- Und Deutschland wächst doch
Die Ergebnisse des Zensus sagen wenig über die künftige Entwicklung der Bevölkerung aus, aber viel über die demografische Verblendung in Deutschland
Mit großer Überraschung sind am Freitag die Ergebnisse des Zensus wahrgenommen worden. 2011 hatte Deutschland danach rund 1,5 Millionen weniger Einwohner als statistisch angenommen. Doch die Zensus-Ergebnisse besagen eben nicht, dass Deutschlands Bevölkerung schrumpft, wie viele Medien dies nun schreiben – sie bedeuten vielmehr, dass 2011 weniger Menschen in Deutschland gelebt haben als die Behörden gedacht haben.
Überraschend ist dies in Wirklichkeit überhaupt nicht: Seit langem wird vermutet, dass gerade viele ausländische Einwohner sich bei einem Wechsel ins Ausland nicht abmelden. Dieser Effekt hatte sich seit der letzten Volkszählung im Jahr 1987 „aufgestaut“. Der Zensus liefert also vor allem eine Bereinigung der Karteileichen. Damit verändert sich die den Behörden bekannte Gesamtzahl der Menschen in Deutschland für das Jahr 2011 – nicht mehr und nicht weniger. Nichts ändert der Zensus an der Realität, zum Beispiel an der Wohnungsknappheit in vielen deutschen Großstädten.
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[[{"fid":"53715","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":1025,"width":750,"style":"width: 140px; height: 191px; margin: 5px; float: left;","class":"media-element file-full"}}]]Dem Demografie-Wunder und der falschen Schrumpfungslogik widmet sich ausführlich auch die Juni-Ausgabe des Magazins Cicero: Hurra, wir wachsen! Deutschland auf dem Weg zum 100-Millionen-Volk
Mit einer Titelgeschichte von Andreas Rinke und Christian Schwägerl, einer Fotoreportage über Einwanderer und einem Interview mit CDU-Vize Armin Laschet über den Magnet Deutschland und die Integration von Einwanderern.
Die Juni-Ausgabe des Cicero – am Kiosk und im Online-Shop erhältlich.
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Cicero-Leser sind schon seit zwei Wochen auf das Ergebnis des Zensus vorbereitet: „Der letzte Mikrozensus hat hier bei der absoluten Bevölkerungszahl und der Langlebigkeit mit statistischen Artefakten aufgeräumt“, steht in der aktuellen Ausgabe zu lesen. Und gerade angesichts der Missverständnisse über den Zensus kommt die Titelgeschichte der Ausgabe genau zur rechten Zeit: „Hurra, wir wachsen!“
Denn Deutschlands Bevölkerung wächst wieder. An dieser Aussage ändert sich rein gar nichts – das Referenzjahr des Zensus, 2011, ist ausgerechnet das Jahr, an dessen Ende das Statistische Bundesamt eine Trendwende festgestellt hatte: Erstmals zogen wieder mehr Menschen zu als abwanderten. Und der Effekt war bereits so groß, dass dies sogar die negative Geburten/Todesfall-Bilanz ausglichen: Das Ergebnis, die Bevölkerung wächst wieder. 2012 verstärkte sich der Trend.
Dies zeigt, dass die bisherigen Annahmen für die schrumpfende Bevölkerung bis 2060 kein Naturgesetz sind. Denn auch der Wiederanstieg der Gesamtbevölkerung bereits in den Jahren 2011 und 2012 war nicht erwartet worden. Die Annahmen für die Entwicklung der Bevölkerungsentwicklung bis 2060 beruhen auf Erhebungen des Jahres 2009 – einem echten Krisenjahr für Deutschland. Alle Indikatoren für das Land zeigten damals nach unten. Auch aus diesem Denken resultierten die bis heute verwendeten Annahmen, dass die Bevölkerung bis 2060 auf bis zu 64 Millionen Menschen sinken könnte. Erst Ende 2014 wird das Statistische Bundesamt wieder neue Prognosen vorlegen – alle Indikatoren weisen derzeit aber nach oben.
