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Wahlforscher - Fang den Wähler!

CDU stark, SPD mickrig, Grüne boomen, FDP tot – Umfragedaten bestimmen die Diskussion im Wahljahr. Dabei wird das Geschäft der Demoskopen immer schwieriger

Autoreninfo

Klaus Raab ist freier Medienjournalist in Berlin.

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Bei seiner Ausrufung stieß SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück gegenüber allen Meinungsforschungsinstituten eine kleine, versteckte Drohung aus. Er wolle, sagte er Ende September, einen Wahlkampf führen wie Gerhard Schröder.

Wahlkämpfen wie Schröder – das bedeutet, ganz zum Schluss noch aufzuholen: Die Union mit Kanzlerkandidat Edmund Stoiber doch noch zu übertrumpfen, wie 2002, als der noch in der ersten ARD-Hochrechnung am Wahlabend führte. Die CDU mit Angela Merkel, die zwischenzeitlich 17 Prozent vorne gelegen hatte, um ein Haar noch abzufangen, wie 2005.

Wahlkämpfen wie Schröder – das ist ein Politikerspruch, keine Wissenschaft. Was soll Steinbrück sonst sagen: „Ich gebe hiermit auf, Merkel ist eh cooler“? Und dennoch, der Satz wirft Fragen neu auf, die sich Demoskopen gefallen lassen müssen, akut wieder nach der Landtagswahl in Niedersachsen, als die FDP deutlich besser abschnitt, als noch zwei Wochen vorher ermittelt: Wofür Umfragen, wenn es am Ende anders kommt? Ist Meinungsforschung doch nur Daten-Voodoo?

Also, schon Angst vor dem Debakel bei der Bundestagswahl, Herr Jung?

Matthias Jung ist der Geschäftsführer der Forschungsgruppe Wahlen, die für das ZDF seine „Politbarometer“-Daten und Wahlprognosen ermittelt. Das Institut sitzt in Mannheim, einer guten Stadt für eine Statistikfirma, denn sie ist in durchnummerierte Planquadrate unterteilt, die auf Straßenschildern angegeben werden. Die Forschungsgruppe befindet sich in der N7, 13‑15. Jung wirkt wie ein freundlicher Mathematiklehrer, der seine Worte mit Bedacht wählt. Es gebe „mit Sicherheit“ keine Krise der Demoskopie, sagt er, im Gegenteil: Sie werde immer besser. Also: keine Angst. Auch der Politologe Thorsten Faas von der Universität Mainz bescheinigt den Demoskopen, gut zu arbeiten. Aber er sagt auch: „Das Umfeld ist für sie sehr schwierig geworden.“

Das Parteiensystem, zum Beispiel: Im Bundestagswahljahr 2013 wird es schwierig wie nie sein zu ermitteln, was die Wähler wollen könnten. Nicht nur weil viele von ihnen das selbst noch nicht wissen. Sondern auch weil die Parteienlandschaft 2013 unübersichtlich ist. Die Piratenpartei ist noch nicht verschwunden, damit haben die Wähler mehr Optionen, was wiederum ihre Entscheidungsfreude hemmt. Je mehr Parteien im Rennen sind, umso größer ist die Gefahr für die Demoskopen, bei der Ermittlung von Stimmenanteilen danebenzuliegen.

Die „Hauptherausforderung“, wie es Matthias Jung nennt, ist die stetig wachsende Volatilität der Wähler. So heißt es im Fachjargon, wenn die Leute ihre Zustimmung für diese oder jene Partei nach der Nachrichtenlage wechseln. Fang den Wähler: Die Bürger mit ihren Stimmungen und Meinungen schlagen Haken, die Demoskopen jagen hinterher.

Das wird schwieriger. 2009, zum Beispiel, entschieden sich knapp 40 Prozent der Wähler erst kurz vor dem Wahltag. Der Weg von einer Partei zur anderen sei heute viel kürzer als etwa 1970, sagt Jung, „und das hat damit zu tun, dass wir seit 1990 eine Entideologisierung der politischen Landschaft erlebt haben“. Die Antwort der Demoskopen darauf sind häufigere Befragungen.

Spätestens sechs Wochen vor dem Wahlsonntag wird Jung in den wöchentlichen Messturnus wechseln, um Veränderungen aufzuspüren.

