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Die Avantgarde ist tot. Es lebe die Literatur!

Viel zu lange wurden Autoren und Leser von der Literaturkritik bevormundet, meint Uwe Wittstock. Und plädiert für ein aufgeklärtes Lesevergnügen jenseits überfrachteter Avantgardekonzepte: Es darf wieder erzählt und geschwelgt werden. Ohne schlechtes Gewissen.

Nüchtern betrachtet, liegt in der Vorstellung, Kunst und Literatur müssten autonom und das radikal Andere zur bestehenden Gesellschaft sein, eine heillose Überforderung. Denn für ein ganz und gar Anderes gibt es naturgemäß keine vernünftigen Maßstäbe oder Standards mehr. Was wurde folglich und wird mitunter heute noch alles von Literatur erwartet: Lebenssinn soll sie stiften, Erlösung ahnen lassen, als Avantgarde zum Motor der Geschichte werden, per Provokation die Menschen läutern oder sie per Subversion verunsichern und durch beides für Weltverbesserung sorgen, unauslotbare Bedeutungsräume schaffen, die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts vorantreiben, durchs Spiel die Entfremdung aufheben. Ist das alles nicht ein bisschen viel? Ist es nicht ein bisschen großkalibrig formuliert? Träfe mehr als nur ein Funken von all dem tatsächlich zu, müsste sich der Kulturbetrieb, dessen Akteure den größten Teil ihrer Zeit mit Werken der Kunst konfrontiert sind, längst zur besten, humansten aller Welten entwickelt haben – was wohl kaum einer, der den Betrieb näher kennt, ernsthaft von ihm wird behaupten wollen. Nein, wer seinen vermeintlichen Einfluss so auftrumpfend selbst feiert, setzt sich dem Verdacht aus, ein schwaches Selbstbewusstsein und insgeheim nur wenig zu bieten zu haben. Sicher, Kunst und Literatur folgen eigenen Gesetzen und dürfen sich nicht vereinnahmen lassen, aber sie sind eben doch nur Subsysteme neben anderen. Wäre es nicht ehrlicher, all die kunstreligiösen Schwärmereien beiseitezulassen und Kunst und Literatur nüchterner als geistig-sinnliche Lockerungsübungen, als Sensibilitätstraining und Wahrnehmungsschulung, als privilegierte Zugangsmöglichkeiten zu den seelischen Welten anderer und eben – so skandalös das für manche klingen mag – als geistreiches Entertainment zu betrachten? Ist es inzwischen nicht offensichtlich, dass einige Produkte der nicht autonomen Unterhaltungsindustrie, die den garstigen Gesetzen des Kommerzes genügen müssen, mitunter Werken unseres die Kunstautonomie hätschelnden Kulturbetriebs durchaus das Wasser reichen können? Ja, mehr noch, dass manche Hollywoodfilme von, sagen wir, Steven Soderbergh oder den Coen-Brüdern mehr Momente echter Poesie aufweisen als etliche Inszenierungen gefeierter Regiestars an unseren Stadttheatern und manche Folge der Simpsons mehr als der jährliche Roman von Martin Walser? Warum spielt Autonomie dann in unseren Gedanken zur Kunst noch immer eine so große Rolle? Die Gräben zwischen E- und U-Literatur zu ignorieren, gehört seit Leslie A. Fiedler zu den frühesten Forderungen der postmodernen Ästhetik, und sie wird heute gern als allgemein praktizierte Selbstverständlichkeit hingestellt. Wie wirkungsvoll die alten Ausgrenzungen aber nach wie vor sind, lässt sich an vielen kleinen Beispielen ablesen: Robert Gernhardt etwa, der als Autor dezidiert komischer Texte begann und deshalb lange einem angeblich minderwertigen Unterhaltungsfach zugerechnet wurde, erhielt erst nach seinem sechzigsten Geburtstag mit dem Brecht-Preis die erste namhafte Auszeichnung, obwohl er zweifellos zu den wichtigsten deutschen Lyrikern seiner Zeit zählte. Allerdings gibt es auch ermutigende Zeichen: Dass mit Kathrin Passig 2006 eine Autorin den Wettbewerb um den Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Preis gewann, die sich keineswegs als Schriftstellerin mit traditionellem Kunstanspruch empfindet, sondern einfach eine gute Geschichte geschrieben hatte, spricht für lobenswerte Unbefangenheit der zuständigen Jury. Wenn das Selbstverständnis der Preisträgerin dann allerdings in etlichen Berichten über den Wettbewerb für merkliches Naserümpfen sorgte, gibt das wiederum zu denken. Man sollte die Zwänge nicht unterschätzen, die durch die rigiden Normen der Moderne ausgeübt wurden und in abgeschwächter Form noch immer fortleben. Burkhard Spinnen, der in den neunziger Jahren seine literarische Karriere begann, hat deren Folgen am eigenen Fall beschrieben. In den Jahren zuvor hatte er sich als Student der Germanistik vor allem den sprachkritischen Aspekten der Moderne gewidmet. Karl Kraus, den er als exemplarischen Vertreter dieser Strömung empfand, wurde einer seiner Hausgötter und formte sein literarisches Weltbild. Andererseits aber erschien ihm die Literatur der Gegenwart, die sich auf die Sprachkritik der Moderne über hundert Jahre nach deren Entstehung berief, erschöpft und weltfern, fast so als würde sie sich mit ihren Doktrinen vom zeitgenössischen Leben und