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„Politik zum Schieflachen"
Nationale Egoismen, das Geltungsbedürfnis aller Politiker und ihre Eitelkeiten erschweren den Weg aus der europäischen Krise. Der Alt-Bundeskanzler fühlt sich von der schwarz-gelben Koalition nicht zweckmäßig regiert.
Zwischen der Bevölkerung und der politischen Klasse hat sich offenkundig ein Abgrund geöffnet, wenn man den Demoskopen glauben darf, und niemand scheint derzeit in der Lage zu sein, diesen Graben zwischen Wählern und Gewählten zu überbrücken.
Ob das offenkundig ist, das weiß ich nicht. Für Sie ist das offenkundig. Für mich ist es offenkundig. Ob es auch für das Volk offenkundig ist? Das glaube ich nicht. Noch nicht.
Steckt in diesem Vertrauensverlust die Gefahr einer Staatskrise?
Wir haben keine Staatskrise, sondern eine von den vielen kleineren Krisen, die hin und wieder vorkommen. Was wirklich schlimm ist, das ist der Berliner Hang zur wilhelminischen Großspurigkeit. Die Art und Weise, wie unsere Regierung mit den Franzosen in den vergangenen Monaten umgegangen ist – und wie umgekehrt die Franzosen mit Merkel umgehen –, ist auf beiden Seiten töricht. Aber eine Staatskrise ist das nicht, das würde ich so nicht nennen.
Und Horst Köhlers hastiger Rücktritt – auch keine Staatskrise?
Ich würde das nicht dramatisieren. Es ist ja ganz unklar, welche Verletzungen und dramatischen Ereignisse dem Präsidenten so an die Nieren gegangen sind. Dass er sich von heut auf morgen zum Rücktritt entschließt, lässt vermuten, dass da noch mehr gewesen sein muss. Er ist ein sehr sensibler Mensch.
Sie kennen ihn?
Ja, er ist ein sehr sensibler Mensch, und er muss auch sehr unglücklich gewesen sein mit seinem Stab, da bin ich ganz sicher.
Nachdem nun Köhlers Nachfolge geregelt ist – würden Sie Frau Merkel raten, auch gleich ihr Kabinett umzubilden?
Ja, wenn es genügend kompetente Leute gäbe. Aber ein Regierungschef kann bestenfalls beurteilen, ob jemand ein guter Redner ist, im Plenum des Parlaments. Ob er oder sie in der Lage ist, einem riesenhaften Ministerium vorzustehen und die Machtkämpfe unter den Beamten oder den Generalen erstens zu durchschauen und zweitens zu beenden und einzugreifen, ob er überhaupt administrieren kann – das weiß man vorher gar nicht.
Im Kabinett Angela Merkel sitzen ja nun einige alte Fahrensleute.
Wolfgang Schäuble, ja. Aber andere? Ich denke an diesen Außenminister. Minister zu sein, verlangt ja nicht bloß, dass man reden kann und hoffentlich überzeugend reden kann, sondern man muss außerdem auch noch verwalten können. Und außerdem, drittens, soll man Charakter haben und einen gewissen moralischen Standard. Das ist eine ganze Menge, das weiß ein Kanzler oder eine Kanzlerin alles vorher nicht.
Soll diese Regierung in ihrer derzeitigen Verfassung weitermachen? Oder wäre eine große Koalition besser? Die Deutschen haben sich an die Vorstellung gewöhnt, dass die Politik aus zwei Lagern besteht. Eine große Koalition widerspricht dieser Vorstellung. Die Wähler sehen nur, dass diejenigen, die sich gestern noch beschimpft haben, nun im selben Bett liegen. Nein, eine große Koalition ist den Deutschen nicht sympathisch.
Aber unser Land ist in einer Haushaltskrise und braucht tragfähige Entscheidungen auf allen Feldern – und zwar schnell.