Niemand zweifelt an der „Baby-Delle“, vor der Deutschland steht. Die geburtenschwachen Jahrgänge haben einen Rückgang der Zahl der potenziellen Mütter zur Folge – dies wird mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer zunächst weiter sinkenden Zahl an Babys führen. Aber: Nicht einberechnet sind bisher unerwartete Entwicklungen sowohl bei Zuwanderung, Fertilität und anderen Lebensumständen.
Die Zuwanderung ist das beste Beispiel dafür, dass der Trend mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit anders verlaufen wird, als man dies 2009 vorhersehen konnte:
Niemand konnte 2009 damit rechnen, wie schnell Deutschland aus der Krise kommen und welchen Sog es entwickeln würde. Deutschland ist seit der Finanzkrise zu einem Magneten für junge Menschen aus ganz Europa und anderen Weltregionen geworden. Viele Einwanderer sind jünger, besser ausgebildet als früher, sie können auf Dauer bleiben und sind potenzielle Eltern statistisch bisher nicht mit eingerechneter Kinder. Das Zuwanderungsplus lag 2012 mehr als doppelt so hoch wie der im positiven Szenario der Statistiker erwartete jährliche Durchschnitt, Tendenz steigend.
Es gibt sehr starke Indizien dafür, dass die hohe Zuwanderung von heute dauerhaft anhält: Deutschland steht nicht nur wirtschaftlich gut da. Gerade der öffentlich breit diskutierte Fachkräftemangel mit Millionen fehlender Arbeitskräfte wirkt wie ein Sog auf einem sich europäisierenden Arbeitsmarkt. Dazu kommt ein leistungsfähiges Ausbildungssystem, eine selbst im weltweiten Maßstab sehr hohe Innovationskraft und Forschungsleistung, die den dauerhaften Erfolg der deutschen Wirtschaft sicherstellen dürfte.
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Sicher gibt es Zyklen, die auch Deutschland in der Zukunft wieder einen Wirtschaftseinbruch bescheren dürften. Aber das Land wirkt wie ein dauerhafter, stärker werdender Magnet für Arbeitskräfte, auch weil andere europäische Volkswirtschaften Jahren brauchen werden, um wieder auf die Beine zu kommen. Deutschland ist heute für Europa eine Art großes Baden-Württemberg, ein industrieller und innovativer Kern, der anziehend wirkt. Während in Krisenländern ausgerechnet an Bildung und Forschung gespart wird, bietet Deutschland ein gutes berufliches Ausbildungssystem und auch eine gute Universitäts- und Forschungslandschaft. Wir bieten als Teil unserer gesamteuropäischen und globalen Verantwortung gerade junge Menschen jene Chancen, die sie in ihren Heimatländern nicht oder zu wenig finden.
Deutschland ist mittlerweile ein anerkanntes Einwanderungsland: Die ablehnende Haltung aus früheren „Gastarbeiter“-Zeiten weicht immer mehr eine „Willkommenskultur“, das Land ist erheblich weltoffener geworden. Firmen und Kommunen forcieren die dauerhafte Aufnahme von immer mehr Zuwanderern in einer nie gekannten Weise. Es gibt „feel-good“-Manager“ in Unternehmen und „Willkommenscentern“ in vielen Städten. Dies erleichtert die Integration enorm. Parallel werden die Anwerbeaktionen im Ausland immer stärker ausgeweitet, die Deutsch-Kurse boomen weltweit. Deutschland steht erst am Beginn einer wachsenden Einwanderungswelle. Die früheren Annahmen über die „Absorptionsfähigkeit“ sind hinfällig, schon weil die Voraussetzungen und Qualifikationen der neuen Zuwanderer eine viel leichtere Integration ermöglichen. Platz gibt es in Deutschland noch genug.