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Allerdings schützen viele Umfragen nicht zwangsläufig vor Fehlern. In den sieben Wochen vor der Bundestagswahl 2005 veröffentlichten, wie Politikwissenschaftler Thorsten Faas einmal zählte, die fünf bekanntesten Institute 42 Umfragen. Das Ergebnis ist bekannt: Die FDP wurde unterschätzt, die Union überschätzt. Jung gibt zu: 2005, „daran knabbern wir heute immer noch“.

Zum anderen veröffentlichen zwar einige Medien noch kurz vor einer Wahl die neuesten Umfragen, etwa jene des Allensbach- oder des Forsa-Instituts; auch in den USA gibt es unmittelbar vor der Präsidentschaftswahl neue Erhebungen. ARD und ZDF aber, die mit „Deutschlandtrend“ und „Politbarometer“ die prominentesten Wahlforschungsformate haben, bringen ausgerechnet in der Woche vor einer Wahl keine Umfragedaten mehr, um Wähler nicht zu beeinflussen. Das aber führt letztlich dazu, dass zwei Wochen alte Zahlen mit dem Wahlergebnis verglichen werden. Je mehr Wähler sich erst spät festlegen, desto größer kann der Unterschied zwischen Umfrage- und Wahlergebnis sein.

Die Piraten etwa sahen die Institute, zwei Wochen bevor sie in Berlin 2011 in ihren ersten Landtag einzogen, bei 4 bis 6,5 Prozent. Sie bekamen 8,9 Prozent. Matthias Jungs Konkurrent Richard Hilmer vom Institut Infratest Dimap, das der ARD Daten liefert, sagt: „Wir haben schon gesehen, dass die Piraten in Berlin Richtung 8 oder 9 spazieren, das haben wir unserem Kunden auch mitgeteilt.“ Die ARD aber nicht den Wählern.

Oder die taktischen Wähler von Niedersachsen: Viele, die eine schwarz-gelbe Koalition befürworteten, wählten statt der CDU die FDP, weil die in Umfragen stark gefährdet wirkte. Hätten sie gewusst, dass die Partei kurz vor der Wahl die Fünf-Prozent-Hürde längst überschritten hatte, hätten sie ihr Kreuz womöglich anders gesetzt. Jung sagt: „Eine wissentlich falsche Information stehen zu lassen, sodass sich eine Minderheit auf der Basis von Fehlinformationen entscheidet, führt natürlich zu einem viel größeren manipulativen Effekt.“

Die Sender sind in der Frage, wie sie auf die wachsende Zahl der Spätentscheider reagieren sollen, uneins. Jörg Schönenborn, Moderator des ARD-„Deutschlandtrends“, sagt: „Weitere veröffentlichte Umfragen unmittelbar vor dem Wahltag könnten einen Kreislauf zwischen taktischer Wahlentscheidung und neuer Entscheidungsgrundlage durch Umfragen in Gang setzen, der aus meiner Sicht dem demokratischen Prozess nicht förderlich ist.“ Theo Koll, der Moderator des ZDF-„Politbarometers“ dagegen sagt: „Wir überlegen, ob wir am Freitag vor der Wahl mit einem ‚Politbarometer‘ herauskommen.“ Die Erfahrung mit Niedersachsen habe „überdeutlich“ gezeigt, dass es problematisch sei, die Daten nicht zu bringen. „Bei einem Politbarometer unmittelbar vor der Wahl muss allerdings sorgfältig abgewogen werden, ob und inwieweit der Wähler dadurch beeinflusst werden könnte – und wenn ja, ob dies einer möglichen Beeinflussung durch ‚alte‘ Daten nicht vorzuziehen ist.“

Fragt man Schönenborn und Koll, ob sich ARD und ZDF in ihrer Entscheidung aneinander gebunden fühlten, wie bisher, sagt Schönenborn, die Abstimmung sei „guter Brauch“ gewesen, aber „ohne vertragliche Bindung erfolgt“; Koll sagt es deutlicher: „Wir denken eigenständig.“

In Matthias Jungs Büro in Mannheim hängt ein Bertolt-Brecht-Bild, das den Eindruck vermittelt, dass auch er so etwas wie Meinungen haben könnte. Im Gespräch aber trägt er die politische Neutralität, von der sein Meinungsforschungsinstitut lebt, wie eine Monstranz vor sich her.