Sie könnten recht bekommen im Laufe der nächsten Monate und Jahre, aber einstweilen würde ich das so noch nicht sehen. Wieso sollen wir in einer Krise sein, wenn in Wirklichkeit die Lage Deutschlands sich nicht sonderlich unterscheidet von der Lage Frankreichs oder von der Lage Hollands und anderer europäischer Länder? Die ökonomische Lage ist überall ziemlich gleich. Im Gegenteil, was die Staatsschulden angeht, sind wir sogar noch besser dran als die meisten anderen. Also, wenn man für die gegenwärtige Lage Deutschlands das Wort Krise benutzt, dann muss man das leider für fast alle europäischen Staaten benutzen, vielleicht mit der Ausnahme Polens.
Sie haben in der ZEIT zusammen mit Ihrem ehemaligen Pariser Kollegen Giscard d‘Estaing einen Artikel geschrieben, der vor der Erosion Europas warnt. Was ist schiefgelaufen?
Sehr vieles. Sehr vieles ist schiefgelaufen. Es fing im Jahre 1992 an auf der Maastrichter Konferenz. An ihr waren damals zwölf Mitgliedstaaten beteiligt. Die haben dort zum Beispiel beschlossen, dass es eine gemeinsame Währung geben sollte, den Euro – zu zwölft. Die Spielregeln sahen bei allen Entscheidungen Einstimmigkeit vor. Und dann haben sie die Union erweitert auf immer mehr – jetzt sind wir bei 27. Das heißt, Europa funktioniert nur, wenn 27 Staaten sich einig sind. Es ist so klar wie dicke Tinte, dass das nicht funktionieren kann. Und diesen Unfug haben die Außenminister, wie sie alle geheißen haben – Kinkel und sonst wer –, mitgemacht. Sie waren voller Begeisterung, haben die Gemeinschaft immer mehr erweitert: Vielleicht noch die Türken dazu oder die Ukraine? Größenwahnsinnig. Auf der anderen Seite natürlich der Druck der Polen, der Esten, der Letten, der Litauer, die alle dabei sein wollten. Und jetzt haben wir diesen Lissaboner Vertrag – der gilt heute.
Aber der ist doch ein Fortschritt, weil der Zwang zur Einstimmigkeit entfällt.
Nein. Es gibt ein paar Felder, in denen Mehrheitsbeschlüsse möglich sind. Aber auf 72 Feldern wird nach wie vor Einstimmigkeit verlangt. Und das Schlimmste ist, dass wir keine Instanz haben, die der Europäischen Zentralbank gegenübersteht. Das ist einmalig in der ganzen Weltgeschichte, dass eine Zentralbank völlig frei im Raume schwebt.
Mithin auch ohne Verantwortung, außer sich selbst gegenüber.
Außer dem eigenen Gewissen gegenüber. Die beiden bisherigen Chefs haben ihre Sache erstklassig gemacht, nach meinem Urteil, jedenfalls besser als die amerikanische Zentralbank und besser als die japanische, wirklich gut. Also, man soll das nicht gering schätzen, aber es handelt sich dennoch um eine Konstruktion, in der eine Zentralbank frei im Raume schwebt. Und das kann auf die Dauer nicht gut gehen.
Sie fordern also eine zentrale politische Instanz, egal, wie man sie nennt, die dieser Zentralbank auf die Finger schaut und sie auch beeinflusst.
Also „auf die Finger schaut“ ist mir ein zu starker Ausdruck, aber dass die Zentralbank auf eine solche Instanz Rücksicht nehmen müsste, das wäre schon wünschenswert
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Sie haben einmal gesagt, dass Sie zusammen mit Giscard d’Estaing auf eine europäische Währungsunion gedrängt hätten, um den immer mächtiger werdenden deutschen Bankiers, von denen Sie damals sagten, dass sie einen Hang zur Überheblichkeit hätten, einen Riegel vorzuschieben.
