Kindergarten in Paris / picture alliance

Große Probleme, falsche Konzepte - Die hausgemachte Kita-Krise ist nicht mit Geld zu lösen

Seit langem hat es keine so unausgeglichene, stimmungsgetriebene, zugleich anspruchsvolle und labile Generation von Kleinkindern gegeben wie die aktuellen Kindergartenjahrgänge. Das Hauptproblem ist aber nicht das Geld, sondern die aktuelle Kita-Ideologie.

Autoreninfo

Miriam Stiehler leitet eine private Vorschule sowie eine Praxis für Förderdiagnostik und Erziehungsberatung. Sie studierte Sonderpädagogik und promovierte in heilpädagogischer Psychologie. Als Dozentin befasst sie sich mit den philosophischen und wissenschaftlichen Grundlagen von Bildung, als Autorin stellt sie auf www.WissenSchaffer.de Fachtexte und systematisch erprobtes Lernmaterial zur Verfügung. Zuletzt von ihr erschienen: „AD(H)S - Erziehen statt behandeln“.

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Beinahe irreparabel seien die Schäden, die die aktuelle „Kita-Krise“ auslöse, sagt die Erziehungswissenschaftlerin Rahel Dreyer. In einem offenen Brief fordert sie deshalb mit einigen hundert Kollegen aus dem Früherziehungsbereich mehr Geld und mehr Personal für Kindergärten. Dass die Schäden immens sind, da kann man ihr nur zustimmen. 

Seit langem hat es keine so unausgeglichene, stimmungsgetriebene, zugleich anspruchsvolle und labile Generation von Kleinkindern gegeben wie die aktuellen Kindergartenjahrgänge. Der Krankenstand beim Personal ist enorm, besonders wegen psychischer Erkrankungen, und auch das verwundert nicht. Doch die Notlage bleibt von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, weil es im Kindergarten keine Zeugnisse oder Lernziele gibt, die den Abwärtstrend in schockierende Zahlen übersetzen und in Familien diskutiert würden. 

Es ist eine schleichende Fehlentwicklung, die Eltern und Großeltern spüren, aber nur schwer in Worte fassen können. Ihre Folgen sind vergleichbar mit der Migrationskrise und dem wirtschaftlichen Abschwung, denn hier wächst eine Generation heran, der ganz wesentliche Bausteine für Resilienz und Bildung fehlen. Doch auch dieses Problem ist nicht durch mehr Geld zu lösen. Es ist eine Folge fataler ideologischer Irrtümer. Viele davon verdanken wir dem erfolgreichen Marsch durch die Institutionen, den die Feinde der „Offenen Gesellschaft“, wie Karl Popper sie wirklich verstand, vor über fünfzig Jahren angetreten haben.

Hochzufrieden mit ihren „écoles maternelles“

Die aktuelle Klage, in Kitas herrsche „Zeitdruck“ und „Personalmangel“ und die „räumlich-materielle Ausstattung“ sei unzulänglich, geht am Problem vorbei. Gebetsmühlenartig fordert man mehr Geld und Personal, ein „Sondervermögen“ und vage „Qualitätsverbesserungen“. Doch das ist nicht das Problem. Das Problem ist die aktuelle Kita-Ideologie, die vor Denk- und Sprechverboten nicht mehr zurückschreckt.

An sich könnte man mit dem Geld und dem Personalschlüssel, den wir in Deutschland haben, wunderbar auskommen. Es ist die Art, wie in Kindergärten gearbeitet wird, die bei Kindern und Erziehern zu enormem seelischem Stress führt. In Bayern zum Beispiel kommen im Durchschnitt acht Kinder auf eine Erzieherin. In Frankreich sind es 24. Bei Krankenstand erhöht sich die Belastung, doch das Grundverhältnis bleibt sehr unterschiedlich. 

Dennoch sind die Franzosen hochzufrieden mit ihren „écoles maternelles“, also den „mütterlichen Schulen“, die alle Kinder zwischen drei und sechs Jahren besuchen. Kostenlos übrigens, von 8:30 bis 16 Uhr. 80 Prozent der Franzosen sind in Umfragen sehr zufrieden mit ihnen. Meine französischen Kolleginnen sind jedoch schockiert über die Unruhe und Lautstärke in deutschen Kindergärten. Was für ein Stress, sagen sie. So möchten sie keinesfalls arbeiten müssen! Lieber bleiben sie in ihren großen Gruppen. Und dafür haben sie gute Gründe.

