- Deutschland macht Flüchtlingshelfer zu Staatsfeinden
Während die Bundesregierung ein paar Transall-Maschinen in den Nordirak schickt, verweigert sie Kriegsflüchtlingen Schutz in Deutschland. Menschen, die den Notleidenden helfen, würden als „Schleuser“ kriminalisiert, kritisiert Stefan Buchen in seinem Buch „Die neuen Staatsfeinde“
In einem Urteil vom 12. Juni 2014 verweigert das Verwaltungsgericht Lüneburg einem 27-jährigen Jesiden humanitären Schutz in Deutschland. Es begründet die Abweisung damit, dass „Jesiden im Irak weder landesweit noch in ihrem Stammsiedlungsgebiet (Sindjar) einer Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure ausgesetzt sind“. Bei Rückkehr in den Irak drohten dem Angehörigen der religiösen Minderheit „keine erheblichen Gefahren für Leib und Leben“. Die Aufforderung der Ausländerbehörden an den Jesiden, Deutschland zu verlassen, sowie die Androhung der Abschiebung in den Irak seien daher „rechtmäßig“, so das Urteil.
Darf man das Gericht mit Blick auf das Datum des Urteils entschuldigen? Schließlich wusste am 12. Juni 2014 nicht einmal US-Präsident Obama, was „Jesiden“ sind. Deutschland diskutierte da weder über humanitäre Hilfe für Jesiden noch gar über Waffenlieferungen zu ihrem Schutz in ihrem nordwestirakischen „Stammsiedlungsgebiet“.
Nein, man darf das Gericht nicht entschuldigen. Anfang Juni hatte die irakische Regierung in Bagdad längst die Kontrolle über weite Landesteile im Westen verloren. Kämpfer der islamistischen Terrorgruppe „Islamischer Staat“ waren bereits von Syrien in den Irak eingesickert und hatten sich mit sunnitischen Gegnern der Zentralregierung verbündet. Der syrische Krieg hatte sich mit der Krise im Irak zu einer zusammenhängenden, grenzüberschreitenden Gewaltorgie verbunden.
Schutzsuchende gelten als Bedrohung
Die Bundesregierung, von der deutsche Verwaltungsgerichte in Asylsachen ihre Informationen für ihre Urteilsbegründungen beziehen, hatte Kenntnis davon. Hätte sie die am 12. Juni 2014 nicht gehabt, müsste sie den Bundesnachrichtendienst auf der Stelle abschaffen.
[[{"fid":"63325","view_mode":"copyright","type":"media","attributes":{"height":240,"width":345,"style":"width: 297px; height: 207px; float: left; margin-left: 5px; margin-right: 5px;","class":"media-element file-copyright"}}]]Die Verweigerung humanitären Schutzes für einen jesidischen Flüchtling durch ein deutsches Gericht könnte man für einen Skandal halten. Es ist jedoch nur eine Lappalie, wenn man sich vor Augen führt, welche grotesken, in direktem Bezug zum Kriegsgeschehen im Nahen Osten stehenden „Straftatbestände“ seit geraumer Zeit von Landgerichten in Deutschland „in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise“ abgeurteilt werden.
Denn es gibt eine Täterkategorie, die unser Rechtsstaat als eine noch größere Bedrohung für das Gemeinwesen einstuft als Schutzsuchende aus Syrien und dem Irak: Leute, die den Schutzsuchenden helfen, nach Deutschland zu kommen. Die müssen, wenn sie erwischt werden, mit der ganz harten Hand der staatlichen Verbrechensbekämpfung rechnen. In Verden an der Aller hat die Staatsanwaltschaft einen seit langem in Niedersachsen lebenden Jesiden als „Schleuser“ angeklagt, der andere Jesiden aus der Not des Krieges und der Verfolgung nach Deutschland holte. In Bremen wurde soeben ein jesidischer Familienvater wegen desselben Vorwurfs zu zwei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt.
Kampf gegen „Schleuser“
Als gäbe es einen stillen nationalen Konsens: Niemand will einen Widerspruch sehen zwischen dem humanitären Impuls, auf dem etwa Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) nach Erbil reitet, um sich auf einer Matratze hockend und umringt von jesidischen Flüchtlingen fotografieren zu lassen, und der Unnachgiebigkeit, mit der Helfer von Kriegsflüchtlingen aus dem Irak und Syrien in Deutschland hinter Gitter landen. Wir verurteilen Massenhinrichtungen, Giftgasangriffe und Genozid. Gleichzeitig verurteilen unsere Gerichte diejenigen zu Haftstrafen, die ihre Landsleute – oft sind es Verwandte - aus dieser Lebensgefahr nach Deutschland schleusen.
Die Wahrheit ist, dass Deutschland möglichst wenige Kriegsflüchtlinge aus dem Nahen Osten aufnehmen möchte. Für Syrer hat die Bundesregierung, nach langem Zögern, seit 2013 ein Kontingent von insgesamt 20.000 Flüchtlingen festgelegt. Davon sind bislang weniger als die Hälfte tatsächlich gekommen. Für Iraker gibt es bis jetzt kein Aufnahmekontingent. Gemessen an den 10 Millionen Menschen (rund neun Millionen Syrer und eine Million Iraker), die wegen des Krieges Haus und Hof verlassen mussten, ist das eine bescheidene Zahl.