Es war nicht das wichtigste Motiv. Das wichtigste Motiv war, das vorhersehbare Tohuwabohu auf den Währungsmärkten der Welt – immer wieder Abwertungen des amerikanischen Dollars, immer wieder Aufwertung der D-Mark, dazwischen Abwertung des Pfundes, Auf- und Abwertung des Franc – zu beenden. Die Spekulation mit Währungen war ein Grund dafür, dass wir gesagt haben, der Franc hat nicht genug Gewicht, die D-Mark hat nicht genug Gewicht, wir müssen eine schwergewichtige gemeinsame Währung schaffen. Das war die Vorstellung. Wir hatten damals eine Wirtschafts- und Währungsunion vor Augen. Der Euro war die spätere Realisierung dieser Union – als reale Gemeinschaftswährung.
Nun ist der Euro auch angreifbar geworden. Staaten innerhalb der Eurozone sind nicht nur in eine Krise geraten, weil sie sich verschuldet haben, sondern weil Staatsanleihen zum Spielball von Spekulanten geworden sind.
Ja, von Fonds aller Art und Zweckgesellschaften aller Art – also von Schattenbanken, könnte man sagen.
Man redet vom „grauen Finanzmarkt“.
Gar nicht grau, sondern grausam. Die Banken haben dabei mitgespielt, vor allen Dingen die amerikanischen Investmentbanken und die Londoner Investmentbanken, die haben mitgespielt. Und schließlich hat jeder mitgespielt.
Nun lehnen die Amerikaner die meisten Vorschläge ab, die aus Deutschland zur Banken-Regulierung kommen. Können Sie sich die Motive des amerikanischen Finanzministers und auch des amerikanischen Präsidenten erklären?
Umgekehrt, umgekehrt – es sind nicht die Motive des amerikanischen Präsidenten, sondern, es sind die Motive des amerikanischen Kongresses, an die der Präsident sich anpasst. Er würde gern weitergehen. Aber er hat sich angepasst, um das, was er für durchsetzbar hält im Senat und im Abgeordnetenhaus, auch wirklich durchzusetzen. Die Motive der Amerikaner entstammen ihrer Vorstellung, jemanden, der reich wird und sich bereichert, den muss man bewundern. Er hat mit Erfolg Gebrauch gemacht von der individuellen Handlungsfreiheit, für die die Amerikaner seit 230 Jahren auf der ganzen Welt gekämpft haben. Die politischen Instinkte der amerikanischen politischen Klasse sind insofern immer noch gegen eine straffe Regulierung der Finanzmärkte gerichtet.
Also wird Obama mit seinen Versuchen scheitern, die Spekulationsmonster zu zähmen?
Er wird da ein bisschen was zustande kriegen, aber nicht viel. Ich glaube nicht, dass tiefgreifend reguliert wird in Amerika. Was dagegen Merkel macht – dass sie auf eigene Faust nur für Deutschland Leerverkäufe verbietet –, ist zum Schieflachen. Die Papiere werden dann eben nicht in Frankfurt leerverkauft, sondern irgendwo auf den Bahamas oder in irgendeinem Vorort von London.
Sie dürfte das wissen und hat das Verbot als Beruhigungsmittel für die öffentliche Meinung in den Raum gestellt.
Ich hoffe, dass sie weiß, dass es Unfug, dass es wirkungslos ist.
Aber was schlagen Sie vor, um die Macht dieser Banken, der Mega-Banken zumal einzuschränken?
Deutschland allein kann da überhaupt nichts machen. Wenn die Franzosen und die Deutschen gemeinsam agieren, dann ist es denkbar, dass Euroland etwas zustande bringt. Dazu braucht Euroland aber eine Instanz – die es noch nicht gibt.
Paris und Berlin finden offenkundig nicht zusammen – was hat Angela Merkel im Februar angetrieben, Sarkozy so rüde die kalte Schulter zu zeigen?
Eine der normalen Charakterschwächen aller Politiker ist Geltungsbedürfnis, übertriebenes Geltungsbedürfnis. Und diese Schwäche ist hier der Hauptgrund.
