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FDP - Marktliberalismus, aber bitte nicht für uns!

Beim Bundesparteitag am kommenden Wochenende werden die FDP-Chefs ihre Partei sicherlich wieder einmal als Wächterin der Freiheit feiern. Aber wie sieht es eigentlich mit der eigenen Klientel aus? Die darf keinesfalls den Kräften des freien Marktes überlassen werden

Autoreninfo

Gunnar Hinck ist Politologe und Autor in Berlin. Von ihm erschien „Wir waren wie Maschinen“ über die Linke der siebziger Jahre

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Wenn es darum geht, die FDP als Stoßtrupp mutiger Freiheitskämpfer und konsequenter Gegner staatlicher Bevormundung darzustellen, ist auf die Parteielite Verlass. Christian Lindner, der Landesvorsitzende von Nordrhein-Westfalen, Parteichef Philipp Rösler und Fraktionschef Rainer Brüderle können auf Knopfdruck und bei jeder sich bietenden Gelegenheit über die segensreichen Kräfte der Eigenverantwortung und des freien Marktes sprechen. Lindner steht für die intellektuelle Variante, indem er gern John Stuart Mill und Karl Popper zitiert und über die liberale Ordnungslehre doziert; Rösler bemüht häufig Pathos, wenn er von der „Flamme der Freiheit“ spricht, die nicht erlöschen dürfe; und Brüderle deckt das sinnenfreudig-süddeutsche Segment ab. „Freiheit ist ein Lebensgefühl“, pflegt er zu sagen.

Merkwürdig ist, dass die offizielle Rhetorik wenig mit der Binnenwelt der Partei zu tun hat. Diese wird von den Medien kaum wahrgenommen, ist aber für die Mentalität und das politische Handeln der Partei viel bestimmender. Hier, in der Tiefe der Partei, dominiert alter deutscher Mittelstand: In den Parlamenten und regionalen Vorständen sitzen mittelständische Verbandsfunktionäre, Handwerksmeister, höhere Beamte, Landwirte, lokal verankerte Unternehmer und Freiberufler, darunter viele Rechtsanwälte. Die 93 Abgeordnete starke Bundestagsfraktion spiegelt die soziale Struktur der Partei gut wider: 34 Abgeordnete sind Mitarbeiter in Familienbetrieben oder Freiberufler, darunter 16 Rechtsanwälte und Notare. 25 Abgeordnete haben vor ihrem Einzug in den Bundestag im öffentlichen Dienst oder in mittelständischen Berufsverbänden gearbeitet. Nur zehn Abgeordnete sind oder waren als Unternehmer oder Führungskräfte in der freien Wirtschaft tätig.

Die FDP-Honoratioren aus Mittelstand und öffentlichem Dienst klatschen bei öffentlichen Reden der Parteielite stets kraftvoll mit, wenn diese wieder einmal das Allheilmittel des freien Marktes anpreisen. Was ihre eigenen Berufe angeht, sind sie dagegen froh, dass sie vor genau diesem freien Markt gut geschützt sind. Rechtsanwälte klammern sich an das Rechtsanwaltsgebührengesetz, das genau regelt, welchen Preis sie für welche Leistung verlangen können. Alle paar Jahre erbitten die Standesvertreter vom Gesetzgeber eine Anhebung der Gebührensätze. Auf die konsequent marktliberale Idee, das Gesetz einfach abzuschaffen und die Anwaltstarife frei auszuhandeln, ist noch kein FDP-naher Anwaltsvertreter gekommen.

Oder die Notare: Sie werden nach der Bundesnotarordnung bezahlt. Die Gebührensätze sind stark formalisiert und werden nach dem Wert der zu beglaubigenden Sache berechnet. Die individuelle Leistung und der tatsächliche Aufwand spielen keine Rolle, worüber vermutlich viele Notare froh sind. Die Einnahmen von Architekten und Steuerberatern berechnen sich ebenfalls nach festen Gebühren- und Honorarsätzen. Wenn Standesvertreter der Landwirte mit kritischen Fragen zum Sinn der milliardenschweren EU-Subventionen konfrontiert werden, führen sie routiniert die angeblich zwingenden Gründe für die Subventionen an. Es gehe, so heißt es dann, um die Versorgungssicherheit der Bevölkerung – darunter machen es Bauernvertreter nicht. Höhere Beamte, die sich Fragen zum rundum abgesicherten Status ihrer Berufsgruppe anhören müssen, antworten in der Regel mit einem Kurzvortrag über Friedrich den Großen und die „hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums“. Sie verteidigen den Beamtenstatus mit einer Verve, als ob es sich bei diesem um ein Naturrecht handelte und nicht um ein Privileg, das es mit viel Glück ins Grundgesetz schaffte.

