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Joseph Ratzinger - Abschied eines seltsamen Heiligen

Er hat sie alle überrascht: Niemand rechnete damit, dass Benedikt XVI. zurücktreten würde. Abermals zeigt Joseph Ratzinger sich als Nonkonformist des Denkens und notorischer Querkopf. Was wird bleiben von einem Pontifikat der Widersprüche?

Alexander Kissler

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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in einem Rundfunkbeitrag machte sich der Theologe Joseph Ratzinger an Weihnachten 1969 Gedanken über die katholische Kirche im Jahre 2000. Er prophezeite eine geschrumpfte Herde, ohne den Schein von Komfort und Konvention. Eine neue Urzeit des Christentums sah er voraus. Die Kirche von morgen werde weder ihre Bauten noch ihre Privilegien halten können. Es werde eine verinnerlichte Kirche sein.Wie ein Fremdling hatte sich in diese sehr klare Rede sein liebster theologischer Gewährsmann eingeschlichen, der heilige Augustinus. „Noch immer“, sprach Joseph Ratzinger zu den Hörern des Hessischen Rundfunks, „noch immer gilt das Wort Augustins, der Mensch sei ein Abgrund. Was daraus aufsteigt, vermag niemand im Voraus zu überblicken.“

Es ist dieses Wort, auf das Benedikt XVI. gerne zurückkam und das er der eigenen Sprach- und Denkmelodie anverwandelte: „Der Mensch wird immer ein tiefes und unergründliches Rätsel bleiben.“ Nicht zuletzt für den Menschen Joseph Ratzinger gilt diese Conditio humana. Vertraute sprechen von einiger Delikatesse in der Kommunikation mit ihm, wo die indirekte der direkten Mitteilung vorgezogen wurde. Wer ein Anliegen umweglos ausspreche, der habe es mitunter schon verspielt. Als Georg Gänswein am 6. Januar in den Rang eines Erzbischofs erhoben wurde und tags darauf in der üblichen Kleidung des Monsignore erschien, ohne die Insignien des neuen Amtes, soll der Pontifex dazu geschwiegen haben. Erst am Abend übermittelten die Haushälterinnen dem neuen Bischof dezent einen Hinweis, die Kleiderordnung betreffend. So wird es kolportiert.

Aus welchem Abgrund aber ist die letztlich so rätselhafte Ankündigung des päpstlichen Rücktritts zum 28. Februar 2013 aufgestiegen? Warum will Joseph Ratzinger nicht mehr Stellvertreter sein? Sind es wirklich nur die schwindenden Körper- und Lebenskräfte in stürmischer Zeit, die er selbst anführte, „vigor quidam corporis et animae“? Ich sah ihn zuletzt im Sommer vergangenen Jahres in Castelgandolfo. Das kleine Städtchen oberhalb des Albaner Sees hatte sein schönstes Kleid übergeworfen. Oleander lag in der Luft. Nach dem sonntäglichen Angelus begrüßte der Pontifex eine kleine Schar in der ersten Etage. Ich sah den Stock an der Wand lehnen, sah die Hand, die sich abstützte, als er sich mir zuwandte. Schmal war er geworden im Gesicht, doch frisch wirkte er, hörte zu, verstand, fragte nach. Damals muss sein Entschluss schon gekeimt haben.

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Schließlich war 2012 auch das Jahr gewesen von „Vatileaks“. Seit Jahresbeginn wurden der Presse Briefe lanciert, die direkt vom Schreibtisch des Papstes stammten. Der Inhalt war eher banal, das Faktum erschütternd. Selbst seriöse Zeitungen schrieben, um Benedikts Leben werde gefürchtet. Sein Kampf gegen „klerikale Vertuschung“ habe sinistre Kräfte auf den Plan gerufen. Zieht man das übliche vatikanische Hexeneinmaleins ab, bleibt noch immer die verstörende Frage: Wie konnte es geschehen, dass alle einschließlich des Papstes blind waren für die Machenschaften des Kammerdieners Paolo Gabriele, der bald des Aktendiebstahls überführt und von Benedikt Ende 2012 begnadigt wurde?

Auf dem Höhepunkt der „Vatileaks“-Krise, im Mai 2012, erinnerte Benedikt daran, dass „unser Leben und unser Weg oft von Schwierigkeiten, von Unverständnis, von Leiden geprägt sind.“ Unmittelbar danach nahm er zu „Vatileaks“ Stellung, seinem persönlichen Leiderlebnis dieser Tage. Ende August 2012, in Castelgandolfo dann, predigte er über das Urbild sämtlicher Verräter, über Judas. Der untreue Apostel sei von Falschheit getrieben gewesen, „die das Zeichen des Teufels ist“: Ein ebensolcher Akt teuflischer Falschheit hatte sich gerade vor den Augen Benedikts ereignet – ein endzeitliches Zeichen. Es muss ihn auf das Höchste beunruhigt haben.

