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Sehnsucht nach dem überschaubaren Leben - Der Heimeligkeitsvirus

Die Politik ist von den Umbrüchen der vergangenen Jahrzehnte überrollt worden. Statt sich neu aufzustellen, flüchtete sie sich in Sprachlosigkeit und lässt viel Raum für die einfache Sehnsucht nach Ordnung und Identität. Doch es hilft nichts, sich der Welt zu verweigern

Autoreninfo

Johannes von Dohnanyi besuchte die Odenwaldschule in den 60er Jahren. Als Auslandskorrespondent arbeitete er für den Stern, die Zeit und die ARD

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Es war in Singapur im Sommer 1990, als sich zwei junge Männer auf schwer beladenen und mit deutschen Wimpeln geschmückten Fahrrädern die sanfte Steigung hinauf zur deutschen Schule quälten. In einem Vorort von Leipzig waren sie aufgebrochen, nur Wochen nach dem Mauerfall: Radelnd bis an die südlichste Spitze der malaiischen Halbinsel. Next stop China, erzählten die beiden beim Abendessen. Weiter in die USA. Doch dann – zurück. Denn „unser Essen, unsere Sprache, unsere Freunde – alles fehlt. Je weiter weg von zu Hause wir sind, umso größer das Heimweh. Nach Deutschland.“

Was damals nach weltunerfahren-spießigem und damit peinlichem Gefühlsgrummeln klang, rumort inzwischen in vielen Ecken Europas. Nach mehreren Erweiterungen ist das „gemeinsame europäische Haus“ den Menschen fremd geworden. Weder ökonomische Notwendigkeiten noch politische Argumente zählen, wo die Sehnsucht nach überschaubaren und in ihren Sitten und Traditionen vertrauten Lebensräumen ins Spiel kommt. „Wir können global kommunizieren und reisen“, beschreibt es der deutsche Philosoph Rüdiger Safranski: „Wohnen können wir nur hier oder dort, aber nicht überall zugleich.“

Die Welt – ein globales Dorf
 

Das Treffen in Singapur fiel in eine Zeit großer Umbrüche. Der Eiserne Vorhang war kaum gefallen, da pochten schon die ersten osteuropäischen Länder an die Tür der Europäischen Gemeinschaft. Die asiatischen Tigerstaaten drängten auf die Weltmärkte. Im Süden Chinas entstanden die ersten Sonderwirtschaftszonen. Das Schlagwort von der Globalisierung war zwar schon in den 1960er Jahren geprägt worden. Jetzt erst aber, mit der digitalen Revolution, konnte aus der Welt ein globales Dorf werden.

Die globalisierte Ökonomie, so die Vision, würde nicht aufzuhalten sein. Die Fesseln der noch immer von nationalen Interessen definierten Politik würden gesprengt werden. Der Traum einer von den Märkten erzwungenen gerechteren Welt, ohne Hunger und Armut, machte sich breit: Am egalitär-digitalen Wesen von Microsoft, Apple & Co würde die Welt genesen…

Sprachlosigkeit der Politik
 

Heute wissen wir: Es ist anders gekommen. Zwar werden Finanztransaktionen im Millisekundentakt rund um den Tag und rund um den Globus getätigt. Die Lenker der Weltkonzerne gebieten, Spaniens Karl V. im 16. Jahrhundert ähnlich, über Produktions- und Absatzreiche, in denen die Sonne niemals untergeht. Doch die Politik ist dieser Entwicklung nicht nur nicht gefolgt. Es hat ihr, zumindest in den auf Dialog basierenden westlichen Demokratien, im wahrsten Sinn des Wortes die Sprache verschlagen.

Das Resultat ist dramatisch. Von ihren politischen Erklärern und Mediatoren im Stich gelassen, haben die Menschen den Visionären der „heilsamen“ Globalisierung die Gefolgschaft verweigert. So gerne sie Urlaub in Thailand oder auf den Seychellen machen – rastlos unverortete Weltbürger wollen sie nicht sein. Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts leben, arbeiten und sterben vier von fünf Deutschen noch immer nur wenige Kilometer von ihrem Geburtsort entfernt. Je größer der verfügbare geographische und kulturelle Raum, umso größer wird die Sehnsucht nach der Bewahrung des eigenen „zu Hause“, nach längst überholt geglaubten Traditionen und Werten.

Europa als Zwangsjacke
 

Um solche Heimat ging es, als sich die Mehrheit der Katalanen jüngst in einer unbestreitbar demokratischen Wahl für den Ausstieg aus dem spanischen Nationalstaat und damit gegen die gültige Verfassung entschied.