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Anders als Demoskopen können sich Korrespondenten und Kommentatoren in den Medien leichter mal vorwagen. Es gehört zu ihrem Job, heute Jamaika, morgen Schwarz-Grün, übermorgen einen Farbkasten in den Bereich des Denkbaren hineinzumeinen.

Meinungsforscher dagegen, die Meinungen erforschen und nicht haben dürfen, leben von der Exaktheit ihrer Zahlen, die absolute Objektivität vermitteln. Die ist zwar ein Trugschluss, in jedem Lehrbuch steht im ersten Kapitel, dass eine Umfrage keine Gewissheit bietet. Wie auch? Dann könnte man auch gleich Wahlen durch demografische Analysen ersetzen. Unterscheiden sich Umfragedaten jedoch zu häufig krass vom Wahlergebnis, leidet der Ruf der Demoskopen.

Es gibt ein starkes Argument, mit dem sich seriöse Meinungsforscher seit Jahren rechtfertigen: Man messe Stimmungen, nicht die Zukunft. Richard Hilmer vom Institut Infratest Dimap: „Wir sagen immer dazu, das ist keine Prognose, sondern das aktuelle Stimmungsbild, genauer: die Wahlabsicht, die Bürger zum Befragungszeitraum uns mitteilen.“ Meist seien diese Stimmungen „relativ stabil“ und gäben, glaubt er, das Wahlergebnis gut wieder. „Manchmal aber, wenn die Mehrheit der Bürger zum Schluss zum Beispiel zweifelt, ob sie wirklich den großen Wechsel will, kann sich die Stimmung auch noch kurz vor der Wahl drehen.“

Das Blöde ist, dass Umfragedaten bisweilen nicht wie Stimmungsbilder, sondern wie vorgezogene Wahlergebnisse behandelt werden. Dieses Vermittlungsproblem rührt auch daher, dass nicht alle Institute so transparent zwischen Rohdaten der Umfragen und ihren Interpretationen unterscheiden wie die Forschungsgruppe Wahlen.

Ein Beispiel: In einer repräsentativen Umfrage, in deren Rahmen 1000 Menschen befragt werden, welche Partei sie wählen würden, geben nur 700 bis 800 eine Antwort. 5 Prozent davon sind 30 bis 40 Menschen; von denen wird auf die Gesamtwähler hochgerechnet. Anschließend werden die Antworten gewichtet. Das ist notwendig, um systematische Fehler auszugleichen, die zum Beispiel dadurch entstehen, dass ein guter Teil der Wähler extremistischer Parteien bei der Befragung lügt. Jedes Institut hat eine eigene Gewichtungsformel. Das eine geht davon aus, dass die Wahlentscheidungen der Wähler eher stabil bleiben, ein anderes davon, dass sie sich eher ändern. Welche Gedanken sonst noch mitspielen, bleibt Betriebsgeheimnis – was äußerst problematisch und der eigentliche Knackpunkt ist: Wissenschaft, die nicht zeigt, wie sie zu ihren Ergebnissen kommt, ist Pseudowissenschaft. Dass Meinungsforschung immer und überall losgelöst von Gefühl und vielleicht sogar Gesinnung zustande kommt, bezweifeln sogar Demoskopen – natürlich nur, wenn sie über die Konkurrenz sprechen.

Dennoch werden Umfragen wie Wahrheiten behandelt. Von Politikern, die immer jene Umfragen als Argumente einsetzen, die ihnen gerade passen. Von manchen Wählern, die auf Umfragebasis ihre Wahlentscheidung treffen. Von Journalisten, die Wahlkampf zunehmend als Wettlauf interpretieren. Umfragen sind Teil von Politik.

Was nicht heißen soll, dass sie abgeschafft gehörten. In einer repräsentativen Demokratie ist die Meinungsforschung „ein wichtiger Feedbackmechanismus“, wie es Politikwissenschaftler Thorsten Faas formuliert. „Umso wichtiger“ sei, „dass ihre Zahlen belastbar sind“.