Das Denken Benedikts XVI. ruhte, wie bei jedem introvertierten Menschen, auf der Überzeugung, dass nur die Seele die Wahrheit über einen Menschen berge. Alles Sichtbare, wusste dieser Papst des Wortes, kann in die Irre führen, alles Geld, aller Erfolg, alle Technik, aller Applaus. „Von innen her“ war seine liebste Begriffsformel, „ohne Heilung der Seelen, ohne Heilung des Menschen von innen her kann es kein Heil für die Menschheit geben“. Ja, Benedikt war ein Mystiker auf dem Papstthron – Mystiker indes aus Einsicht, nicht aus Verzückung. Alles Charismatische blieb ihm suspekt. Der stete Blick nach innen aber war ihm Garant, dass der Mensch seine königliche Würde nicht verliert. Und nun hat auch der Mensch Joseph Ratzinger durch diesen Blick nach innen und nach oben die Erkenntnis gewonnen, dass es gut sei zu gehen: ein kühner, ein selbstbestimmter Akt. An keinem Tag war Joseph Ratzinger ein stärkerer Zeitgenosse der Moderne als an jenem 11. Februar 2013, da er seinen Rücktritt ankündigte.

In der Seele lauern indes auch Versuchungen. Es gibt keine makellose Zone, nicht im Verstand und nicht im Herzen. Gäbe es sie, dann bräuchten wir nur an das Gute zu appellieren, und alles käme ins Lot. Dann, sprach Benedikt im Februar 2009, „könnten wir gut vorankommen und die Menschheit reformieren. Aber dem ist nicht so: Der Verstand – auch unser Verstand – ist verdunkelt, das sehen wir jeden Tag. (…) Ohne das Licht des Glaubens, das in die Finsternis der Erbsünde eindringt, kann die Vernunft nicht vorankommen.“

nächste Seite: Benedikt war ein grüner Papst

Wie aber kommt die Vernunft, so verstanden, voran? Ausschließlich durch das „Wachstum des inneren Menschen“, das Benedikt in der Enzyklika „Spe salvi“ konturierte und auch in der vorletzten Generalaudienz am 13. Februar 2013. Sonst kann aller technische Fortschritt, da er von Menschen gemacht ist, eine Bedrohung werden. Benedikt war eben auch ein grüner Papst, man lese nur die dritte Enzyklika, „Caritas in veritate“, oder die Neujahrspredigt 2010: „Wenn der Mensch verkommt, verkommt die Umwelt, in der er lebt.“

Oft kritisierte Benedikt den „missbräuchlichen Umgang mit den Gütern der Natur“. Dahinter sah er den Siegeszug der utilitaristischen Logik: Alles muss größtmöglichen Nutzen erbringen. Demgegenüber soll eine ganzheitliche Umweltpolitik den Menschen als Teil der Umwelt mit einbegreifen. Neben globaler Solidarität, Armutsbekämpfung, Drosselung der Rüstungsausgaben, Konsumverzicht und einem schonenden Umgang mit allen Ressourcen, auch mit der Ressource Mensch, hat der klassische Umweltschutz an Dringlichkeit nicht eingebüßt. „Unsere Zukunft“, verkündete Benedikt, „steht heute mehr denn je auf dem Spiel, ja sogar das Schicksal unseres Planeten und seiner Bewohner.“ Es sei „notwendig, sich im Dialog mit den Christen der verschiedenen Konfessionen für die Bewahrung der Schöpfung einzusetzen und die natürlichen Ressourcen (…) solidarisch miteinander zu teilen“. Das Christentum schärft in dieser Sicht das Gewissen für einen verantwortungsvollen Umgang mit der Natur – auch mit der Natur des Menschen, weshalb die „Humanökologie“ Benedikts den Kampf gegen Armut und gegen Abtreibung zusammendenkt.

Begonnen hatte das Pontifikat im Zeichen der Liebe. Die erste Enzyklika, unterzeichnet an Weihnachten 2005, trug den Titel „Deus Caritas est“, „Gott ist (die) Liebe“. Benedikt nannte die Identifikation von Gott und Liebe „eine Botschaft von hoher Aktualität und von ganz praktischer Bedeutung“. In der Tat gibt es Gotteskrieger, die ihrem Glauben meinen Genüge zu tun, wenn sie Andersgläubige mit dem Tod bedrohen. Benedikt entgegnete: „Die beste Verteidigung Gottes und des Menschen besteht eben in der Liebe.“ Sie, die Himmelsmacht, soll die grundlegende Verkehrsform unter Menschen werden.

