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Flüchtlingskrise - Europa muss in der Realität ankommen

Solange Europa nicht die Bürgerkriege des Nahen Ostens beendet, werden die Flüchtlingsträgodien nicht abreißen. Andrew Dension fordert ein stärkeres militärisches Eingreifen und – besonders von Deutschland – mehr Investitionen in die EU-Nachbarstaaten

Autoreninfo

Andrew Denison ist Direktor von Transatlantic Networks, ein Zentrum für politische Beratung und Bildung in Königswinter.

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Die Wellen der Vertriebenen schlagen heftig an die Ufer Europas in diesem traurigen Sommer der ertrinkenden Flüchtlinge. Seit den Balkankriegen – so glaubten manche Europäer – gehören solche Katastrophen Europas Vergangenheit an, nicht seiner Zukunft. Wie bei den Balkenkriegen schämt sich Europa vor seiner Machtlosigkeit. Wie bei den Balkankriegen bleibt das alte Credo „nie wieder!“ vergessen.

Wie damals, kurz nach der Wiedervereinigung, als von vier Millionen Bosniern und zwei Million Kosovaren fast 200.000 ihr Leben verloren, ist unklar, wie die europäischen Völker dazu zu bringen sind, die Lasten zu teilen oder die Last überhaupt zu tragen. Die europäische Geschichte sollte uns lehren, dass Frieden und Wohlstand auf der westlichen Halbinsel des asiatischen Kontinents teuer sind - viel teurer als viele Europäer nach dem Ende des Kalten Krieges geglaubt haben.

Europa muss selbst aktiv werden
 

Die Währungsunion macht reich und frei, doch die Reichen und Freien wollen keine EU-Fiskalpolitik bezahlen, auch keine europäische Versicherung der Eurokonten der 19 Euroländer. Schengen macht reich und frei, doch man will keine europäische Polizei und keine europäische Einwanderungspolitik. Europa als „Global Player“ macht reich und frei, doch man will die Verteidigung weder bezahlen noch europäisieren.

Die europäischen Nationen müssen sich zusammenreißen. Es ist höchste Zeit, in die Nachhaltigkeit und den Schutz des Erreichten zu investieren. Diese alten europäischen Nationen haben sich daran gewöhnt, dass Amerika für die Sicherheit der Grenzen und Märkte sorgt. Europas langfristige Grenzen und Märkte liegen aber in Asien, wo Amerika zunehmend engagiert ist. Bevor Europa aber Richtung Asien schaut, müssen die reichen, westeuropäischen Staaten der europäischen Nachbarschaft, dem Rest-Europa, auf die Beine helfen.

Für Amerika ist die Sicherheit, die Freiheit und der Wohlstand Europas von allergrößtem Interesse. Es braucht einen einen starken, geeinten und verantwortungsbewussten Partner an seiner Seite - vor allem, um die Herausforderungen in Asien zu meistern.

Westeuropa steht vor einer Jahrhundertaufgabe
 

Amerikas Wende nach Asien ist in Europas Interesse, schon aus umweltpolitischen Gründen, wenn nicht geostrategischen. Dafür müssen die reichen Staaten Westeuropas für den Frieden und Wohlstand Rest-Europas sorgen. Und dieses Rest-Europa wird größer: Zunehmend reicht es von Moskau und Minsk, Kiew und Tiflis bis Ankara, Tel Aviv, Damaskus, Teheran, Bagdad, Riyad, Kairo, Tripoli, Tunis, Algier und Rabat. Herrscht im Rest-Europa Bürgerkrieg (zwischen Europäern und Anti-Europäern) gibt es keine Ruhe. Und auch kein Ende der Flüchtlingstragödien.

Die europäischen Staaten müssen viel mehr Geld in ihre eigene Zukunft und die der Nachbarn investieren. Sie müssen weiter und breiter denken. Westeuropa steht vor einer Jahrhundertaufgabe. Ist es stark genug, um für Sicherheit, Freiheit und Wohlstand in Rest-Europa zu sorgen? Eins ist klar. Die umliegenden Bürgerkriege werden so lange Auswirkungen auf Europa haben, bis die Europäer diese Bürgerkriege schlichten, auch, um für mehr Rechtstaatlichkeit und weniger Gewalt, mehr Transparenz und weniger Korruption, mehr Möglichkeiten für Frauen und Mädchen und weniger Misogynie, mehr Schulen und weniger Moscheen zu sorgen.

