- Verantwortung versus Trotzphase
Kolumne: Stadt, Land, Flucht. Verantwortung übernehmen ist einer der Eckpfeiler unserer guten Erziehung. Wieso bloß schmeißen wir die über Bord, jetzt da sie – in Zeiten der Flüchtlingskrise – besonders gefragt ist?
Neulich zogen vier Kinder an einem Seil, zwei auf der einen, zwei auf der anderen Seite. Die Umstehenden feuerten sie an, als sich plötzlich eines der Mädchen löste und den Gegenüberstehenden zu Hilfe sprang. Daraufhin purzelten alle durcheinander. Die Zuschauer waren verblüfft. Mit diesem Regelbruch hatte niemand gerechnet.
Schon früh versuchen wir den Kindern beizubringen, Verantwortung zu übernehmen. Im ersten Satz unseres Grundgesetzes haben wir das Bewusstsein unserer „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ verankert. Nicht nur beim Tauziehen müssen sich alle mitverantwortlich fühlen, damit aus leeren Worten ein funktionierendes Miteinander wird. Wenn einer aussteigt, verschiebt sich das Gleichgewicht.
An beiden Seiten des Seils
Auch unser gesellschaftliches Band ist derzeit zum Zerreißen gespannt. Laut Politbarometer steht es fünfzig-fünfzig für Merkels Flüchtlingspolitik. Etwas mehr als die Hälfte der Deutschen glaubt mittlerweile nicht mehr, dass die Integration der Flüchtlinge funktionieren kann. Wir ziehen mit etwa gleichen Kräften an beiden Seiten eines Seils und kommen nicht von der Stelle. Auch die Argumente sind weitgehend austariert.
Eine Obergrenze ist nicht mit dem Grundgesetz vereinbar? Wir finden auf beiden Seiten Zeugen, die das Gegenteil beglaubigen. Die Bundesregierung rechne, so zitierte die Süddeutsche Zeitung diese Woche aus einer internen Berechnung des Wirtschaftsministeriums, bis zum Jahr 2020 mit 3,6 Millionen Flüchtlingen, die insgesamt nach Deutschland kommen. Aber was bedeutet diese Zahl? Analysen finden sich viele – stellvertretend für beide Seiten.
Wie geht das Flüchtlingsmärchen aus?
Es geht schon lange nicht mehr um Fakten in dieser Debatte. All die Aufrufe im Internet, die Kommentare und Leitartikel transportieren nur noch moralisierende Einstellungen, unterschiedliche Weltsichten. Weil keiner von uns wirklich weiß, wie das Flüchtlingsmärchen ausgeht, werden Tatsachen lediglich dafür herangezogen, um das eigene Orakel zu unterfüttern.
Wir hatten uns in guten Zeiten dafür entschieden, uns für die Welt mitverantwortlich zu fühlen. Wir haben dies gelebt in der Finanzkrise und wir leben es in der globalen Klimapolitik. Weil es nicht anders geht. Wie nur können wir nun ernsthaft daran denken, unsere Köpfe zu senken und flehende Kinderaugen an den Grenzen als Erpressung abzutun, der es zu widerstehen gilt?
Ganz wie es ihre Zuschreibung will, hat Mutti Merkel mit ihrem „Wir schaffen das!“ keine Prophezeiung, kein Orakel abgegeben. Es war eine Geste, wie sie im menschlichen Miteinander täglich genutzt wird. Wie der Versuch eines Vaters oder einer Mutter, den Kindern Vertrauen zu schenken in einer Situation, die ihnen Angst macht. Denn wer glaubt schon, dass unsere trockene Protestantin wahrhaftig Versprechungen dieser Art abgibt?
Geteilte Republik
Die Flüchtlingskrise teilt unsere Republik in jene, die Verantwortung übernehmen und jene, die sich maßlos ärgern, die sich überrannt fühlen, die Angst haben, die sich gehen lassen. Alles weinerliche Klagen darüber, dass Merkel uns im Stich gelassen habe, gleicht Kinderstimmen, die ihre eigene Verantwortung abwälzen. Frei nach dem Trotzphasenmotto: „Du bist schuld, wenn ich jetzt traurig bin!“
Man kann das emotionale Erpressung nennen. Wer sich entschieden hat, der Starke in einer Beziehung zu sein, derjenige, der verantwortlich führt, muss wohl aushalten, dass er beschimpft wird. Als Bestätigung hilft ihm vielleicht der Blick ins Grundgesetz. Dort steht in dem bereits zitierten Passus: „Von dem Willen beseelt [...] dem Frieden der Welt zu dienen“. Da steht nicht: dem Frieden vor der eigenen Haustür zu dienen.
Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.