Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
picture alliance

Ex-Justizminister der Niederlande: - Mehr Flüchtlinge einbürgern

Viele Flüchtlinge, die sich gut integriert haben, gelten auch nach Jahren nicht als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft. Der frühere niederländische Justizminister Hirsch Ballin fordert daher einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung

Autoreninfo

Alexander Wragge seit Ende 2016 Redakteur und Koordinator der Initiative Offene Gesellschaft, und war zuvor als freier Journalist und als Redakteur des Diskussions-Netzwerks Publixphere tätig.

So erreichen Sie Alexander Wragge:

Prof. Dr. Ernst M. H. Hirsch Ballin ist Professor für Verfassungsrecht und Menschenrechte. Er war als Christdemokrat dreimal Regierungsmitglied in den Niederlanden, unter anderem Innen- und Justizminister.

Cicero: Als niederländischer Justizminister haben Sie 1990 das Dubliner Übereinkommen mitunterzeichnet. Flüchtlinge müssen demnach dort Asyl beantragen, wo sie in die EU einreisen. Angesichts der vielen Menschen, die aktuell über das Mittelmeer in die EU fliehen, stellt sich die Frage, ob Länder wie Griechenland und Italien das noch bewältigen können. Ist das Dublin-Verfahren in der heutigen Form gescheitert?
Hirsch Ballin: Nein, Scheitern ist ein viel zu großes Wort. Richtig ist, wir hatten 1990 andere Zeiten. Das war kurz nach der Wende, vor 25 Jahren. Es gab Migration aus dem Nahen Osten und Afrika, aber nicht in dem Ausmaß. Wir standen vor der Situation, dass Asylbewerber ihren Antrag in einigen bevorzugten Aufnahmeländern in der EU stellten. Eigentlich war das Dublin-Verfahren der erste Schritt, die Asylpolitik in der EU zu harmonisieren und die Aufgaben gerecht zu verteilen. Die EU sollte schrittweise ein kohärentes, einheitliches System bekommen. Dieses Projekt ist nicht gescheitert, aber es ist unvollständig.

NGOs kritisieren unhaltbare Zustände in griechischen Flüchtlingslagern. Italienische Behörden scheinen manchen Flüchtling mehr oder minder offiziell nach Nordeuropa weiterzuschicken...
Wir haben mehrere Herausforderungen. Wir müssen die EU-Länder an den Grenzen unterstützen, bei der Grenzkontrolle, der Seenotrettung und den Asylverfahren. Wir sehen, dass viele Menschen sich in Italien und Griechenland gar nicht als Asylbewerber registrieren, sondern weiterreisen. Das ist angesichts der heutigen Umstände dort auch verständlich. Auf der anderen Seite haben wir Mitgliedsländer, die überdurchschnittlich viele Asylverfahren abwickeln. Auch Deutschland gehört dazu. Dann gibt es Mitgliedsländer, die sich überhaupt nicht beteiligen. Langfristig geht das so nicht weiter.

Die EU-Kommission schlägt vor, einen neuen Verteilungsmechanismus für Asylsuchende innerhalb der EU einzuführen. Der soll immer dann greifen, wenn in einem EU-Land auf einen Schlag sehr viele Flüchtlinge eintreffen. Allerdings wehren sich dem Vernehmen nach Ungarn, Tschechien, die Slowakei und die baltischen Staaten gegen die Umverteilung...
Wir brauchen mehr europäische Kooperation, mehr europäischen Geist in dieser Frage. Anders wird es nicht gehen. Die Vorschläge der EU-Kommission sind aktuell das Bestmögliche. Was mir noch etwas fehlt, ist der Blick auf die Asyl-Standards und die Integration in den EU-Staaten. Anträge werden von Land zu Land unterschiedlich behandelt. Das Niveau bei der Unterbringung und der Versorgung unterscheidet sich dramatisch. Die Aussicht auf Integration ist sehr verschieden. Es gibt Länder wie Ungarn, wo die Stimmung noch klar ausländerfeindlich ist, wo wir uns fragen müssen, ob dort Flüchtlinge überhaupt ein neues Leben aufbauen können. So lange das so ist, werden die Menschen immer versuchen, in das EU-Land zu gehen, in dem sie – nach einem erfolgreichen Asylantrag – eine deutlich bessere Zukunft für sich sehen.

Auch Deutschlands Entwicklung zur Einwanderungsgesellschaft hat Jahrzehnte gedauert. Müssen wir mit den ehemaligen Ostblock-Staaten wie Ungarn nicht mehr Geduld haben?
Natürlich kann die EU-Kommission Ungarn, der Slowakei und Rumänien nicht einfach nur sagen: „Nehmt mehr Flüchtlinge auf.“ Wir müssen uns viel mehr mit dem gelingenden Zusammenleben und der Integration vor Ort befassen. Das ist der fehlende Baustein der EU-Asylpolitik. Ein gesellschaftlicher Wandel vollzieht sich nicht über Nacht. Aber die Europäische Union gründet sich nun einmal auf der Wahrung der Menschenrechte, auch für Minderheiten. Pluralismus, Nichtdiskriminierung und Toleranz sind unsere gemeinsamen Werte, die von allen einzuhalten sind.