Jeder, der schon einmal zu Gast auf einem Neujahrsempfang einer örtlichen IHK war, wird den Moment kennen, in dem der Verbandsfunktionär den Blick mahnend auf den Bürgermeister richtet und zu mehr Aufträgen der Kommune auffordert, denn sonst, so heißt es unterschwellig drohend, könnten ja viele Arbeitsplätze gefährdet sein. Der Staat gilt hier als der Garant für Umsätze und Wohlstand und nicht als der gierige Schröpfer der Steuerzahler. Die alternative marktliberale Idee, sich EU-weit um Aufträge zu bemühen, spielt in diesem lokalen Milieu der Mittelständler und Gewerbetreibenden nur eine untergeordnete Rolle.

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Im Jahr 2003 wollte die damalige rot-grüne Bundesregierung den Meisterzwang für die meisten Handwerksberufe abschaffen. Die FDP war die Partei, die die Liberalisierung am schärfsten bekämpfte. Rainer Brüderle trompetete damals: „Das deutsche Handwerk darf nicht zum Prügelknaben der Nation gemacht werden.“ Anders als Lindner und Rösler beherrscht er sowohl die offizielle marktliberale Rhetorik als auch die kumpelige Rolle des Interessenvertreters des Mittelstands, was ein wichtiger Grund dafür sein dürfte, dass er in der Partei gut beleumundet ist.

Zeitgleich plante die rot-grüne Regierung damals, den Arzneimittelhandel zu liberalisieren. Apotheker sollten mehrere Filialen betreiben können und der Internethandel ermöglicht werden. Selbstverständlich protestierte die FDP, schließlich fürchtete sie die Konkurrenz durch Apothekenketten und europäische Internet­apotheken, die den geregelten Markt und damit die Renditen ihrer Klientel kaputt machen könnten. Der Autor fragte seinerzeit den damaligen FDP-Unterhändler im Bundestag, warum seine Partei eigentlich gegen die Liberalisierung im Gesundheitssektor ist, wo sie doch sonst immer von positiven Kräften des freien Marktes spricht. Der Politiker schwieg, lächelte verlegen und murmelte dann, dass das bisherige System doch ganz gut funktioniere. Es war ein ehrlicher Moment, der den Widerspruch der Partei aufzeigte.

Die schwarz-gelbe Koalition hat die Privilegien des Mittelstands bewusst erhalten. Im Koalitionsvertrag ist dieses Ziel explizit aufgeführt. Der berüchtigte Steuernachlass für Hotelbetriebe, den die FDP einforderte und schließlich auch bekam, war letztlich nicht überraschend. Er passt ins Bild.

Es gehört zu den größten Paradoxien der vergangenen 25 Jahre, dass in nahezu jedem Sektor der Berufswelt das Wettbewerbsprinzip Einzug hielt, während sich ausgerechnet die sogenannten freien Berufe davor weitgehend schützen konnten. Während inzwischen jede Krankenschwester beim Verbandswechsel auf die Uhr sehen muss, um die Renditeziele ihres Krankenhauses nicht zu gefährden, konnte der alte Mittelstand seine ständischen Privilegien des 19. Jahrhunderts auch mithilfe der FDP verteidigen.

Der Widerspruch der FDP zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist noch größer geworden, seit Guido Westerwelle als Vorsitzender das Profil der Partei auf den Wirtschaftsliberalismus reduziert hat. Eine Interessenpartei war sie schon vorher.

1972 sorgte die damalige SPD/FDP-Bundesregierung für einen teuren Systembruch in der Rentenversicherung. Selbstständige, die vordem von der gesetzlichen Rente ausgeschlossen waren, konnten sich zu Discount-Preisen in das staatliche Rentensystem einkaufen. Ein älterer Selbstständiger musste nur vergleichsweise läppische 35 000 oder 40 000 D-Mark investieren, und schon profitierte er von einem Solidarsystem, in das normale Arbeitnehmer jahrzehntelang einzahlen müssen, um eine einigermaßen auskömmliche Rente zu bekommen.

