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Boston-Attentäter - Die Brüder Zarnajew: Je mehr Opfer, desto besser

Die Brüder Zarnajew wollten mit ihrem Bomben-Attentat auf den Marathon in Bosten „den Islam verteidigen“. Sind sie der Prototyp des Attentäters?

Autoreninfo

Wolfgang Sofsky war bis 2000 Professor für Soziologie. Seitdem arbeitet er als Privatgelehrter. Er beschäftigt sich mit Phänomenen der Gewalt.

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[[{"fid":"54858","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":814,"width":596,"style":"width: 120px; height: 164px; margin: 5px; float: left;","class":"media-element file-full"}}]]Dieser Text erschien zunächst in der Printausgabe des Cicero (Juni). Wenn Sie das monatlich erscheinende Magazin für politische Kultur kennenlernen wollen, können Sie hier ein Probeabo bestellen.

 

 

Am Abend des 12. Februar 1894 warf Émile Henry im Café Terminus am Gare Saint-Lazare einen Blechtopf voller Sprengstoff in die Luft. Von den Angestellten, Arbeitern und kleinen Ladenbesitzern, die gerade ihr Bier tranken, wurden 20 verletzt, eine Frau tödlich. Als man ihm vorwarf, unschuldige Menschen verletzt zu haben, rief der selbst ernannte Anarchist aus: „Il n’y a pas d’innocents!“ – es gibt keine Unschuldigen.

An drei Wochenenden im April 1999 zündete David Copeland in London drei Sprengsätze, die er in Sporttaschen versteckt hatte. Die Tatorte waren Treffpunkte von Einwanderern und Homosexuellen. Drei Menschen starben, 129 wurden verwundet. Der „Nagelbomber“ hatte seine Pläne mit niemandem abgesprochen. Neben politischen Gründen gab er an: „Wenn sich niemand daran erinnert, wer du warst, hast du niemals existiert.“

Den Brüdern Zarnajew, die in Boston jüngst drei Menschen töteten und 264 verletzten, sagt man nach, sie hätten den Islam verteidigen wollen. Tamerlan, dem älteren, hatte seine Mutter vor Jahren empfohlen, sich in Palästina am globalen Dschihad zu beteiligen. Bei der Zielauswahl zeigten sich die Brüder flexibel. Da die Bomben vorzeitig fertig waren, zogen sie den Explosionstermin vor. Die Eingebung, weitere Sprengsätze am New Yorker Times Square zu zünden, ereilte sie während der Flucht.

Der terroristische Einzeltäter ist keine Erfindung des offenen Netzwerks Al Qaida. Die ideologischen Versatzstücke sind ebenso austauschbar wie die Motive. Der „einsame Wolf“, wie er im Jargon der Geheimdienste heißt, kann Blutbäder im Namen der Gerechtigkeit anrichten, unter der Fahne „rassischer Reinheit“ oder des globalen Kalifats. Doch bedürfen große Verbrechen weder großer Ideen noch extremer Wutanfälle. Massaker sind auch keine Massenkommunikation. Wer sie als Botschaft missversteht, tappt geradewegs in die Propagandafalle der Bedeutung, die der Täter dem Publikum aufgestellt hat.

Die Tat soll Angst, Entsetzen, kopflose Panik hervorrufen. Im Gegensatz zum politischen Mörder hat es der Terrorsolist weniger auf einen Tyrannen noch einen Polizeioffizier oder eine Kaiserin abgesehen als vielmehr auf die Menschheit schlechthin. Je mehr Opfer, desto besser. Je lauter der Widerhall, desto leuchtender das Fanal. Häufig wählt er belebte Plätze, an denen es die Opfer wahllos trifft.

Der Solist handelt auf eigene Faust. Er gehört keiner Gruppe, keiner Zelle, Sekte oder Miliz an. Sogar ferne Gesinnungsfreunde sind überrascht von seiner Existenz. Er erhält keine Anweisung und keinen Befehl. Der Treibsatz liegt im Täter selbst. Niemand hat ihn überredet oder verführt. Entweder hat er sich die Phrasen, mit denen er sein Tun rechtfertigt, selbstständig zusammengesucht oder sich von Parolen bereitwillig überzeugen lassen. Nicht wenige haben eine Lieblingslektüre. Verstreute Islamisten erbauen sich im Netz an den Fernpredigten radikaler Vorbeter; Copeland oder Timothy McVeigh, der „Oklahoma-Bomber“, ließen sich von den „Turner Diaries“ inspirieren, einer Novelle des Neonazis William Pierce.

Dennoch montiert der Einzeltäter sein Hassbild aus eigenen Stücken. Er lebt in einer abgeschirmten Gedankenwelt. Intellektuell ist er ein Eigenbrötler oder Autodidakt. Konvertiten, welche die Frömmigkeit rasch nachholen wollen, meinen es mit sich und der Welt oft besonders streng. Keineswegs kopiert der Einzelgänger blind die Stereotype, die in einer Gruppe sozial verbindlich sind. Sein Denkraum liegt nicht in einem Chatroom, sondern in seiner Einbildungskraft. In der Imagination lässt sich ungestraft alles vorstellen und planen. Die Fantasie befreit von Bedenken und Wankelmut.

Da er für sich ist, kann der Terrorsolist seine eigene Gewalttechnik erfinden. Mancher baut lediglich bewährte Vorlagen aus Handbüchern oder Zeitschriften nach. Doch weil niemand seine Kreativität einschränkt, ist er in der Wahl der Ziele und Mittel frei. Mehrere Innovationen gehen auf sein Konto. Einzeltäter sind verantwortlich für die erste Autobombe, die erste Flugzeugentführung, die erste Vergiftung von Nahrungsmitteln, den ersten Anthrax-Brief und – wie im Falle des Norwegers Anders Breivik – den ersten Anschlag, der Explosion und Amoksturm kombinierte.

Während der Vorbereitung ist der Solist wenig mitteilsam. Nur Verschwiegenheit schützt ihn zuverlässig. Einige rechnen sich einer Protestbewegung oder welthistorischen Mission zu. Doch dies sind nur Fantasiegebilde. Vereinzelte Bemerkungen werden kaum als Vorzeichen wahrgenommen. Auf die Weltbühne tritt er erst mit der Tat. Das Blut der Opfer beglaubigt seine Existenz. Nun explodiert sein Geheimnis, und er wird seltsam gesprächig. Breivik versandte stolz ein obskures Machwerk von über 1500 Seiten kurz vor dem Osloer Anschlag. Theodore Kaczynski, der „Una­bomber“, der zwischen 1978 und 1995 mit 16 Briefbomben drei Menschen tötete und 23 verletzte, ließ in der New York Times ein Manifest von 35 000 Wörtern gegen die industrielle Zivilisation veröffentlichen. Sein Bruder erkannte den Schreibstil und verriet ihn an das FBI. Émile Henry verfasste für den Gefängnisdirektor einen Essay über den Anarchismus. Auf der Anklagebank trug er seine Konfession so überzeugend vor, dass nicht wenige Sympathisanten ihn klammheimlich bewunderten. Von Dschochar Zarnajew, der die Verfolgungsjagd überlebte, dürften keine großen Reden zu erwarten sein. Er hat weiter nichts zu sagen.

 

 

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