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Philip Hoare: „Der Wal” - Nennt mich Leviathan

Philip Hoare huldigt dem Wal – mit einer phantastischen Kultur-, Natur- und Liebesgeschichte

Autoreninfo

Person, Jutta

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Als der Sarg von John F. Kennedy zu Grabe gelassen wird, geht ein Geschenk seiner Witwe mit auf die letzte Reise: ein Walzahn mit Präsidentensiegel. Kennedy sammelte Scrimshaws, so heißen die kunstvoll verzierten Walzähne; die schönsten Stücke lagen auf dem Schreibtisch im Oval Office. Wale sind nicht nur gigantische Säugetiere, sie sind Jagdtrophäen, Nahrungslieferanten, schwimmende Fettcontainer, biblische Gestalten und Mythenträger. Vor allem aber sind sie perfekte Faszinationsfiguren, weil ihre schiere Größe sie in ein Zwischenreich jenseits aller Eindeutigkeiten zieht. Sie sind bedrohlich und begehrenswert, urtümlich kräftig und von riesenhafter Eleganz.

„Wale“, schreibt der britische Autor Philip Hoare in seiner Kulturgeschichte, „haben in ihrer Körperlichkeit etwas geradezu Übernatürliches“, sie sind „Tiere vor dem Sündenfall, von paradiesischer Unschuld“. Wer jetzt befürchtet, eine verklärte Wal-Romanze vor sich zu haben, kann sich beruhigen, denn dieser Autor hat auch eine humoristische Seite. Wale, verrät er gleich nach der Paradies-Stelle, „haben einen schlechten Atem und scheißen rötliches Wasser“. Und manchmal riechen sie nach Kuhfurz.

Philip Hoare ist ein hervorragender Stilist, dessen Bücher von W. G. Sebald gepriesen wurden; vor seiner Wal-Geschichte hat er über die britischen Exzentriker Stephen Tennant und Noel Coward sowie über das Militärgefängnis Spike Island geschrieben. Auch „Leviathan oder Der Wal“ lässt sich kaum in die gängige Non-Fiction-Schublade stecken, dafür ist der Ton zu persönlich und zu poetisch. Hoare berichtet von seinen Walträumen und von einer Unterwasserbegegnung vor den Azoren, die ihn verwandelt hat.

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Dies alles geschieht in schwungvollem Wechsel zwischen Kultur-, Natur-, Literatur- und Sozialgeschichte. ­Hoare ­erklärt, wie die Walfangflotten des ­­19. Jahrhunderts arbeiteten, wie Blau- und Pottwale heute leben, gruselt sich vor eingelegten Walföten und erweist sich als phantastischer Deuter des Buches der Bücher: „Moby Dick“. Ähnlich wie Ismael, Melvilles manischer Enzyklopädist, will Hoare die Magie dieses Tieres ergründen. „Der Walfang war der Wilde Westen des Meeres“, schreibt er über die industrielle Ausbeutung des Wals, die dem jungen Amerika eine Art Nationbuilding ermöglichte: Harpuniere waren die neuen Cowboys zu Wasser, und doch nur Sklaven des Maschinenzeitalters, das Walfett für seine Rädchen brauchte.

Philip Hoare: Leviathan oder Der Wal (Mare)Vor allem aber wirft Hoare einen erhellenden Blick auf den Wal als Männerphantasie. Der Wal „war selbst zum Phallus geworden, aber auch zum Spermatozoid, gigantisch und samenhaft zugleich.“ Der Wal als Spermium, das majestätisch die Meere durchpflügt – mit „Moby Dick“ schmiedet Melville nicht zuletzt einen Männerbund, der ihn im echten Leben mit Nathaniel Hawthorne, seinem Freund und Vorbild, verband. So sind beide Bücher – sowohl Melvilles als auch Hoares – letztlich Liebesgaben und, um mit dem größten amerikanischen Wal-Analytiker zu sprechen: ozeanische Träumereien.

Philip Hoare: Leviathan oder Der Wal. Aus dem Englischen von Hans-Ulrich Möhring. Mare, Hamburg 2012. 528 S., 26 €

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