Sarkozys diesbezügliches Bedürfnis scheint allerdings noch höher entwickelt zu sein.
Ja.
Glauben Sie, dass Europa aus dieser Finanzkrise herausfindet?
Ich fürchte, dass die wünschenswerten institutionellen Regelungen, einschließlich der Regelung der Finanzmärkte, so bald kaum wirksam werden.
Und warum nicht?
Weil es dafür keine Übereinstimmung gibt. Wohl aber halte ich durchaus für möglich, dass sich im Laufe der nächsten fünfzehn Jahre, können auch zwanzig sein, ein de facto innerer Kern der kontinentaleuropäischen Staaten herausbildet, sicherlich mit großer Wahrscheinlichkeit ohne England, der eine stabilere Haushalts- und Finanzpolitik betreibt. Andererseits wird ein solcher innerer Kern nur zustande kommen, wenn die Franzosen es wollen und die Deutschen auch.
Das heißt, das deutsch-französische Verhältnis ist entscheidend.
Ja, natürlich, war es immer. Es ist nicht gut denkbar, dass Herr Jean-Claude Juncker als Kaiser von Luxemburg das zustande bringt.
Obwohl Herr Juncker ein sehr tüchtiger Politiker ist.
Nicht nur das, und er versteht auch, worüber er redet, im Gegensatz zu vielen anderen Staatschefs. Er weiß wirklich, wovon er redet, er ist fachlich ausreichend versiert. Aber das kann man nicht erwarten, dass die Luxemburger das hinkriegen. Und die Belgier nicht – am ehesten könnten es noch die Holländer, aber die sind auch eigentlich zu klein. Es ist schwer vorstellbar, wie Holland die Franzosen und die Deutschen führt.
Sie reden jetzt von der Idee eines Kerneuropa: Wie sähe dieses Kerneuropa institutionell aus?
Das kann ich nicht vorhersagen. Wahrscheinlich ohne institutionellen und verfassungsrechtlichen Unterbau.
Also allein aus der Not geboren?
Allein aus Gründen der Vernunft. In den drei Perioden, in denen die Zusammenarbeit zwischen Paris und Bonn und später Paris und Berlin gut funktioniert hat, lief alles ohne institutionellen Unterbau ab. Gestaltet wurde das von Politikern, die Einfluss hatten auf ihre Mitarbeiter und ihre Top-Bürokraten und ihre Minister. Im Falle von de Gaulle und Adenauer gab es auch nur diesen Élysée-Vertrag. Das war in Wirklichkeit eine reine Gesinnungsdeklaration. Aber sie haben tatsächlich – Adenauer mehr als de Gaulle, de Gaulle fühlte sich hoch überlegen – gut kooperiert. Und dasselbe zwischen Giscard d’Estaing und Schmidt, die hatten überhaupt keinen institutionellen Unterbau. Und zwischen Mitterrand und Kohl gab es auch keinen institutionellen Unterbau. Da waren die Personen entscheidend.
Aber jetzt erleben wir, dass die Frage der Finanz- und Haushaltsschwächen eines kleinen Landes, nämlich Griechenland, und im Hintergrund Spanien, Portugal, Irland, Italien aufgrund ihrer Schuldenpolitik plötzlich die wirtschaftliche und politische Kohärenz des ganzen Kontinents gefährden.
Eine Gefährdung ist es gewiss. Man muss aber dazu auch wissen, dass auch die Franzosen und die Deutschen längst diesen sogenannten Stabilitätspakt gebrochen haben, ohne dafür von irgendjemand gestraft zu werden.
Weil es diese höhere Instanz nicht gibt.
Ja, weil das Europäische Parlament auf beiden Ohren taub ist, und weil die Kommission in Brüssel geschlafen hat. Ich meine, die Kommission ist doch ein Aberwitz – 27 Kommissare. Jeder Kommissar hat noch 1000 Leute unter sich. Das ist absoluter Unfug, kann nicht funktionieren.