Die ehemaligen europäischen Kolonien, die Nachfolgestaaten der osmanischen und sowjetischen Reiche, können sich selbst kaum regieren. Verzweifelt suchen die Machthaber und Milizen von Moskau bis zum Maghreb nach allerlei Sündenbocken, mal sind es Juden oder Christen, mal Amerikaner oder Europäer, immer die vermuteten Kollaborateure aus den eigenen Reihen.

Eine Generationsaufgabe steht Europa bevor und sie ist so wichtig wie der Wiederaufbau und die europäische Osterweiterung nach Ende der Sowjetbesatzung. Die Regierungsfähigkeit und ein Machtmonopol in Rest-Europa aufzubauen ist schwer, langwierig und sehr, sehr teuer.

Die Europäer müssen viel mehr in humanitäre Hilfe investieren, auch in langfristige Perspektiven für die vielen Flüchtlinge. Wird ihnen das Recht zu arbeiten verweigert, können sie weder sich selbst noch anderen helfen. Können sie hier aber etwas verdienen, dann könnten sie das Kapital für den Wiederaufbau in Rest-Europa miterarbeiten. Mehr noch, die Demographie zeigt, dass das alte, reiche, westliche Kleineuropa die Jugend der Mittelmeeranrainer braucht.

Die NATO muss in die Bürgerkriege im Nahen Osten eingreifen
 

Gleichzeitig müssen wir zu uns selbst ehrlich sein: Werden die Bürgerkriege des Nahen Ostens nicht vom reichen Westen beendet, werden sie sich weiter ausbreiten - auch nach Europa. Konkreter gesagt: Es ist kaum vorstellbar, dass diese Bürgerkriege ohne NATO-Bodentruppen aufhören werden. Das haben wir auf dem Balkan gelernt. Rechnet man nach der Formel für Bosnien und Kosovo, braucht man einen NATO-Soldaten für 70 Einheimische. Für Syrien bedeutet das bis zu 330.000 Truppen, für Libyen bis zu 85.000. Hierfür leisten sich die EU-Staaten in ihren 28 Militärs fast 1,5 Millionen Soldaten.

Zurzeit gibt der Durchschnitts-Amerikaner viermal so viel wie der Durchschnitts-Deutsche fürs Militär aus, zwanzigmal so viel für Aufklärung und Cybersicherheit und doppelt so viel für staatliche Entwicklungshilfe und Diplomatie. Darüber hinaus: Dem Prinzip „Trade not Aid“ folgend kauft Amerika 2,6 Prozent mehr aus der Welt ein als es verkauft. Das addiert sich auf 406 Milliarden Dollar. Deutschland dagegen verkauft 7,4 Prozent mehr an die Welt als es einkauft. Deutschland verdient also im Jahr über 283 Milliarden mehr am Ausland als das Ausland an Deutschland verdient.

Deutschland muss mehr ausgeben als es einnimmt
 

Langfristig kann Europa nur überleben, wenn die Deutschen mehr in Griechenland und Resteuropa ausgeben als sie dort verdienen. Das war die Lehre aus Amerikas Rolle beim Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine größere Inflation und schnelleres Wachstum könnten diese doch sehr problematischen deutschen Leistungsbilanz-Überschüsse abbauen. Mehr Konsum und weniger Sparen, eine größere Freiheit der Arbeitsmärkte und ein steigender Anteil der arbeitenden Bevölkerung wären ebenfalls hilfreich. Schnelleres Wirtschaftswachstum in Deutschland ist geostrategisch notwendig. Das Schicksal Resteuropas hängt davon ab.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich die Europäer, ob als Union oder als alte Vaterländer, in dieser gefährlichen Nachbarschaft selber langfristig und nachhaltig schützen können, ohne mindestens so viel in Verteidigung, Diplomatie und Entwicklungshilfe zu investieren wie die von zwei Weltmeeren geschützten Amerikaner.

Die Flüchtlinge müssen großherzig gerettet werden, wie damals, nach dem Zweiten Weltkrieg. Die hunderttausend Tragödien werden schnell zu Millionen von Tragödien anwachsen, wenn die Bürgerkriege der Mittelmeeranrainer nicht von außen, vor allem von den Europäern beendet werden. Und das kostet Geld und einen langen Atem.

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