Die 24 Auslandsreisen boten reichlich Gelegenheit, die praktischen Konsequenzen einer solchen Liebesethik zu entfalten. Trotz oftmals schwieriger Ausgangsbedingungen war keine Reise vergeblich, viele gerieten zu Triumphzügen, etwa der Besuch Großbritanniens 2010. In den Wochen davor war der Eindruck entstanden, eine persona non grata mache sich auf den Weg, um die Macht zu usurpieren, ein Despot in roten Slippern. Kaum hatte der alte Herr das Flugzeug verlassen, schmolz das Eis des Missvergnügens. Massenhafte Spontanbekehrungen sind nicht überliefert, wohl aber zollte das Gastgeberland größten Respekt für die Lauterkeit der Botschaft.

Bereits beim Landeanflug auf Edinburgh wurde jene „Perversion des Priesteramts“ zum päpstlichen Thema, die in diesen Tagen das öffentliche Interesse bestimmte. Es sei, sagte Benedikt, „traurig, dass die Autorität der Kirche nicht wachsam genug war und nicht schnell und entschieden genug notwendige Maßnahmen ergriffen hat“. Der sexuelle Missbrauch Minderjähriger durch Kirchenangehörige verfolgte wie eine schwarze, dämonische Wolke dieses Pontifikat. Benedikts Null-Toleranz-Politik stieß nicht überall auf Gegenliebe.

Beim ökumenischen Abendgebet mit den Anglikanern forderte Benedikt einen Gehorsam gegenüber Gottes Wort, der „frei sein muss von intellektuellem Konformismus und bequemer Anpassung an den Zeitgeist“. Für Joseph Ratzinger war der Christ grundsätzlich Nonkonformist. Er verweigert sich den Moden der Zeit, kniet nur vor Gott. Deshalb konnte sich auch Benedikts Abgang nur auf maximal unkonventionelle Weise vollziehen – die Tradition musste hintanstehen, weil das Gewissen ihm diesen Schritt auferlegte.

Abermals zeigte er sich so als einer, der sich in kein Schema zwängen lässt. Kern von Benedikts Überlegungen in Westminster Hall, wie er sie ähnlich ein Jahr später im Deutschen Bundestag formulierte, war die Warnung vor einem bloß prozeduralen Demokratiebegriff. „Wenn die den demokratischen Abläufen zugrunde liegenden moralischen Prinzipien ihrerseits auf nichts Soliderem als dem gesellschaftlichen Konsens beruhen, dann wird die Schwäche dieser Abläufe allzu offensichtlich; darin liegt die wahre Herausforderung der Demokratie.“

Der Konsens kann eben heute diese, morgen jene Gestalt annehmen, ohne sich die Wahrheitsfrage und die Frage nach dem Guten je zu stellen. Aus diesem Grund brauche die bloße Vernunft die Korrekturfunktion der Religion und bedürfe die Religion „der reinigenden und strukturierenden Rolle der Vernunft“. Das eben ist eines der Hauptanliegen des Pontifikats gewesen: Vernunft und Religion so miteinander ins Gespräch zu bringen, dass die Wahrheitsfrage in der Gesellschaft virulent bleibt.

Danach nannte die Sunday Times Benedikt den „heiligen Großvater“. Seinen „großen moralischen Mut“, die Missbrauchsfälle anzusprechen, lobte der Sunday Telegraph. Der Independent resümierte: „Die hochumstrittene Reise ist besser, ja viel besser verlaufen, als zu erwarten war.“

nächste Seite: Plädoyer für die Schutzverantwortung

Neben den Reisen in katholisch geprägte Länder wie Polen, Spanien, Österreich, Portugal galt sein Augenmerk der Diaspora und den Krisenregionen. Die Treibhaustemperaturen in Kamerun und Angola oder die schwierigen Umstände in Benin rangen ihm keinen Seufzer ab. Ein schöner Lebensabend sieht anders aus.

Auch in Washington und New York gab der Missbrauchsskandal den traurigen Generalbass vor. „Es ist wichtiger, gute Priester zu haben als viele Priester“, sagte Benedikt. Mit dem Plädoyer für die sogenannte Schutzverantwortung setzte er einen weltweit beachteten Akzent vor den Vereinten Nationen. Die Botschaft der Rede am 18. April 2008 lautete: Wo die Menschenrechte dauerhaft missachtet werden, darf, ja muss die Staatengemeinschaft intervenieren.