Also, was ist die Lösung?
Es gibt keine Patentlösung. Die Sache ist so verfahren, dass sie, nach meinem Urteil, nur tatsächliches Handeln und nicht die Erfindung von anderen Institutionen erfordert.
Zu solchem Handeln gehört auch das vorbildliche Handeln. Das heißt, die Haushaltssanierung in Deutschland, um ein Beispiel zu nehmen.
Da bin ich zurückhaltend. Man kann die Haushaltssanierung auch übertreiben und dadurch den ganzen gemeinsamen Markt in die Deflation treiben. Die Haushaltssanierung darf nicht das alles andere überragende oberste Gebot sein.
Was wäre dann das überragende Gebot?
Ich sage noch einmal, es gibt keine Patentantwort. Aber alle Staaten der Welt, nicht nur die Europäer, sondern ebenso die Chinesen, ebenso die Japaner, ebenso die USA, ebenso Mexiko – fast alle Staaten der Welt stehen heute vor dem Dilemma, einerseits einen kolossalen Berg an Staatsschulden aufgehäuft zu haben: im Wesentlichen, weil sie die Finanzmärkte gerettet haben. Einerseits also möchte man, muss man den Schuldenberg abbauen. Andererseits weiß man, dass je mehr ich Schuldenabbau zum Ziel mache, ich die Gefahr vergrößere, die Rezession auf ewig zu verlängern. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie sich in zunehmender Arbeitslosigkeit niederschlägt. Der technische Fortschritt geht weiter. Für ein Produkt, das 1200 Arbeiter herstellen, werden in zehn Jahren nur noch 600 Arbeiter benötigt. Im ersten Akt – wenn ich die Haushaltssanierung zum überragenden Gebot mache – kann eine lang anhaltende Deflationskrise folgen und im zweiten Akt dann die Zunahme der Arbeitslosigkeit.
Man kann unsere Wirtschaft also auch kaputtsparen?
Ja, natürlich. Und da müssen wir Deutschen uns vorwerfen lassen, dass wir viel mehr sparen als alle anderen – die deutsche Sparrate liegt heute bei elf Prozent ungefähr. Das ist ganz ungewöhnlich hoch. Die amerikanische Sparrate liegt immer noch nahe null.
Sie waren doch einmal Finanzminister. Welchen Weg würden Sie vorschlagen?
Erst einmal würde ich mich selber für ungeeignet halten, weil ich zu lange raus bin aus dem Geschäft. Ich würde statt meiner Peer Steinbrück vorschlagen. Ihm würde ich sagen, zerbrich du dir mal den Kopf und bedenke, dass Währungspolitik zu 50 Prozent gleichzeitig immer Außen- und Europapolitik ist.
Aber das weiß der Finanzminister Schäuble doch auch.
Wirklich?
Gut, das Verhältnis zwischen Wolfgang Schäuble und seiner Pariser Kollegin Christine Lagarde ist etwas angespannt.
Lagarde versteht aber ihren Kram. Und Schäuble lernt das gerade erst, on the job. Ich habe jeden Respekt vor Wolfgang Schäuble, aber er ist einstweilen noch kein Fachmann, das kann man auch nicht verlangen.
Aber er scheint sich doch vehement einzuarbeiten in die Materie.
Was er an Anstrengung und Selbstüberwindung zustande bringt, ist bewundernswert – aber er ist einstweilen kein Fachmann. Und er hat einstweilen auch noch nicht verstanden, dass deutsche Alleingänge außenpolitisch nur schädlich sind. Wie gesagt, Währungspolitik ist immer gleichzeitig Europapolitik und Außenpolitik.
Tatsache ist, dass wir in Europa, auch bei uns, eine gewisse Renaissance des Nationalismus verspüren.
Ich würde das nicht Nationalismus nennen.
Sondern?
