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Wahl in Großbritannien - Keine Zeitenwende in Sicht

Während viele Beobachter vor der Unterhauswahl in Großbritannien am 7. Mai einen politischen Richtungswechsel und einen damit einhergehenden EU-Austritt befürchten, ist unser Autor da gelassener. Doch auch er sieht Gefahren

Thomas Weber. Foto: Hay-Rosie Goldsmith

Autoreninfo

Thomas Weber ist Professor of History and International Affairs an der University of Aberdeen. Zuletzt erschien von ihm „Wie Adolf Hitler zum Nazi“ wurde (Propyläen, Berlin, 2016). Foto: Hay-Rosie Goldsmith

So erreichen Sie Thomas Weber:

Beim Blick in den deutschen Blätterwald erscheint es, als ob ich durch meinen momentanen Aufenthalt in Boston; USA, Weltgeschichte verpasse. Großbritannien, meine Wahlheimat seit zwei Jahrzehnten, lese ich, stehe am Rande einer Revolution und einer Zeitenwende. Erschütterungen stünden bevor.

Mal geht es um die drohende Unregierbarkeit und den faulen Kern des politischen Systems Britanniens, mal um „Brexit“ und „Scoxit“, also um das Ausscheiden Großbritanniens und Schottlands aus der EU beziehungsweise aus der Union mit Engländern, Walisern und Iren. Der Antriebskern der bevorstehenden Revolution sei das Erstarken der schottischen Nationalisten, heißt es.

Originellerweise fällt so manch deutschem Kommentator als Lösungsvorschlag ein, Großbritannien möge am deutschen Wesen genesen. Wenn es ein deutsches Wahlrecht und deutschen Föderalismus gäbe, würde alles gut. Ansonsten drohe Chaos und Ungemach.

Stabile Minderheitsregierungen sind etwas Normales
 

Tatsächlich offenbaren diese Prognosen herzlich wenig über die Zukunft Großbritanniens, viel aber über die Wirkungsmacht von Heinrich August Winklers Betrachtungsweise des Westens. Auf den Tausenden von Seiten, die der Berliner Historiker und Politikberater über die Geschichte des Westens gefüllt hat, kommt immer mal wieder Großbritannien vor. Ernst genommen wird aber nur der revolutionäre Geist Amerikas und Frankreichs der Jahre 1776 und 1789. Der britische Glaube an die Kraft gradueller Veränderung, was die Harvard-Historikerin Maya Jasanoff den „Geist von 1783“ nennt, wird unter den Teppich gekehrt. 1783, nach dem Ende des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges, begann in Großbritannien und im restlichen Britischen Weltreich ein Zeitalter gradueller Reformen, die weltgeschichtlich genauso wirkungsmächtig wie die Amerikanische und die Französische Revolution waren. Durch die Winkler’sche Brille geblickt, erscheint Großbritannien tatsächlich wie ein Gebilde am Rande von Erschütterungen und Revolution.

Wenn wir uns dieser Brille jedoch entledigen, sieht die wahrscheinliche britische Zukunft sehr viel anders aus. Seit 1900 hat es in Großbritannien elf Koalitions- oder Minderheitsregierungen gegeben. Ferner hatte Schottland zwischen 2007 und 2011 eine sehr stabile, von schottischen Nationalisten geführte Minderheitsregierung. Auch in Kanada, ebenfalls ein Kind des „Geistes von 1783“, sind stabile Minderheitsregierungen etwas völlig Normales. Es leuchtet daher nicht ein, wieso ein unklares Wahlergebnis diese Woche zu einer Zeitenwende jenseits des Ärmelkanals führen sollte.

Eine politische Revolution ist unwahrscheinlich
 

Die Wahlprognosen lassen eher ein Fortschreiten der graduellen Transformation Großbritanniens, die etwa eine Reformierung des Oberhauses und die Etablierung von Regionalparlamenten in den 90er Jahren hervorbrachte, wahrscheinlich erscheinen. Nur im äußerst unwahrscheinlichen Falle einer klaren konservativen oder Tory-UKIP-Mehrheit könnte es zur politischen Revolution kommen. Dann gäbe es zuerst ein Referendum über die britische EU-Mitgliedschaft und im nicht unbedingt wahrscheinlichen Fall eines „Brexits“ wohl auch ein erneutes Unabhängigkeitsreferendum im eher Euro-philen Schottland.

Sollte hingegen niemand nach der Wahl eine Regierung bilden können, könnte es schnelle Neuwahlen geben. Es lassen sich aber nur wenige realistische Szenarien vorstellen, in denen partout weder die Tories noch Labour eine Regierung bilden können.

Entgegen der auf Umfragen beruhenden Berichterstattung, die implizit so tut, als ob es in Großbritannien ein Verhältniswahlrecht gäbe und die daher in etwa so aussagekräftig über die wahrscheinlichen Mehrheitsverhältnisse im Unterhaus sind wie das Analysieren der Flugbahnen der Raben am Londoner Tower, wird seit Wochen ein konservativer Wahlsieg prognostiziert.