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Das Urteil des damaligen „Verbands Deutscher Rentenversicherungsträger“ war Jahre später eindeutig: Die Reform habe „lukrative Nachrichtungsmöglichkeiten mit hoher Rendite“ ermöglicht, die Neuregelungen seien „ausgabenträchtig“. Die Reform war ein typischer Koalitionskompromiss. Die SPD wollte, dass Hausfrauen in die Rentenversicherung einsteigen konnten, die FDP bediente im Gegenzug ihre Klientel. Weil aber die durchschnittliche Hausfrau des Jahres 1972 viel weniger Bargeld in die Hand nehmen konnte als der Zahnarzt von nebenan, lagen die Renditen der Selbstständigen und die damit verbundenen Kosten für die Allgemeinheit viel höher. Aus der vergessenen Rentenreform von 1972 lassen sich zwei Erkenntnisse ziehen: Dass in einer Zeit, in der alle Parteien den Staat als unerschöpfliche Geldquelle betrachteten, auch die FDP mitmachte. Und dass sich ein politisches Milieu ohne Hemmungen eines Solidarsystems bedient, wenn sich die Gelegenheit bietet und leistungslose Gewinne winken.

Die Idee blamierte sich immer, wenn sie von dem Interesse unterschieden war, schrieb Karl Marx. Mit anderen Worten: Purer Idealismus bleibt hohl, solange er nicht an handfeste Interessen gekoppelt ist. Der Satz gilt aber auch andersherum: Das reine, egoistische Verfechten eigener Interessen entlarvt sich irgendwann selbst, wenn mit den Interessen keine politische Idee verbunden ist. Bei SPD und Grünen finden sich gut verdienende Hochschulprofessoren oder Architekten, die bewusst die hohen Spitzensteuersätze, die ihre Parteien vertreten, in Kauf nehmen. Persönlich ist es ein Minusgeschäft für sie, aber weil sie von der sozialen Idee der Umverteilung überzeugt sind, stehen sie dahinter. Bei CDU und CSU finden sich Mitglieder, die aufgrund ihrer christlichen Überzeugung ähnlich denken.

Der FDP fehlt dagegen ein übergeordnetes Ideal, von dem die Anhänger auch dann noch überzeugt sind, wenn es sich mal negativ auf das eigene Einkommen niederschlägt. Die Partei ist ­Opfer eines selbst geschaffenen Paradoxes: Der individualistische, auf das rein Materielle beschränkte Freiheitsbegriff untergräbt das Freiheitsideal, das die Partei ausruft. Am Ende geht es nur noch um Egoismus und persönliche Nutzenmaximierung. Man nimmt, was man kriegen kann, und wenn dies am einfachsten durch Klientelismus und staatlichen Protektionismus zu erreichen ist, suspendiert man leichthin die hehren Ideale von Selbstbestimmung und Eigenverantwortung. Am Ende findet sich der Liberalismus auf Mediamarkt-Niveau wieder: Ich bin doch nicht blöd.

Die Partei steckt in einem strategischen Dilemma. Bekennt sie sich offen als Interessenpartei des Mittelstands, würde sie sich noch stärker an die Ketten dieser Klientel legen. Schlägt sie einen konsequent marktliberalen Kurs ein, liefe sie Gefahr, diese Wählerklientel zu verlieren. Die wirklichen Profiteure des freien Marktes – die Manager und Anteilseigner von börsennotierten Konzernen, international verflochtenen Unternehmen und Investmentfonds – brauchen die FDP nicht, um ihre Interessen durchzusetzen.

„Der Liberalismus lässt sich heute weder als Großunternehmer-Philosophie missbrauchen noch auf eine Kleinhändler-Ideologie reduzieren.“ Das schrieb Karl-Hermann Flach, der liberale Vordenker, im Jahr 1971. Der erste Teil des Satzes stimmt heute nur teilweise, der zweite stimmt nicht mehr. Der politische Liberalismus ist derzeit auf eine Kleinhändler-Ideologie reduziert. Der legendäre FDP-Generalsekretär Flach wollte seine Partei einst „aus seiner besitzbürgerlichen Erstarrung“ befreien. „Die individuellen Interessen eines sich konsolidierenden Bürgertums erhielten Vorrang vor dem liberalen Grundanliegen, nämlich Freiheit und Würde für möglichst viele Menschen zu sichern“, bilanzierte er die Geschichte des politischen Liberalismus in Deutschland. Die Beschreibung gilt exakt für die FDP im Jahr 2013. 

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