Denken abschotten und einmauern. Weder wollte er mit der eigenen schriftstellerischen Arbeit an die Resultate dieser sprachkritischen Schule anknüpfen noch wagte er, aus ihrem Schatten zu treten. Von diesem Dilemma wurde er geraume Zeit blockiert, schon sah er sich – mit leisem Widerstreben – auf dem Weg zu einer literaturwissenschaftlichen Laufbahn und in nicht allzu ferner Zukunft vom Katheder herab über Visionen und Aporien der Avantgarde dozieren. Doch eines Abends, er liegt schon im Bett, hat er einen Einfall: „Zugegeben, es ist ein ausgesprochen stofflicher Einfall. Genauer, es ist eine Szene, eine plötzliche Begegnung zwischen sehr verschiedenen Männern: der eine ein Versicherungsagent, der andere Zirkusdirektor; und ohne es auszusprechen, fordern die beiden einander zum Duell. Was ich sagen will: Keineswegs ist unserem Helden die große Idee gekommen, wie und wohin der Aufbruch der zeitgenössischen Literatur aus dem Dilemma zu erfolgen hätte. Nein, er hat nur eine kleine Idee, die vielleicht eine kleine Geschichte tragen könnte. Und unser Held, er schämt sich. Erstens schämt er sich dafür, dass ihn, der er doch still und ernsthaft mit dem Zentralproblem der zeitgenössischen Literatur ringt, spätabends kleine Ideen für kleine Geschichten ankommen. Und zweitens schämt er sich dafür, dass er jetzt im warmen Bett liegen bleibt und nicht aufsteht und die kleine Idee aufschreiben wird. Doch dann geschieht es. Statt dass die beiden Beschämungen einander gegenseitig trösten und den Beschämten ruhig einschlafen ließen, steht der auf und schreibt, quasi mit zusammengebissenen Zähnen, die ersten vier Seiten einer kleinen Geschichte. Vier Seiten nur, aber es sind vier Seiten Orgie, vier Seiten Hingabe an den Stoff, vier Seiten Schwelgen in der Naivität eines skurrilen Einfalls und schließlich auch: vier Seiten lang gepfiffen auf alle ‚großen‘ literaturtheoretischen Erwägungen, auf alle Skrupel und Bedenken, auf alle Mahner und Vorbilder. Vier Seiten!“ Wer das als Einzelfall abtun möchte, macht es sich zu leicht. Er unterschätzt den nahezu unantastbaren Status, den die von den Nazis verfolgte Ästhetik der Moderne in der Bundesrepublik während der ersten Nachkriegsjahrzehnte schon aus politisch-moralischen Gründen hatte und bei einigen Fachleuten offenbar bis heute hat. Ihr wuchs in manchen Bereichen der Gesellschaft die Funktion eines Distinktionsmittels zu – man denke nur an die Großzügigkeit, mit der Adorno den Vorwurf der Banausie unter all jenen verteilte, die andere Musik- oder Literaturformen bevorzugten als er. So entfaltete sie im Kulturbetrieb einen deutlichen Anpassungsdruck. Für Burkhard Spinnen relativierte sich dieser Druck durch eine entscheidende Erfahrung beim Schreiben seiner, nach den eigenen literaturtheoretischen Maßstäben so dubiosen Geschichten: „Sie lautet, arg verkürzt: Alles Wesentliche geschieht vor Ort! Will sagen, keiner der theoretischen Befunde zur modernen Literatur ist obsolet, keine der diskursiven Erwägungen über ihre Möglichkeiten und Unmöglichkeiten ist überflüssig! – Aber zum Fortschritt und das meint hier: zum schieren Weitergehen der Literatur bedarf es neben allem anderen insbesondere einer gewaltigen Portion Chuzpe. Und die zieht man wahrscheinlich nicht aus Diskurs und Reflexion, sondern nur aus den unaufgeräumtesten Hinterzimmern des Bewusstseins.“ Diese Einstellung von Schriftstellern, sich beim Schreiben nicht von Verordnungen irgendwelcher Art einschüchtern zu lassen, hat mir immer besonderes viel Respekt und Sympathie abgenötigt. Alles Wesentliche geschieht vor Ort. Will sagen, literaturtheoretische Überlegungen sind selbstverständlich nicht überflüssig, sie können sich auch für einen Schriftsteller bei seiner Arbeit als überaus nützlich und hilfreich erweisen. Doch gleichgültig, ob solche theoretischen Befunde nun von modernen oder postmodernen Grundlagen ausgehen, sie werden fragwürdig, sobald sie normativen Charakter annehmen. Ob ein literarisches Werk gelungen ist oder nicht, ob es Ausstrahlungskraft und Schönheit entwickelt, hängt nicht davon ab, ob es theoretischen Vorgaben entspricht. Das entscheidet sich vielmehr vor Ort, am Text selbst, der, wenn man ihn unvoreingenommen betrachtet, manchmal eben nur einen Halbsatz braucht, um alte literarische Techniken wieder auf die Höhe der Zeit zu bringen und um ungezählte theoretische Warnungen zu widerlegen. Gleichgültig welchen Traditionen man ihn zuordnen kann, man erspart sich durch diese Zuordnung nie eine kritische und hoffentlich einfühlsame Prüfung des Textes. Mit anderen Worten: Wer die Poetik eines literarischen Werkes ermittelt, hat damit kein hinreichendes Urteil über dessen Qualität gefällt; er verschafft sich lediglich einen genaueren Blick auf das Werk, aber das letzte Wort über dessen Rang ist damit nicht gesprochen.

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