Um Selbstbestimmung im eigenen Lebensraum geht es seit Jahren den Separatisten in Schottland, der italienischen Lega Nord und den belgischen Flamen. Aus Sorge um die eigene kulturelle Identität verweigerte die autonome Region Grönland der dänischen Zentralregierung die Gefolgschaft in den Regelwust der Europäischen Union. Um „sie selbst“ zu bleiben, zogen die Isländer erst in diesem Jahr den Mitgliedsantrag in die EU zurück.

Heimat als Gegenentwurf zu einem Europa, das zunehmend als Zwangsjacke empfunden wird, deren Fesseln alles lokal verwurzelte Leben zwischen Kiruna und Palermo auf europäisches Norm-Maß zurechtstutzen sollen.

Doch jetzt macht sich die ernüchternde Erkenntnis breit, dass es nichts hilft, sich „der Welt“ zu verweigern. „Die Welt“ tut das, was sie schon immer tat: Sie kommt. Auch gegen den Willen der Verweigerer.

Die Erkenntnis „All politics is local“ wird dem früheren Sprecher des US-Kongresses Tip O’Neill zugeschrieben: Wer es nicht schafft, eine aus nationalem Interesse oder durch äußere Bedingungen erzwungene Entscheidung der lokalen Wählerschaft einfach und verständlich zu erklären, wer unfähig ist, die positiven wie negativen Folgen dieser Entscheidung überzeugend und transparent zu vermitteln – der ist als Politiker zum Scheitern verurteilt.

Die Jagdgründe mit einfachen Lösungen lockender Rattenfänger werden umso größer, je weniger eine Gesellschaft sich in ihren diffusen Ängsten bei der Politik aufgehoben, sich von ihr verstanden fühlt. In den USA, begründet auf dem steten Zustrom von Einwanderern und damit dem permanenten demographischen Wandel, ist es die rechtspopulistische Tea Party, die den Republikanern eine so noch nie dagewesene fremdenfeindliche Ab- und Ausgrenzungsagenda aufzwingt.

Der Heimeligkeitsvirus
 

Und was die mexikanischen Einwanderer für die Tea Party, ist für Europa der anschwellende Flüchtlingsstrom aus den Krisengebieten Nordafrikas, Asiens und des Mittleren Ostens. Weil dessen Ursachen und Wirkungen von der Politik nicht frühzeitig und hinreichend erklärt wurden, haben sich die brandstiftenden rechten Gaukler und ihre populistische Claque zu ihren derzeitigen Flugjahren aufschwingen können.

Der von ihnen in die europäische Welt gesetzte Heimeligkeitsvirus machte sich unspektakulär schleichend breit. Er interpretierte die politische Sprachlosigkeit als hilflosen Rückzug und besetzte angebliche Freiräume. Perfide bediente er sich der verfassten Instrumente der demokratischen Partizipation und unterspülte mit seiner immanenten Ausgrenzung des Unbekannten bis hin zu offenem Fremdenhass und Rassismus die Fundamente des Projektes Europa.

Und so wuchs, mit Mottos wie „Fremd im eigenen Land“ oder „Neue Wohnungen statt neue Moscheen“ die offen ausländerfeindliche FPÖ am Tag der Katalonienwahl zur zweitstärksten Partei Österreichs. Und nur wegen der hilflosen Sprachlosigkeit und dem damit verbundenen Zickzack-Kurs in der europäischen Flüchtlingspolitik konnte der Natodraht-schwingende und von „völkischer Identität“ schwadronierende Ungar Viktor Orbàn zum Helden der europäischen Rechtspopulisten aufsteigen.

Helles Deutschland
 

Doch inzwischen entsteht eine Gegenbewegung. In ein „helles“ und ein „dunkles“ Deutschland hat Joachim Gauck das Land geteilt. Erstes Licht gibt es auch in Ungarn, Italien und Griechenland. Überall ist es die den europäischen Idealen verbundene Zivilgesellschaft, die sich wehrt. Großartiges leisten unzählige ehrenamtliche Helfer bei der Versorgung der vor Krieg und Not geflohenen Menschen.

Von ihnen angestoßen – und kaum noch erwartet – fasst endlich auch das politische Europa langsam wieder Tritt. Europäische Regeln werden, wo nötig, auch gegen die Blockierer beschlossen und durchgesetzt. Bundesregierung und Länder haben sich auf ein gemeinsames Vorgehen in der Bewältigung der über die Grenzen strömenden Massen geeinigt.

Auch wenn es ihren Gegnern, den Populisten und deren Anhängern nicht passt: Angela Merkel hat Leitplanken für die Aufnahme der Flüchtlinge, aber auch für deren Pflichten zur Integration gesetzt. Vor allem aber hat die Kanzlerin sich und die Politik mit wenigen klaren Sätzen aus der Sprachlosigkeit heraus - und wieder näher zu den Menschen geführt.

Dem „hellen Deutschland“ ist ein politisches Signalfeuer gesetzt worden – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ein Dialog hat begonnen.

Denn: „all politics is local!“

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