- Warum Berlin zu beneiden ist
Unsere tschechische Gastautorin Lucie Suchá beschreibt, woran sich Zuwanderer in Berlin gewöhnen müssen. Im Guten wie im Schlechten
Aus irgendeinem Grund ist Berlin die beliebteste Stadt Deutschlands. Als ich in Tschechien gesagt habe, dass ich für drei Monate hierher fahre, waren alle neidisch. Wieso bloß? Berlin ist doch eine ganz normale Stadt.
Von einem historischen Zentrum kann man lediglich an der Museumsinsel sprechen. Eine Brücke, wie man sie in Prag sehen kann – mit der Burg im Hintergrund – solche wunderschönen Ansichten gibt es in Berlin nicht.
Wer hier über prächtige Ausblicke von der Dachterrasse spricht, meint damit: Du kannst die Dächer der nebenstehenden Häuser sehen. Wow – und?
Wer wirklich eine Aussicht haben möchte, muss Eintritt zahlen, um auf den Fernsehturm zu kommen. Oder er muss auf die Dachkuppel des Reichstags steigen.
[[nid:53769]]
Und hier bekommt man es mit einer weiteren Berliner Eigenschaft zu tun, auf die man überhaupt nicht neidisch sein sollte: konkurrenzlose deutsche Organisationsfähigkeit. Um die Reichstagskuppel zu betreten, muss man sich zuerst auf der Webseite des Bundestages registrieren, alle persönliche Daten angeben, einen Termin auswählen. Der Bewerber bekommt eine E-Mail mit einem Link, muss noch einmal alles bestätigen und erhält dann eine weitere Mail – mit dem Hinweis: „Vielen Dank für Ihre Anfrage. Ihr Terminwunsch wurde an den Besucherdienst des Deutschen Bundestages gesendet.“ Dort wird geprüft, ob für die angefragte Veranstaltung noch Plätze verfügbar sind. Unterschrieben: der Besucherdienst. Erst ein paar Stunden später erreicht den Berlinbesucher die letzte Mail: Endlich. Die Bestätigung.
Also: Romantisch, historisch oder spontan ist Berlin gar nicht. Wer Romantik erwartet, muss eine andere Stadt wählen. Ebenso jener, der Galanterie erwartet. Probieren Sie mal dieses Quiz:
An der S-Bahn-Tür treffen sich ein Mann und eine Frau. Was passiert?
a) Der Mann lässt die Frau als erste hineingehen und die letzte freie Stelle besetzen
b) Der Mann drückt sich als erster durch die Tür, lässt aber den einzigen Platz für die Frau frei
c) Der Mann drückt sich als erster hinein und setzt sich auf den letzten Platz
So? Wie naiv sind Sie? Ich zumindest war sehr naiv. Ich erwartete Option a), erlebte und sah aber Option c). Viele Male. Mit einer einzigen Ausnahme: Gestern fuhr ich mit der U-Bahn. Alle Plätze waren besetzt, gleich neben mir saß ein Mann. Vor ihm stand eine junge Frau. „Setzen Sie sich“, sagte er gleich, als sich der Zug in Bewegung setzte. Ich wollte mich schon bei allen deutschen Männern für meine pessimistische Einschätzung entschuldigen, da ergänzte er: „Ihre Fahrausweise bitte.“
Die Männer in Berlin zeigen Galanterie nur bei den Frauen, die sie schon kennengelernt haben. Ihre Nacktheit präsentieren sie im Gegensatz dazu gern auch den unbekannten. Gerade lag im Grunewald noch Schnee, in der Woche darauf lagen dort schon die unbekleideten Männer, die die Sonne genossen.
Aber kann man in Berlin wenigstens gut essen? Wien hat die Sachertorte, Salzburg Mozartkugeln, Stuttgart Spätzle. Was hat Berlin? Die Currywurst – eine Erfindung, um die diese Stadt auch noch mit Hamburg kämpft. Sie meinen aber nicht ernsthaft, dass diese Wurst mit Ketchup jemandem schmeckt? Auch dann nicht, wenn in der Imbissbude ein Foto des Verkäufer und von Elvis Presley hängt.
Essen kann man in Berlin also nicht gut. Trinken allerdings schon. Noch nie habe ich so viele betrunkene Menschen auf der Straße gesehen. Noch schlimmer: betrunkene Menschen mit Bierflasche in der Hand. Das soll eine moderne, westeuropäische Stadt sein? Bin ich die Einzige, die Flaschen in den Händen Betrunkener als eine Waffe betrachtet?
[gallery:Das Berliner Stadtschloss – ein modernes Schauermärchen]
Warum waren also alle so neidisch auf mich, als ich nach Berlin ging?
Weil hier trotzdem etwas ist. Etwas in der Luft, etwas, was man nur schwierig einordnen kann. Aber man spürt es vom ersten Augenblick an. Vielleicht haben die breiten Straßen und Gehwege damit zu tun, so viel freier Platz zwischen Gebäuden. Vielleicht erzeugen diese Atmosphäre all die Ausländer, die einen Teil ihrer Kultur hierher mitgenommen haben. Und ihr Essen selbstverständlich. Zum Glück.
Vielleicht liegt es daran, dass hier die Geschichte des geteilten Deutschlands so lebendig ist. Und vielleicht... an etwas ganz anderem.
In Berlin hat man einfach das Gefühl, dass man sich frei bewegen kann, dass man anziehen kann, was man möchte, dass man sagen kann, was man denkt. In Berlin kann man irgendwie besser atmen. Und das ist schon zu beneiden.
[[{"fid":"53983","view_mode":"teaser","type":"media","attributes":{"height":220,"width":160,"style":"width: 120px; height: 165px; margin: 10px 5px; float: left;","class":"media-element file-teaser"}}]]Wenn Sie wissen wollen, was das Geheimnis unserer verschlunzten Hauptstadt ist, dann empfehlen wir Ihnen einen Blick in das Cicero-Heft „Babel Berlin“, das Sie hier bestellen können.
Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.