- Die neuen Machtmaschinen
Was das Internet über einen weiß: Suchmaschinen und soziale Netzwerke der Internet-Multis speichern das Profil jedes einzelnen Nutzers. Das Ergebnis: der gläserne Mensch, eine Gefahr für die Demokratie. Ein Kommentar.
Die Volkszähler sind wieder unterwegs. Doch anders als vor fast drei Jahrzehnten hält sich der Widerstand der Bürger gegen die staatliche Erfassung ihrer Lebensumstände, Religion inklusive, in Grenzen. Verflogen ist das freiheitliche Pathos jenes Verfassungsgerichts, das 1983 nach Beschwerden zweier Hamburger Rechtsanwältinnen urteilte: „Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wäre eine Gesellschaftsform nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß.“ Der damalige Zensus fiel aus.
Und heute? Der Facebook-Generation scheinen Diskretion und Privatheit unbekannt zu sein, und ihre Eltern ahnen, dass der Staat schon längst viel mehr über sie weiß, als er in Wirklichkeit benötigt. Was er sonst noch braucht, kann er googeln.
„Sie haben keine Privatsphäre mehr. Finden Sie sich damit ab!“, wusste Scott McNealy, der damalige Chef von Sun Microsystems, schon vor zwölf Jahren. Das gilt inzwischen in Deutschland genauso wie anderswo. Die elektronisch vernetzten Bürger der Bundesrepublik leben in einem geheimnislosen Land. Die kapitalstarken Netzmultis sind die wahren Wissenden der Moderne. Und sie wissen viel zu viel. „Apple“ und „Google“ sind die teuersten Firmenmarken der Welt. Ihre Such- sind gigantische Machtmaschinen.
Was wir auf Laptops schreiben, was wir über Mobiltelefone, iPads und Smartphones empfangen, versenden oder bewahren – alles ist irgendwo gespeichert. Die amerikanische Warenhauskette „Walmart“ hat kürzlich den Software-Entwickler „Kosmix“ gekauft, der sich darauf spezialisiert hat, die endlosen Datenmeere des Internets zu durchpflügen, um persönliche Vorlieben der „User“ zu eruieren: Dass diese Kenntnisse lediglich dazu dienen, statt blauen mehr gelbe Gießkannen anzubieten, ist nicht anzunehmen.
Mitten in der Entwicklung stehen Computerprogramme, die normale Twitter-Texte (in fast jeder Sprache) sortieren, um Verhaltensweisen der Absender oder der Adressaten zur Nutzung durch Fremde zu offenbaren: Wer sich zum Beispiel über sein Smartphone mehrfach verabredet und immer wieder zu spät kommt, kann von den neuen Software-Anbietern einem möglichen Kreditgeber des „Users“ als „unzuverlässig“ oder einem potenziellen Arbeitgeber als „prinzipiell unpünktlich“ gemeldet werden – gegen eine Gebühr, versteht sich.
Naiv scheint die deutsche Debatte über die sogenannte „Vorratsdatenspeicherung“ zu sein, die einen polizeilichen Zugriff auf verdächtige Kommunikationsinhalte ermöglichen soll. In Wirklichkeit entwerfen die kommerziellen Herrscher des Internets seit Jahren komplexe Algorithmen, die alle Individualität von ganz normalen Netzbenutzern mit ihren Computeranlagen in einen rechtsfreien Raum befördern, der zahlungskräftigen Produktanbietern offensteht. Sie können ihre Waren spezifischen Zielgruppen mit einer Genauigkeit anbieten, die dem Persönlichkeitsprofil des prospektiven Kunden bis auf das i?Tüpfelchen entspricht. Das Eingangsschild in jenen Raum lautet „Big Data“. Hier ist fast alles versammelt, was in der mobil-digitalen Welt versendet wurde. Der binäre Kapitalismus wird total. Nicht mehr die Ware steht im Schaufenster, sondern der Mensch als Käufer und Verkaufter. Dass diese Programme auch totalstaatlichen Systemen dienen können, ist unvermeidlich.
Der vorübergehenden Aufregung von iPhone- und iPad-Nutzern, deren tägliche Bewegungen durch Stadt und Land über GPS-Funk in Apple-Speichern notiert wurden, entsprach die Empörung von vielen Millionen Sony-Kunden, die ihre Kinder mit Spielkonsolen ausgestattet hatten – und erfahren mussten, dass ihre Daten, Kreditkartennummern inklusive, von Hackern gestohlen wurden. Dass „Facebook“ bis vor Kurzem sperrangelweit offen für kommerzielle Datenpiraten stand, konnte nicht mehr überraschen. Doch das sind nur Symptome einer universalen Digitalisierung unserer Lebenswelt, die erst am Anfang steht. Der Datenklau der Zukunft hat ganz andere kulturelle und politische Dimensionen – und er gilt immer noch nicht als Eigentumsdelikt. Die Rechtsprechung der zivilisierten Welt verhält sich zur digitalen Zukunft wie einst die Buschtrommel zum Telefon.
Als Mitte des vorigen Jahrhunderts die Kundenberater der Dresdner Bank davor gewarnt wurden, Männern mit gestreiften Hemden und weißen Hemdkragen (eine englische Modetorheit) Kleinkredite zu gewähren, war derlei hausinterne Vorwarnung nur lächerlich. In Zukunft helfen Algorithmen weiter. Die Kombination von demografischen Daten mit der Aufnahme von Hausbauhypotheken und der Zahlungsmoral sozialer Gruppen mag vor der nächsten Bankenkrise globalen Ausmaßes schützen – dass dabei gleichzeitig die Entscheidungsmöglichkeiten der Betroffenen massiv eingeschränkt werden, ohne dass sie es wissen, ist absehbar und wirft neue Rechtsfragen auf.
„Unzulässig ist es“, so urteilte das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1969, „einen Menschen zwangsweise in seiner ganzen Persönlichkeit zu registrieren und zu katalogisieren.“ Genau das geschieht im Cyberspace unserer Tage. Die Parteien des Bundestags, die seit geraumer Zeit wie Blinde nach politischen Themen suchen, die das ganze Volk betreffen, haben ihre Wähler einer Industrie ausgeliefert, deren Kontrolle der Politik entglitten ist.
Der Siegeszug des profitgetriebenen Internets hat die Autonomie, also die Freiheit seiner Nutzer – und das ist die Mehrheit in fast allen Staaten – unterhöhlt. In ein paar Jahrzehnten werden wir uns ohnmächtig fragen, was das einmal war: Das Recht, Geheimnisse der eigenen Person zu bewahren, selbst zu entscheiden und den Staat und die Warenwirtschaft fernzuhalten aus einem freien Leben in Selbstbestimmung.
Die Antworten liegen dann womöglich in Geschichtsbüchern begraben, im elektronischen Antiquariat gelagert unter dem Suchbegriff „Freiheit oder was wir verloren haben“.
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