Der SPD-Außenpolitiker Gernot Erler traut der Rede eine gewaltige Langzeitwirkung zu. Der Papst habe „das Schutzverantwortungs-Konzept aus der Indifferenz als irgendein Projekt unter vielen herausgelöst, hat es ideengeschichtlich positiv verankert und quasi geadelt. Zweifellos eine (…) überraschend eindeutige Parteinahme. Eine, die ihre politische Wirkungsentfaltung noch vor sich hat. Alles andere wäre eine Überraschung.“ Die New York Post kreierte nach der Reise die poptaugliche Zeile: „What a hit, what a trip, what a triumph!“

Als Benedikt im Mai 2009 das Heilige Land besuchte, wollte er „die Orte, wo Jesus lebte und die er durch seine Gegenwart geheiligt hat, berühren, an ihnen Trost schöpfen und sie verehren“. Unpolitischer, innerlicher geht es kaum. Weil im Heiligen Land aber alles Politik wird, blieb die weltliche Dimension nicht ausgespart. Nach der Ankunft in Tel Aviv nannte er die „hässliche Fratze des Antisemitismus (…) völlig inakzeptabel“. In Yad ­Vashem rief er: „Mögen die Namen dieser Opfer niemals vergehen! Möge ihr Leid nie geleugnet, herabgesetzt oder vergessen werden!“ Wer den Holocaust relativiert, kann kein guter Christ sein. Benedikt vertrat die Theologie des einen Bundes, den Gott mit Juden und Christen gleichermaßen geschlossen habe. Darum ist es glaubhaft, wenn er nach dem „Fall Williamson“ erklärte, bei Kenntnis von dessen Holocaust-Leugnung hätte er die Exkommunikation nicht aufgehoben.

Noch heute klingt den hiesigen Katholiken die Standpauke in den Ohren, die Benedikt ihnen 2011 in Freiburg erteilte: Entweltlicht euch, um weltoffen zu werden! Haltet die Kirche nicht für einen Sozialverein mit angeschlossener Immobilienverwaltung! Aus seiner Zeit als Münchner Erzbischof ist das Bonmot überliefert, das größte Problem der Kirche in Deutschland sei ihr vieles Geld. Auch deshalb fand er in Freiburg erstaunlich freundliche Worte für die Laizisten des 19. Jahrhunderts, die einer satten Kirche jene Macht aus der Hand schlugen, die selbst abzugeben sie zu feist geworden war. Ein Menetekel könne das sein für das 21. Jahrhundert, deutete Benedikt an: Kirche von Deutschland, werde bescheiden, gebe Macht und Besitz ab, entdecke die Armut Christi, ehe Kirchenfeinde dieses Geschäft übernehmen.

Zu seinem 85. Geburtstag im vergangenen April bekannte Benedikt, er wisse nicht, „was mir verhängt sein wird“. Die Wortwahl befremdete. Sah der Papst ein Fatum über sich walten? Er stehe nun vor der letzten Wegstrecke seines Lebens, aber Gottes Güte sei „stärker als alles Böse dieser Welt. Und das lässt mich in Gewissheit weitergehen.“ Ebendiesen Weg hat Joseph Ratzinger nun abgebrochen. Er wird die Tradition beiseitelegen, vom Papstthron herabsteigen, den Ring des Fischers vom Finger nehmen und sich ins Schweigen zurückziehen. Er macht die Person hinter dem Amt sichtbar wie kein Papst vor ihm, indem er sich als Person durchstreicht. Welche Lehren werden seine Nachfolger daraus ziehen? Hat Benedikt XVI. einen Präzedenzfall geschaffen, der die päpstlichen Spielräume einengt oder weitet? Vielleicht wird der angekündigte Rücktritt die Kirche stärker umgestalten als alle anderen Maßnahmen und Initiativen dieses Pontifikats.

Vielleicht aber dachte Benedikt bei dieser einzigartigen Demission an „einen der seltsamsten Heiligen der Kirchengeschichte“, Benedikt Joseph Labre, den Heiligen seines Geburtstags, von dem er ebenfalls am 16. April 2012 sprach. Dieser Benedikt, ein Bettlerpilger des 18. Jahrhunderts, war „ein Heiliger der Unbedürftigkeit, der mit nichts stirbt und doch mit allem gesegnet ist“. So soll es nun wohl auch dem Mann der Moderne geschehen, der einmal Benedikt XVI. gewesen ist. 

Von Alexander Kissler ist soeben erschienen: „Papst im Widerspruch. Benedikt XVI. und seine Kirche 2005-2013“ (Pattloch).

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