Die neue Umverteilung könnte Flüchtlingen auch einen legalen Weg über Italien nach Großbritannien eröffnen. Die britische Innenministerin Theresa May warnt bereits davor, noch mehr Menschen dazu zu ermuntern, die lebensgefährlichen Reisen in die EU auf sich zu nehmen...
Die Sorge vor dieser Magnetwirkung, den sogenannten Pull-Faktoren, ist so alt wie die Asyldebatte selbst. Sie wird überall in Europa formuliert, auch in Deutschland und in den Niederlanden. Ob es diese Pull-Faktoren aber wirklich gibt, wissen wir gar nicht. Wenn wir sagen würden, „Wir machen alle Grenzen auf und alle dürfen kommen“, wäre das natürlich ein Anreiz. Aber das fordert und befürwortet niemand. Auch bei einer Umverteilung innerhalb der EU müssen alle Flüchtlinge das Aufnahmeverfahren erfolgreich absolvieren. Und über wen reden wir? Menschen, in deren Herkunftsländern schreckliche Kriege herrschen, Menschen, die verfolgt werden, brauchen keine Pull-Faktoren, um für sich und ihre Kinder nach einer sicheren Zukunft zu suchen.

Die EU-Staaten haben sich rechtlich darauf verpflichtet, Menschen unter bestimmten Bedingungen Schutz und Asyl zu gewähren. Doch muss angesichts der vielen Millionen Flüchtlinge weltweit nicht nüchtern festgestellt werden: die EU kann gar nicht alle Schutzberechtigten aufnehmen?
Politiker sagen gern, dass sie eine Lösung für alle Probleme haben. In der Flucht- und Migrationsdebatte müssen wir uns von diesem Anspruch verabschieden. Es gibt keine abschließende Lösung. Was wir haben, ist die völkerrechtliche Verpflichtung, Flüchtlinge nicht einfach zurückzuweisen, sondern ihren Schutzanspruch zu prüfen. Auch dürfen wir keine Menschen ertrinken lassen. Das ist ein Gebot der Mitmenschlichkeit und auch eine Verpflichtung nach dem Internationalen Seerechtsübereinkommen.
Auf der anderen Seite können wir nicht allen Menschen auf der Welt, die sich in einer bedrohlichen Lage befinden, die für sich in ihrem Land keine Zukunft sehen, sagen, sie können nach Europa kommen. Das wäre ein Versprechen, das wir nicht einlösen können. Flucht und Migration bleiben immer ein komplexes Dilemma, an dem wir immer nur weiterarbeiten können. Aber reiner Pessimismus ist einfach keine Option. Migration hört nicht auf. Es gab sie schon im biblischen Jerusalem. Es gibt keinen Knopf, mit dem wir sie ein- und ausschalten können. Diversität gehört zum 21. Jahrhundert. Wir tun gut daran, das zu verinnerlichen und die Herausforderung anzunehmen.

Als Wissenschaftler beschäftigen Sie sich vor allem mit den rechtlichen Grundlagen eines gelingenden Zusammenlebens. Warum ist es Ihnen so wichtig, dass Migranten schnell die Möglichkeit erhalten, die Staatsangehörigkeit des Aufnahmelandes anzunehmen?
In all den aufgeregten Debatten um Integration, interkulturelle Spannungen und Konflikte müssen wir vom Ende her denken. Wir haben als Gesellschaft nichts von einer Situation, in der sich Menschen über Jahre, vielleicht sogar über Jahrzehnte, bei uns nicht zu Hause fühlen. Je länger Integration dauert, desto schwieriger wird sie. Die Staatsangehörigkeit ist elementar, um wirklich Teil einer Gesellschaft zu werden. Migranten, die unsere Sprache gelernt haben und sich integriert haben, sollten einen rechtlichen Anspruch darauf haben, Staatsbürger zu sein. Es macht gesellschaftlich keinen Sinn, Menschen, die de facto schon eingebürgert sind, von der Staatsbürgerschaft auszuschließen.

Verstehen Sie Sorgen, Pässe könnten zu leichtfertig vergeben werden?
Natürlich müssen wir uns über die Kriterien streiten, die zur Staatsbürgerschaft berechtigen sollen. Sind die Voraussetzungen zu gering, droht das die Kluft in der Gesellschaft eher zu verfestigen als zu verringern. Es gibt auch negative Erfahrungen mit Menschen, die sich von der Gesellschaft abwenden und nicht mitmachen. Aber wir müssen da genau hinschauen. Meistens ist das nur eine sehr kleine Gruppe. Wir dürfen nicht verallgemeinern. Für jeden Einzelnen, egal welcher ethnischen oder religiösen Gruppe er angehört, muss die Tür immer offen bleiben. Von einer immer tiefer werdenden Spaltung zwischen Migranten und der ansässigen Bevölkerung hat niemand etwas. Hierzu braucht der Staat selbst eine konstitutionelle, offene Identität, und keine ethnische. Nur so werden Staat und Gesellschaft zugänglich für Migranten, die als vollwertige Bürger ihren Teil beitragen.

 

Das Interview entstand im Nachgang des vierten Europäischen Salons zum Thema „Entgrenzung des Staates und Gewährleistung der Menschrechte? Perspektiven der europäischen Migrationspolitik“. Auf salon.publixphere.de finden Sie Berichte sowie die Online-Diskussion zum Thema. Der Europäische Salon ist eine von der Robert Bosch Stiftung geförderte Veranstaltungsreihe, durchgeführt vom Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Europarecht von Prof. Dr. Christian Calliess, LL.M., Freie Universität Berlin.

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.