Es gibt zudem Anzeichen dafür, dass auch die tatsächlich sehr niedrige durchschnittliche Kinderzahl pro Frau wieder steigen wird. Zum einen zeigen die Beispiele Frankreich und Skandinavien, dass die frühere Annahme schlicht falsch ist, dass die durchschnittliche Kinderzahl mit wachsendem Wohlstand sinkt. Zum anderen verbessern sich die lange rückständigen Rahmenbedingungen für Frauen und Familien in Deutschland stetig – nicht ohne Grund. Denn auch die Firmen dringen wegen des wachsenden Arbeitskräftebedarfs darauf, mehr Frauen mit mehr Stunden ins Arbeitsleben einzubeziehen. Familie und Beruf lassen sich endlich auch in Deutschland besser kombinieren – was nach allen Erfahrungen die Bereitschaft zum Kinderkriegen erheblich erhöht. Die Grundstimmung im Land gerade unter Jugendlichen hat sich nach allen Erhebungen verbessert. Auch dies beeinflusst die Entscheidung für eine Familiengründung positiv.
Das Problem in Deutschland ist die fehlende offene Debatte über solche Effekte. Denn eine aktive Bevölkerungspolitik wird wegen der nationalsozialistischen Vergangenheit anders als in Frankreich oder Skandinavien nicht geführt. Die vorherrschenden Schrumpfungs-Annahmen werden auch deshalb einfach hingenommen. Die Debatte über die Zensus-Ergebnisse führt nun vor, wie tief das falsche Denkmuster sitzt – das ist ein regelrechter demografischer Verblendungszusammenhang zu beobachten: Weil man es sich so bequem gemacht hat in den Schrumpfungsprognosen, darf die Wirklichkeit nun nicht von ihnen abweichen.
Aber sollen wir die vielen Menschen, die ihre Zukunft nun in Deutschland suchen, abweisen und ihnen sagen: „Tut uns leid, unsere Prognosen sagen uns leider, dass wir schrumpfen, deshalb dürfen wir nun nicht wachsen?“ Die große Gefahr der Schrumpfungs-Prognosen liegt darin, dass sie zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden. Das Land richtet sich komplett auf Schrumpfung ein und verpasst genau deswegen die riesige Chance auf eine positive demografische Wende – das wäre schlimm.
Die Zensus- Ergebnisse ändern nichts an der tatsächlichen gesellschaftlichen Entwicklung: Deshalb dürfte sich die „Baby-Delle“ gegenüber früheren Annahmen wieder abflachen. Die hohen Zuwandererzahlen können das sicher weiter negative Geburten/Sterbefall-Saldo leichter ausgleichen und für einen weiteren Bevölkerungsanstieg sorgen. Es ist auch wahrscheinlich, dass die Lebenserwartung steigt stärker als 2009 angenommen – was Auswirkungen auf die Gesamtbevölkerungszahl hat. Geht es Deutschland wirtschaftlich gut, dürfte sich zudem ein seit Jahren anhaltender Trend umkehren: Bisher wandern mehr Deutsche aus als zurückzukehren.
Die Ergebnisse des Zensus sind also kein Argument zur Untermauerung der bisherigen Schrumpfungs-Erwartung. Sie senken lediglich den Sockel, von dem aus sich die Bevölkerung nun entwickelt. Statt weiter einseitig auf zurückgehende Bevölkerungszahlen zu setzen, sollte die Politik deshalb bedenken, dass der Trend – wie in den vergangenen beiden Jahren – in die entgegengesetzte Richtung gehen kann. Sicherlich muss sich die Gesellschaft auf eine zunehmen Zahl an alten Menschen und die weitere Entleerung abgelegener Regionen einstellen – diese Entwicklung ist unstrittig. Aber Deutschlands Bevölkerung kann auch in den kommenden Jahren eher wachsen statt schrumpfen. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft können diese Chance nun entweder weiter ignorieren und verschlafen, oder sie wahrnehmen und positiv nutzen.
Hinweis: In einer früheren Version des Textes war vom „Mikrozensus“ die Rede. Richtig ist der Begriff „Zensus“.
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