Die Demoskopie ist in der Krise
Die Stimmungsdemokratie liebt Umfragen. Immer mehr, immer billiger, immer unseriöser. Dass Deutschlands Wahlforscher mit ihren Prognosen zusehends falsch liegen, ist kein Zufall. Elisabeth Noelle, die Grande Dame der Demoskopie, warnt.
Einsamkeit ist eines ihrer Lebensthemen. „Schon auf dem Schulweg versuchte ich immer alleine zu gehen, konnte das Geschnatter um mich herum nicht ertragen, wollte in Ruhe meinen Gedanken nachhängen. Ich liebte es, alleine im Garten meiner Eltern im Zelt zu übernachten.“ Dazu gehört Mut, den Elisabeth Noelle auf ihrem ungewöhnlichen Lebensweg immer wieder benötigte: Mehrheitsmeinungen sind der heute 88 Jahre alten Professorin, die die empirische Erforschung der Mehrheitsmeinung in Deutschland überhaupt erst eingeführt hat, niemals Richtschnur für ihr eigenes Handeln gewesen. Sie gehört zu den Starken, die sich nicht gegen eigene Überzeugung anpassen.
„Ich war in meiner Kindheit ständig krank. Das hat mich zum Außenseiter gemacht. Aber für meine wissenschaftliche Arbeit war das gut. Wissenschaftler müssen – genau wie Künstler – unbedingt ertragen können, Außenseiter zu sein.“ Dabei konnte die junge Noelle Krankheit auch ganz pragmatisch sehen. Als Goebbels ihre Doktorarbeit „Meinungs- und Massenforschung in den U.S.A.“ entdeckte, die Noelle beim Nestor der Medienwissenschaft in Deutschland, Emil Dovifat, geschrieben hatte, wollte der NS-Propagandist, dass sie für ihn Meinungsforschung betreibe. Da wurde sie sofort krank.
Nicht zufällig war sie gerade erst von ihrem Studienaufenthalt in Amerika („Ich wollte nur weg aus Deutschland, dem damaligen Deutschland. Ich war bereits in der Schule die Einzige, die in keiner Naziorganisation war“) zurückgekehrt. Freunde sorgten für eine Rehabilitierung in Berlin. Dann konnte sie einige Zeit als Journalistin arbeiten, heiratete 1946 den Kollegen Erich Peter Neumann und gründete ein Jahr darauf mit ihm das „Institut für Demoskopie“ in Allensbach. Die Karriere schritt rasch voran. „Selbstbewusstsein ist das Wichtigste. Ein Selbstvertrauen, das in den Erfahrungen mit sich selbst gründet und in einem dauernden anhaltenden Selbstgespräch.
Ich denke immer. Man unterhält sich doch so gut mit sich selbst. Außerdem muss ein Wissenschaftler ungeheuer viel arbeiten. Ich habe mein Leben lang jeden Tag zwölf Stunden gearbeitet, zwei Stunden lang etwas gegessen und den Rest geschlafen. Das ist natürlich eine etwas merkwürdige Lebensform, aber sie führte zu außerordentlich vielen Veröffentlichungen.“ Die füllen heute ganze Regalwände. Ihr Buch „Umfragen in der Massengesellschaft“ gilt in aller Welt als Standardwerk, besonders stolz ist sie auf die „Schweigespirale“. „Helmut Kohl erzählte mir einmal, wie der japanische Ministerpräsident kurz nach seiner Wahlniederlage zu ihm sagte: Wir konnten nur verlieren, die Schweigespirale war gegen uns.“
Kohl ist einer ihrer wenigen „Lebensfreunde“, von all den Großen, denen sie im Laufe ihres langen Lebens begegnet ist, hat sie nur von ihm ein Foto bei sich. Im Eiche-Regal steht es, direkt neben der Totenmaske ihres zweiten Mannes Heinz Maier-Leibnitz, zu der sich dereinst auch ihre eigene Totenmaske gesellen soll. Hierhin schaut sie, während wir reden, die weißen Haare sitzen perfekt, abgestimmt auf das gleichfarbige Kostüm, vor sich eine große Schale feinster Pralinen, von denen sie den ganzen Nachmittag nicht eine nehmen wird.