Eine gemeinsame Wissens- und Wertebasis

In Deutschland hat man die Auffassung erfolgreich diskreditiert, kleine Kinder sollten ruhig und strukturiert an das kulturelle Erbe der Menschheit herangeführt werden. Die Haltung ist passé, dass man erst einmal mit einer gewissen Bescheidenheit über das nachdenken muss, was kluge Köpfe in den letzten 4000 Jahren erarbeitet haben. Man darf nicht mehr sagen, dass Erwachsene deshalb mehr Verantwortung und Rechte haben, weil sie auch mehr Urteilsfähigkeit und Wissen besitzen. 

Der Gedanke, dass es erstrebenswert ist, im Denken und Handeln erwachsen zu werden, wird heute „Adultismus“ genannt. Er soll, wie man z.B. im brandenburgischen Bildungsplan nachlesen kann, aktiv bekämpft werden. Vergötzt hingegen wird das kindliche Ego: Was auch immer ein Kind aus seinen eigenen bescheidenen Kräften erzeugt, wird über den grünen Klee gelobt und als großartige Errungenschaft dargestellt. Es geht um Selbstverwirklichung, nicht um das Erarbeiten einer gemeinsamen Wissens- und Wertebasis.

„Denken als Ordnen des Tuns“

In Frankreich verfolgt die école maternelle fünf Ziele. Das Kind soll sich als Individuum in die Gemeinschaft einfügen lernen. Es soll die französische Sprache in all ihren Facetten beherrschen: mündlich, schriftlich, literarisch. Es ist festgeschrieben und selbstverständlich, dass die Kinder am Ende des Vorschuljahres alle Buchstaben beherrschen, 30 Wörter als Ganzwörter lesen können und eine ganze Menge Lieder auswendig kennen. 

Neben künstlerischen und sportlichen Fähigkeiten ist das fünfte Hauptlernziel, „die ersten geistigen Werkzeuge zu entwickeln, um die eigene Denkweise zu ordnen“. „Denken als Ordnen des Tuns“, das durfte in Deutschland der Piaget-Schüler Hans Aebli zuletzt 1980 in seinem gleichnamigen Grundlagenwerk über kritisch-rationalistische Didaktik fordern. Heute spielt das praktisch keine Rolle mehr. Nicht Ordnung der Gedanken, sondern die Befriedigung von basalen Antrieben wie Neugier und Selbstbehauptung stehen im Zentrum der aktuellen deutschen Kindergarten-Konzepte.

Bei uns hat eine völlig fehlgeleitete Vorstellung von „Kindzentrierung“, „Selbstbildung“, „Partizipation“ und „Autonomie“ enormen Einfluss auf die praktische Arbeit in Kindergärten. Schockierendster Tiefpunkt dieser Entwicklung ist der aktuelle Bildungsplan für Brandenburg, der Erzieherinnen regelrechte Sprechverbote auferlegt. Die triviale Erkenntnis, dass Bildung nicht wie der Nürnberger Trichter ein passives Einfüllen von Wissen in Kinderköpfe ist, sondern aktives Mitdenken der Kinder erfordert, wurde übertrieben ausgeweitet. Es gilt nun die Auffassung, dass alle Lernprozesse durch Kinder initiiert werden müssten, an ihren spontanen Interessen anknüpfen sollten und keine Zielvorstellungen von richtig und falsch enthalten dürften. 

Die Tyrannei der Political Correctness

Ja, Kinder müssen mitdenken, aber dazu müssen sie von Erwachsenen im Umgang mit Denkwerkzeugen wie „vergleichen“, „messen“, „mit Oberbegriffen sortieren“ geschult werden. Ja, Kinder sollen eigenes Interesse haben, aber man kann diese Interessen auch gezielt wecken, man muss es sogar bei emotional weniger ansprechbaren Kindern, während man flatterhafte Gemüter lehren muss, bei der Sache zu verharren und schweigend mitzudenken, anstatt sofort unausgegorene Kommentare abzugeben. 

Ja, Kinder müssen lernen, dass ein X kein U ist und dass es nicht „fast richtig“, sondern falsch ist, zu behaupten, eine Hand hätte drei Finger – und man kann sehr wohl Kinder freundlich und gelassen dazu hinführen, ihr Handeln mit einem Maßstab zu vergleichen, ohne sie gleich zu demütigen. Der Ton macht die Musik. Es gibt keinen Grund, auf Maßstäbe zu verzichten, nur weil frühere Generationen es manchmal mit der Strenge übertrieben haben. Die Tyrannei der Political Correctness ist im Übrigen nicht weniger streng, sie verzichtet nicht auf Maßstäbe, sie hat nur andere, und diese sind nicht diskursiv, sondern auf neue Art moralinsauer und willkürlich.