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Hier aber kommt zum Vermittlungsproblem ein methodisches. Man begegnet ihm, sobald man ein Telefonstudio der Infratel GmbH betritt. Hier laufen die Umfragen für Infratest Dimap. 17 Menschen, vornehmlich Studenten, sitzen an Bildschirmen und rufen Leute an, deren Nummern der Computer auf Zufallsbasis wählt. Hier, in diesem Raum in einem Hinterhof-Erdgeschoss in Berlin-Treptow, steht die Lösung für das zentrale Problem der Meinungsforschungsbranche groß an der Wand: „Die Nutzung von Mobiltelefonen ist untersagt.“

Das Handyverbot richtet sich eigentlich an die Telefonstudio-Mitarbeiter, die am Nachmittag mit Deutschland telefonieren. Sie stellen diese großen Fragen: „Welche Partei würden Sie wählen, wenn am Sonntag Bundestagswahl wäre?“, „Verdienen die normalen Griechen“ – wer auch immer damit gemeint sein mag – „unsere Unterstützung?“ Und kein Handygeklingel eines Call-Center-Mitarbeiters soll die Gespräche stören. Aber wenn man Deutschlands führende Meinungsforscher nach ihren aufrichtigen Wünschen fragen würde, dann würden sie das Handyverbot womöglich aufs ganze Land ausweiten. Denn die Demoskopen stehen, des Mobiltelefons wegen, vor der Frage: Wie erreicht man die Wähler heute eigentlich?

Die politische Meinungsforschung erstellt repräsentative Umfragen. Repräsentativ ist eine Umfrage, wenn durch eine zufällige Auswahl der Stichprobe alle Merkmale einer Bevölkerung abgebildet werden können: Wahlberechtigte aus allen Regionen, in allen Berufen, jeden Alters, jeden Einkommens und so weiter. Bedingung: Alle müssen theoretisch in der Stichprobe vorkommen können. Doch seit es Leute gibt, die ausschließlich Handys nutzen, lässt sich die Bedingung mit reinen Festnetzumfragen nicht mehr erfüllen. „Wenn nun aber Leute, die womöglich die Piraten wählen würden, nur Handys haben, wird man über die nichts erfahren, wenn die Stichprobe nur Festnetzanschlüsse umfasst“, sagt Thorsten Faas.

Nehmen wir die Piraten. Wie die Linke und die FDP bewegen sie sich im Bund im Umkreis der Fünf-Prozent-Hürde, genau wie kürzlich in den Umfragen vor der Wahl in Niedersachsen. Unter solchen Bedingungen können Umfragen besonders große Auswirkungen haben. Steht eine Partei vor dem Wahltag knapp unter 5 Prozent, wählen manche lieber eine andere, um ihre Stimme nicht zu verschenken. Andere wählen sie erst recht, um ihr über die Hürde zu helfen. Welcher der beiden Effekte überwiegt, lässt sich nicht genau messen. Aber es gibt sie. Wenn man manche Piraten-Wähler gar nicht erreicht, weil man nur Festnetznummern anruft, kann das zu einer Abweichung mit unberechenbaren Folgen führen.

Richard Hilmer von Infratest Dimap und Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen geben sich unabhängig voneinander überzeugt, die beste Lösung des Handyproblems gefunden zu haben. Ihre Lösungen unterscheiden sich jedoch grundsätzlich. Infratest Dimap wird 2013 im Bund erstmals mit einem sogenannten Dual-Frame-Ansatz arbeiten: Man wird Handy- und Festnetzanschlussbesitzer gleichermaßen befragen. „Wir springen jetzt und ändern den Stichprobenmodus vor der Bundestagswahl 2013“, sagt Hilmer. Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen dagegen sagt: „Wir haben Dual-Frame-Ansätze getestet und definitiv verworfen, weil wir darin Qualitätseinbußen sehen.“ Sein Institut verzichte mittelfristig lieber auf alle Wahlberechtigten, die nur über Handy zu erreichen sind.

Tatsächlich ist keine Lösung perfekt. Handy- und Festnetzstichproben zu mischen, führt dazu, Festnetzverweigerer zu erreichen. Andererseits ist es denkbar, dass man ein und dieselbe Person zweimal erreicht. Die Leute nach wie vor nur über Festnetz anzurufen, führt zum Beispiel dazu, dass man besser kontrollieren kann, ob man in einer Umfrage alle Regionen abgedeckt hat, dafür verzichtet man auf junge Leute in Ostdeutschland, unter denen besonders viele „Mobile-onlys“ sind.

Journalistische Prognose: Womöglich wird der Detailvergleich der Umfragedaten der beiden Institute in diesem Jahr besonders interessant. 

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