Diese eiserne Disziplin ist Teil ihrer Persönlichkeit. Anders wohl hätte sie nicht neben der Demoskopie und dem Journalismus auch ihren dritten Beruf ausüben können: den der Professorin, den sie seit 1964 mit der Berufung auf den neu eingerichteten Lehrstuhl für Publizistik an der Universität Mainz mit großem Engagement verfolgte. Doppelte Institutsleiterin – hier in Allensbach, dort am Mainzer Institut für Publizistik – war sie bis zu ihrer Emeritierung 1983. Mit großer Zähigkeit ist „die heilige Elisabeth“ (ein Spitzname, der ihr „weniger gefällt“) bei der Sache, lässt sich auch nicht ablenken, als die Haushälterin den Tee serviert.
Denn jetzt sind wir bei ihrem zentralen Lebensthema: der Qualität der demoskopischen Forschung. Die Leistungsfähigkeit der Demoskopie illus-triert die Professorin gerne anhand einer Tabelle zum Thema „Auswirkungen von Arbeitslosigkeit“. „Mir ist die Entwicklung der Demoskopie so wichtig, weil man viele Vorhaben besser ausführt, wenn sie durch demoskopische Befunde unterstützt sind.“
Dieser Qualitätssicherung hat sie sich verschrieben, sieht sich nach jahrzehntelangem Ringen endlich kurz vor dem Ziel: Seit 2005 gibt es den ersten Lehrstuhl für Methodenfragen, an der Universität Konstanz. „Die Demoskopie in Deutschland steckt in einer ernsten Krise. Jeder Teppichboden wird sorgfältiger auf Qualität geprüft. Eine richtige Nutzung der Leistungsfähigkeit von Demoskopie werden wir erst haben, wenn die Demoskopie an den Universitäten als Lehrfach nahezu allgemein eingeführt ist. Von den Chirurgen kann man einen Modellfall holen: Nur ein Chirurg, der nachweisen kann, dass er weitgehend selbstständig fünfzig Operationen durchgeführt hat, darf sich Chirurg nennen. Doch für die Qualität der Umfrage interessieren sich die Auftraggeber nicht. Die Medien riskieren ja nichts, wenn die Ergebnisse nicht stimmen.
Hauptsache, es bringt Quote. In vielerlei Hinsicht war die Qualität der Demoskopie 1947 besser als jetzt.
Erstens werden Umfragen heute, statt nachhaltig, zu oberflächlich und billig produziert, weil die Auftraggeber den Unterhaltungswert erkannt haben und die Umfrageunternehmen gewinnorientiert statt fundiert arbeiten. Weder bei Emnid noch bei Forsa gibt es einen Mitarbeiter, der einen Vortrag an der Universität halten könnte. Und zweitens macht sich in der Demoskopie immer mehr eine politische Orientierung bemerkbar – deshalb weichen die Ergebnisse der Wahlprognosen immer häufiger so grotesk voneinander ab.“ Ein Kanzlerflüsterer wie Forsa-Chef Manfred Güllner bei Schröder hätte sie trotz aller Nähe zu Kohl niemals sein mögen. Dabei ist sie stets ein politisch denkender Mensch gewesen. Ihre Kanzlerprognose? „Frau Merkel kann Kanzler werden. 43 Prozent der Befragten sagen das, 42 Prozent meinen nein. Mich hat überrascht, wie kraftvoll sie den Übergang von Kohl bewältigt hat. Schröder dagegen sind die Menschen leid. Ich traue Merkel einiges zu. Trotzdem, sie persönlich kennen zu lernen, würde mich gar nicht interessieren.“ Ihre Meinung hat die „Sphinx vom Bodensee“ stets sehr klar gesagt, dabei das Institut für Demoskopie Allensbach kontinuierlich auf die Forschung ausgerichtet „und nicht aufs Geschäft, was ich durch die Umwandlung in eine Stiftung auch sichern wollte. Es gibt in meinem Gewerbe ja leider zu viele, die auf den schnellen Profit ausgerichtet sind“.