Sanftmütig für Disziplin sorgen

Wenn ich in einer französischen Maternelle bin, verstehe ich sofort, warum die Kolleginnen ihren Arbeitsplatz nicht mit einem in Deutschland tauschen möchten. Sie haben in ihrer Arbeit noch die Möglichkeit, Kindern wirklich etwas mitzugeben. Sie können gestalten, lehren, führen und Kindern die Welt der Bildung und Sprache aufschließen. Sie bringen so viel Ruhe und Struktur in die Gruppen, dass sie täglich mehrere ihrer eigenen Ziele erreichen. Dies ist ein Schlüsselfaktor für Zufriedenheit am Arbeitsplatz. 

Auch wenn ihre Ausstattung nicht selten veraltet und ärmlich wirkt im Vergleich zu deutschen Kindergärten – sie wissen sie gewinnbringend einzusetzen. Und sie sind nicht den ganzen Tag damit beschäftigt, überschießende emotionale Reaktionen von Kindern abzupuffern und banalste Regeln für den zwischenmenschlichen Umgang täglich neu „auszuhandeln“. Sie sind nicht der passive Spielball kindlicher Interessen, der sich sofort zurückziehen muss, sobald ein Kind sagt „Keine Lust mehr!“. Sie müssen keinen belastenden Lärmpegel ertragen, weil sie sanftmütig für Disziplin sorgen. 

Letzte Woche zum Beispiel konnte ich mehrere Stunden lang den Geräuschpegel in einem deutschen und französischen Kindergarten messen. In der französischen Gruppe waren es zwischen 55 und 72 Dezibel. In der deutschen Gruppe waren es nie unter 75, meist zwischen 85 und 95 db, teils auch über 100. Lärm macht depressiv, schlecht gelaunt und verringert die Lernfähigkeit. Wie schaffen das die Franzosen? Sie haben keine offenen Konzepte, sondern Strukturen. Sie gewöhnen die Kinder von klein auf daran, in normaler Lautstärke zu sprechen und zu spielen. Sie sorgen für eine beruhigende Rhythmisierung des Tagesablaufs. 

Es ist nicht alles perfekt in Frankreich

In Deutschland machen Kindergartenkinder nach dem eventuellen Morgenkreis eigentlich den ganzen Tag, was sie wollen. Es gibt „Angebote“, zu basteln oder ein Buch anzuschauen, aber fast nirgends mehr sind diese Tätigkeiten verpflichtende Elemente, die ein Erwachsener leitet. Die Erzieherinnen erziehen nicht, sie sind Mitbewohner am Spielfeldrand, die eingreifen, um das Schlimmste zu verhindern, und Bildungsautomaten, die von den Kindern benutzt werden, wenn diese gerade Lust darauf verspüren. In Frankreich erleben die Kinder eine Mischung aus kurzen frontalen Einheiten, individuellem Arbeiten in vorbereiteten „atéliers“ an Tischen, Spielzeiten, geordnete Mahlzeiten, Lektüre und Sport. Französische Kinder sagen „J’ai beaucoup travaillé“, „Ich habe viel gearbeitet“, wenn sie von ihrem Tag erzählen, und zwar mit enormem Stolz. 

Die bedeutendsten Reformpädagogen haben schon vor über 100 Jahren diesen Wunsch des Kindes nach Arbeit neben dem Spiel betont. In deutschen Kindergärten gibt es keine angemessenen Arbeiten mehr für Kinder und kaum noch ungestörtes, versunkenes Spiel, eher kurzlebige lustbetonte Aktivitäten in raschem Wechsel. Auch in Frankreich sind die Kinder Kinder. Sie lachen; sie rangeln; sie ziehen mich am Arm, um mich mitzunehmen zu ihrem Platz; sie amüsieren sich über den Plüschhut in Gestalt einer Torte, den die „Maîtresse“ aufsetzt, um das Geburtstagskind zu begrüßen; sie klatschen und singen und stampfen gern zu „Si tu as d'la joie au cœur, tape tes mains“. 

Es ist nicht alles perfekt in Frankreich – die Kita-Pflicht hätte mir als Mutter das Herz schwer gemacht, und didaktisch gäbe es wie überall Möglichkeiten zur Verbesserung. Aber wir können viel von unseren Nachbarn lernen. In den nächsten Wochen werde ich mehr darüber berichten, welche ideologischen Irrungen und Wirrungen die deutsche Kita-Krise verursachen und welches „savoir faire“ wir uns jenseits des Rheins abschauen könnten, um sie zu überwinden.


 

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