David Cameron wird aber eher nicht genug Abgeordnete finden, die ihn bei einer Regierungsbildung unterstützen würden. Sollte er es doch schaffen, wären die schottischen Nationalisten vordergründig im doppelten Sinne ausgebremst. Weder wäre Cameron stark genug, ein EU-Referendum zu riskieren, welches ein erneutes schottisches Referendum zur Folge haben könnte, noch wären die schottischen Nationalisten an der Regierung direkt oder indirekt beteiligt. Dennoch würden auch die schottischen Nationalisten davon profitieren, dass auch die Tories – wie zugesagt – einige Rechte an Schottland abgegeben würden und gleichzeitig de facto ein englisches Regionalparlament einrichten würden. Schlimmstenfalls gäbe es aus Sicht der schottischen Nationalisten Stillstand.

Viel wahrscheinlicher ist die Bildung einer Minderheitsregierung unter Führung des Labour-Führers Ed Milliband, die faktisch permanent von den schottischen Nationalisten und einer Reihe kleinerer Parteien unterstützt würde. In der Vergangenheit hätte es in einem solchen Falle bald Neuwahlen gegeben, von denen in der Regel die Regierungspartei profitierte.

Die Anliegen der schottischen Nationalisten
 

Seit der Verabschiedung des „Fixed Term Parliament Act“ des Jahres 2011 ist es aber viel schwerer geworden, eine Regierung abzuwählen. Vor allem hätte Labour wohl Angst, für eine Zusammenarbeit mit den schottischen Nationalisten abgestraft zu werden. Die schottischen Nationalisten hingegen hätten ein Interesse an einem erfolgreichen Fortbestand einer Labour-Minderheitsregierung, denn dies würde es ihnen am ehesten erlauben, die drei Herzensanliegen ihrer Wähler umzusetzen.

Zum einen würde die Unterstützung einer Labour-Minderheitsregierung es den schottischen Nationalisten ermöglichen, dass die Stimme Schottlands mehr als bisher im Parlament in Westminster gehört und ernst genommen wird. Zweitens würden die schottischen Nationalisten versuchen, die Labour Party zu einer weitgehenden Abkehr von den als neoliberal kritisierten wirtschaftspolitischen und als kriegstreiberisch wahrgenommenen außenpolitischen Ideen der Ära Tony Blairs zu verleiten.

Schließlich würden die schottischen Nationalisten versuchen sicherzustellen, dass die während des Referendums aus London versprochenen neuen Rechte Schottlands auch wirklich umgesetzt werden. Der wahrscheinliche Nationalistenführer im Unterhaus, Alex Salmond, wird wie ein schlauer Fuchs versuchen, jede Möglichkeit, neue Rechte für Schottland zu erlangen, peu à peu auszunutzen.

Das wahrscheinlichste Szenario ist daher, dass die Wahl dieser Woche eine relativ stabile Minderheitsregierung hervorbringen wird, die lange Bestand haben wird und dem Weg gradueller Veränderungen folgen wird. Die schottischen Nationalisten sind im Kern keine Revolutionäre, sondern Kinder des „Geistes von 1783“.

Die Tatsache, dass Großbritannien letztes Jahr während des schottischen Referendums kurz vor dem Zusammenbruch stand, lag eigentlich gar nicht an den schottischen Nationalisten, sondern am politischen Unvermögen David Camerons. Die schottischen Nationalisten hatten ein Referendum durchführen wollen, in dem schottische Unabhängigkeit, „Devolution Max“ – eine weitgehende Fiskalautonomie Schottland – und der Status Quo zur Abstimmung standen, da sie erwarteten, nur für „Devolution Max“ eine Mehrheit finden zu können.

Erst das politische Unvermögen David Camerons, der auf einer klaren Wahl zwischen Unabhängigkeit und Status Quo bestand, hatte die schottischen Nationalisten unerwartet nah an das Fernziel der Unabhängigkeit Schottlands gebracht. Da Cameron und Milliband schließlich so viele Versprechungen an Schottland machten, um die völlige Unabhängigkeit Schottlands abzuwenden, bekamen die schottischen Nationalisten dennoch „Devolution Max“ durch die Hintertür.

Großbritannien könnte sich noch weiter von der Weltbühne zurückziehen
 

Die künftige Politik der schottischen Nationalisten wird daher wohl in der Fortsetzung ihres traditionellen Gradualismus und ihrer auf mehrere Wahlzyklen angelegten Strategie bestehen. Die Revolution und Zeitenwende Großbritanniens wird wohl während meiner Abwesenheit aus Schottland ausfallen.

Die Gefahr der Bildung einer Minderheitsregierung, egal ob sie von David Cameron oder Ed Milliband geführt wird, besteht eher darin, dass sich Großbritannien noch weiter von der Weltbühne zurückzieht. Dies wird vielen innerhalb und außerhalb Großbritanniens gefallen, wird aber die Somalifizierung der Krisenregionen der Welt weiter beschleunigen.

Wirtschaftspolitisch ist die Gefahr noch größer. Eine von Labour und schottischen Nationalisten getragene Minderheitsregierung stünde am Scheideweg. Sie müsste sich entscheiden, ob sie stillschweigend auf die wirtschaftspolitischen Erfolge der letzten Jahre aufbaut und eine progressive liberale Politik im Stile Kanadas anstrebt oder mehr und mehr dem sozialistischen Etatismus im Stile Frankreichs frönt. Auch graduell kann Großbritannien den Karren in den Graben fahren.

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