Solange die Grande Dame der Meinungsforschung sich ärgert, wird sie weiterarbeiten, und das bedeutet bei ihr weiterleben.
Mitten in der Nacht, so gegen zwei Uhr, unterbricht sie ihren Schlaf kurz, macht einige Minuten Gymnastik und einige Notizen, die dann am Vormittag in ihre Arbeit einfließen sollen. In einem Dutzend alter Lederaktentaschen sammelt sie diese unfertigen Arbeiten, nebenan im Zimmer zum See, das überquillt von Akten, Büchern und persönlichen Erinnerungen. Dort hängt auch das Porträt der Mutter. „Schade, dass Töchter immer weniger hübsch sind als ihre Mütter, hat mir ein Freund einmal gesagt. Das hat mich sehr gekränkt“, erzählt Elisabeth Noelle mit einem ungewohnten Anflug von Koketterie, während wir an einer Gesamtausgabe von Casanova vorübergehen. Sie steht auf einem Kachelofen, den die Büste Nofretetes krönt, eine Reminiszenz auch an ihren Mann, Physik-Professor Maier-Leibnitz, den sie zwar bei dessen erster Frau beerdigt hat („Sie hatten zusammen Kinder, da erschien mir dies nur fair“), ihn aber wie einen „ägyptischen Priester“ liebte, der ihr in Seelenwanderung geschickt worden sei.
Das ist das dritte, nun wirklich verblüffende Thema im Leben der Herrscherin über Zahlen, Daten, Fakten: das Prinzip des Irrationalen. Die Zahlenmystik ist eines davon. Nicht umsonst tragen die Firmenautos der am 19. Dezember 1916 geborenen Institutsgründerin die Nummer 19. Ihr Leben sei von vielen irrationalen Begegnungen geprägt gewesen: Erstmals sei ihr im Alter von fünf Jahren in gleißend hellem Licht ein Engel im Schlafzimmer erschienen.
Dann immer wieder. Zwanzig Bücher hat sie über Engel gelesen. „Eine Umfrage, die ich wirklich noch gerne machen würde, ist die über „Träume und Engel“. Ich glaube an die Rückwendung zum Religiösen. Das Rationale haben wir so weit wie möglich ausgetestet. Irrationale Suchstrategien erweitern unser Denken. Ich liebe den Halbschlaf. Um ihn zu erleben, muss man sehr ausgiebig schlafen. Wer nicht ordentlich schläft, verdirbt sich das gesamte Lebensglück.“ Ihr persönliches Resümée: Ja, sie habe ein sehr sinnerfülltes Leben gehabt. Aber: „Als glücklich würde ich mich sicher nicht bezeichnen. Vor zehn Jahren, ja, heute nicht mehr. Warum? Mich interessiert Glück nicht mehr.“
Weil die große Forscherin Dinge aber nicht dem Zufall überlassen will, hat sie die eigene Beerdigung schon geplant. Der Tübinger Theologie-Professor Eberhard Jüngel soll sie leiten, und auch die Stelle, an der sie einmal ruhen wird, kennt sie schon. Der Bürgermeister Allensbachs, der kleinen Gemeinde, die durch Elisabeth Noelle zu weltweitem Ruhm gelangte, hat seiner Ehrenbürgerin auf dem Friedhof schon eine Bank auf jenen Platz gestellt. „Der Ort gefällt mir. Am Rand und doch dabei.“
Angst vor dem Tod? Nein, die hat sie nicht. „Es gibt ein Leben danach. Davon bin ich fest überzeugt. Wenn man sich im Leben so viel Mühe wie möglich gegeben hat, wird es recht schön sein.“ Doch davor hat die Bundesverdienstkreuzträgerin ja noch einiges zu erforschen. Ob Frauen die besseren Demoskopen sind? „Dazu müsste man eine Umfrage machen.“
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