wie Greiner. Der Hamburger Historiker zeichnet erstmals ein umfassendes Bild «des Kriegsalltags in Vietnam sowie des politischen und juristischen Umgangs mit Kriegsverbrechen». Und diese waren alltäglich.

In vier Kapiteln werden zunächst die politischen Weichenstellungen der Kriegsherren beschrieben, dann die militärischen Optionen der Generäle, die Mentalität und die Entscheidungen der unerfahrenen Front­offiziere und schließlich die aktiv kämpfende Truppe, die nur rund zehn Prozent aller Soldaten ausmachte. Im zweiten Teil des Buches analysiert der Autor die Kriegführung in den nördlichen Provinzen, Massaker wie das von «My Lai (4)» und schließlich den Krieg im Süden.


Der Zahnpasta-Verbrauch ist bekannt

Die Kriegslügen beginnen schon bei der sozialen Herkunft, Ausbildung und Mentalität der Vietnam-Armee. Es waren keine «citizen soldiers» oder «Bürger in Uniform», sondern mehrheitlich die jüngsten, ärmsten und am wenigsten gebildeten jungen Amerikaner, die an der Front kämpften. Die nach wie vor herrschende Informationspolitik besagt dagegen, dass man zwar den Zahnpastaverbrauch während des Krieges genau kenne, aber über die genaue soziale und ethnische Herkunft der Interventionstruppe nur grob Bescheid wisse.

Greiner hat die Akten zu einem Puzzle des Kriegsalltags zusammengesetzt. Schon einige Zahlen sprechen für sich: Die «Special Forces» rühmten sich ihrer Abschussquote, die 22-mal höher lag als die Verluste in den eigenen Reihen. Nur mit Mühe und oft gar nicht war diese Soldateska vom «wahl­losen Morden» abzuhalten, so Greiner. Niemand bekam mehr Orden als diese Mörderbanden. Derlei geschah jedoch nicht spontan, sondern war die Antwort der Truppe auf die von oben erwünschte «Kill Ratio», wonach ein toter Amerikaner mit 100 bis 150 toten Vietnamesen aufgewogen werden sollte. Als Belohnung winkten Son­der­ur­laube in den Bordellen Thailands. Die Dichte und Qualität der Belege, die Greiner beibringt, sind niederschmetternd.

Ein Kapitel für sich bildet der Umgang mit dem Kriegsrecht. Formal gab es, vereinbar mit dem Recht, «Rules of Engagement». Diese waren aber so elastisch formuliert, dass viel Spielraum blieb. Vor allem wurden eklatante Verstöße gegen das Kriegs­recht oft auf die lange Bank geschoben: nicht untersucht oder mit lächerlichen Sanktionen belegt. Zeitweise wurden die «Rules» förmlich außer Kraft gesetzt.


Grüne, rote, rosa Menschen

Die Relativierung des Kriegsrechts setzte bei dessen Fundament an: der Unterscheidung von militärischen Kombattanten und Zivi­lis­ten. 90 Prozent des Artilleriebeschusses hatten mit Kampfhandlungen am Boden nichts zu tun, sondern galten Dörfern und der Infrastruktur des Landes. Von der Relativierung bis zur Ablehnung des Kriegsrechts war es wiederum nur ein Schritt. Ein Oberst, Befehlshaber einer Eliteeinheit, beantwortete die Frage nach dem Kriegsrecht eindeutig: «Das ist Unfug. (…) Und mit der Realität auf dem Schlachtfeld hat es sowieso nichts zu tun.»

Der Oberkommandierende der US-Streitkräfte zwischen 1964 und 1968, General William C. Westmoreland, bastelte sich sein eigenes Kriegsrecht: «Die Leute in den Umsiedlungslagern, die sind grün. (…) Diese lassen wir in Ruhe. Der Vietcong und die Nordvietnamesische Volksarmee sind rot, Freiwild für uns. Aber wenn dort draußen Leute sind – außerhalb der Lager –, dann sind die für uns rosa. Das sind kommunistische Sympathisanten.» Unten, bei den Kom­paniechefs, kam die Theorie rustikal an: «Tötet alles, was sich bewegt!» Dass der Vietcong gegen Südvietnamesen ebenfalls mit Terror vorging, belegt nur, dass die Rede vom «asymmetrischen Krieg» fragwürdig ist. Beide Seiten bedienten sich, wie Greiner schreibt, «letztlich symmetrischer Mittel» – wenn man von der amerikanischen Luftüberlegenheit absieht.

Monate vor und nach den weltweit bekannt gewordenen Massakern in «My Lai (4)» und «My Khe (4)» am 16. März 1968 kam es zu vergleichbaren Aktionen – etwa als amerikanische Einheiten der «Operation Wheeler» 1967 durch Quang Tin und das Song Ve-Tal zogen: «Sie erschossen ohne jeden Anlass Bauern im Feld und ermordeten Menschen, die ihnen zufällig über den Weg liefen, folterten Gefangene und führten sie einzeln oder in Gruppen zur Exekution.» Allein für diese Operation ist mit mehreren hundert und bis zu über tausend Ermordeten zu rechnen. Bernd Greiner rekonstruiert aus Akten eine Blutspur. Sein «Krieg ohne Fronten» ist ein Meisterwerk, das möglichst bald in einer Studien- oder Taschenbuchausgabe zugänglich gemacht werden sollte. 

 

Bernd Greiner
Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam
Hamburger Edition, Hamburg 2007. 595 S., 35 €

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