Nationalen Egoismus. Es ist ja weit entfernt von den nationalistischen Übertreibungen der alten Deutschnationalen. Das Wort Nationalismus weckt bei mir falsche Assoziationen. Nein! Nationaler Egoismus, auch Egotismus, trifft die Sache besser. Dazu kommt das Geltungsbedürfnis aller Politiker. Eitelkeit spielt auch eine Rolle, aber Geltungsbedürfnis ist noch etwas anderes. Das Geltungsbedürfnis ist dem Menschen inhärent, das merkst du auf dem Fußballfeld oder als Fußballzuschauer – deine Leute sollen gewinnen.
Auf dem Fußballfeld ist das in Ordnung.
Ja, auf und auch am Fußballfeld zeigt der Mensch seine natürlichen Reaktionen.
Wie kommt es, dass viele Deutschen nicht begreifen, dass Europa für sie die einzige Chance ist – auch die einzige Friedenschance. Wer hat da versagt?
Also, eine ganze Menge Leute haben es ja verstanden. Richtig ist, dass die Politiker meiner Generation und der Generation vor mir, also die Ernst Reuter, Kurt Schumacher, Konrad Adenauer – dass die das besser begriffen hatten, denn der Krieg war ja noch eben erst zu Ende, und wir saßen wörtlich in der Scheiße hier. Die heutigen Politiker wissen erstens gar nicht, was Krieg ist, deswegen sind sie auch leicht dabei, irgendwo einzumarschieren, ob das Kosovo ist oder Bosnien, macht keinen Unterschied, oder Afghanistan oder Irak oder Somalia – wir sind überall dabei. Das hängt eben damit zusammen, dass sie keine Ahnung vom Krieg haben. Und zweitens sind sie aufgewachsen in einer Phase, die in der Weltgeschichte einmalig ist, was den Anstieg des Lebensstandards der breiten Massen angeht und der Oberschichten sowieso. Das hatte es in der ganzen Welt noch nicht gegeben, außer jetzt in China. Das ist eine einmalige Entwicklung, praktisch eine Hochkonjunktur, von 1953 etwa angefangen bis 1973. 1973 kam dann die erste Ölkrise, da brach diese unglaubliche Hochkonjunktur ab. Aber der Anstieg des Lebensstandards hat sich fortgesetzt.
Wie beurteilen Sie den Zustand der SPD – und überhaupt der Volksparteien?
Zur SPD will ich jetzt nicht viel sagen. Sie hat eine unglaubliche Erfolgsgeschichte hinter sich. Aber sie hat noch nicht gelernt, dass sie inzwischen längst eine Angestelltenpartei ist – und keine Arbeiterpartei mehr. Sie hat früher dafür gesorgt, dass aus Arbeiterkindern Aufsteiger wurden. Das ist eine großartige Erfolgsgeschichte. Aber nun muss sie umdenken und endlich verstehen, dass die alten Heilslehren kein Rezept mehr sind.
Und die andere Volkspartei?
Beide Parteien sind im Grunde nicht auf der Höhe ihrer Leistungsfähigkeit. Das ist eine seltsame Erschlaffung. Nehmen Sie mal den Fall des Finanzministers. Ich habe vorhin gesagt, der Schäuble ist ein anständiger Kerl, aber er muss den Job erst lernen. Wir haben nur einen einzigen, der den Job einigermaßen beherrscht – das ist Steinbrück. Wenn der morgen auch ausfällt, sind die ganze Sozialdemokratie und die ganze CDU ohne einen Mann, der die internationalen Finanzmärkte übersieht. Deswegen bin ich nicht sonderlich optimistisch, was die eine oder die andere Partei angeht – mir ist das inzwischen egal, wer hier regiert. Ich möchte nur kompetent regiert werden.
Und? Fühlen Sie sich zurzeit anständig regiert?
Anständig ja, aber nicht sehr zweckmäßig.
Das Gespräch führten Michael Naumann und Hartmut Palmer
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