Wie sehr Deutschland daran gelegen ist, dass die Zahl bescheiden bleibt, kann man an der Hartnäckigkeit und dem Aufwand ablesen, die Bundespolizei und Staatsanwaltschaften im Kampf gegen „Schleuser“ an den Tag legen. Auch der Bundesnachrichtendienst hilft mit, wie man dem dieser Tage vieldiskutierten geheimen „Aufgabenprofil der Bundesregierung“ entnehmen kann. Möglicherweise weiß der BND sogar besser über „Flüchtlingsrouten“ und „Schleuserbanden“ im Nahen Osten Bescheid als über Terrornetzwerke und die Überlebensfähigkeit der Regierungen in Damaskus, Bagdad und Erbil.
Monate-, bisweilen jahrelang werden Telefone Verdächtiger abgehört und ihre Internetkommunikation abgefangen. Zehntausende Seiten Abhörprotokolle werden aus dem Arabischen und Kurdischen ins Deutsche übersetzt. Es sind unfreiwillige Zeitzeugnisse einer Menschheitskatastrophe. Für die Strafverfolger sind es Beweise, mit denen sie die Drahtzieher der Organisierten Kriminalität an das Messer des deutschen Rechtsstaats liefern. Die fünf Bundeswehrmaschinen, die derweil Hilfsgüter nach Erbil geflogen haben, nehmen sich, was den staatlichen Aufwand betrifft, daneben eher bescheiden aus.
Deutschland und Europa haben eine souveräne politische Entscheidung getroffen: Wir machen die Außengrenzen dicht, auch für Kriegsflüchtlinge. In den Augen der Bundesregierung sind Schleuser Schwerkriminelle, die sich erdreisten, das „Hausrecht des Staates“ mittels gefälschter Papiere, Bestechung von Grenzbeamten und heimlicher Fluchtrouten zu unterlaufen.
Brandmarkung als skrupellose Verbrecher
Dass Verdächtige mittlerweile wie Staatsfeinde behandelt werden, zeigt ein riesiges Ermittlungsverfahren, das die Bundespolizei ab Oktober 2011 gegen die Helfer von rund 300 syrischen Flüchtlingen, unter ihnen auch Jesiden, führte und das in der zweiten Jahreshälfte 2013 in einen Strafprozess vor dem Landgericht Essen mündete. Ein bis dahin unbescholtener Bauingenieur aus Essen wurde eines Morgens um sechs Uhr von 25 Beamten in seinem Essener Reihenhaus festgenommen und ins Gefängnis gesperrt. Er hatte Geld nach Syrien, seiner Heimat, überwiesen. Geld, mit dem Flüchtlinge ihren „illegalen“ Weg zu Verwandten in Deutschland bezahlten. Die Strafverfolger brandmarkten ihn als „Finanzchef der Schleuserbande“. Einen weiteren Verdächtigen ließ die Bundespolizei in Athen festnehmen und nach Deutschland ausliefern. Der Mann syrischer Herkunft hatte für Landsleute Wohnungen in Athen gemietet und bei der Weiterreise per Flugzeug zu Verwandten in Deutschland geholfen. Vor seiner Auslieferung hatte dieser Verdächtige deutschen Boden nie betreten. Das Landgericht Essen verurteilte ihn zu drei Jahren Haft. Im Herbst wird sich der Bundesgerichtshof mit dem Fall befassen.
Bei der Verfolgung dieser Bande beriefen sich die Strafverfolger nicht allein auf „das Hausrecht des Staates“. Auf mustergültige Weise spielten sie auch die moralische Karte. Die Bundespolizei warf den Verdächtigen vor, den Tod von Flüchtlingen verursacht zu haben. Der Vorwurf entbehrte jeder sachlichen Grundlage. Aber für die Brandmarkung der Verdächtigen als skrupellose Verbrecher eignete er sich gut.
Bundespolizei und Staatsanwaltschaften erwecken so den (falschen) Eindruck, ihnen gehe es um den Schutz der wehrlosen Flüchtlinge vor den menschenverachtenden Schleusern. Diese moralische Karte zieht immer wieder, in der Öffentlichkeit und vor Gericht. Sie ist das vielleicht erfolgreichste Propagandamanöver gegenwärtiger europäischer Staatsgewalt.
Im Kalten Krieg waren „Fluchthelfer“ Helden
Es ist höchste Zeit, dass das Land ein paar Lernfortschritte macht. „Schleuser“ müssen nicht zwangsläufig menschenverachtend und skrupellos sein. Es müssen nicht zwangsläufig Leute sein, die Flüchtlinge auf seeunaugliche Boote setzen. Es müssen nicht zwangsläufig Banden sein, die irgendwo auf der Welt Menschen ein besseres Leben in Europa versprechen und sie auf dem Weg dahin abzocken. In den allermeisten Fällen geht die Initiative von den Flüchtlingen aus. Sie nehmen die Hilfe von „Schleusern“ in Anspruch, wenn es einen leichteren und preiswerteren Weg an einen sicheren Zufluchtsort nicht gibt. Auf das Motiv der „Schleuser“ kommt es den Flüchtlingen nicht an. Für sie ist allein wesentlich, dass die „Schleuser“ die vereinbarte Leistung erbringen und dabei ein Mindestmaß an Achtung vor ihrem Leben, ihrer Würde und ihrer Gesundheit zeigen.
Bei dem dringend nötigen Lernfortschritt könnte ein Blick zurück helfen. Vor dreißig Jahren noch galten Menschen, die Flüchtlinge mit falschen Papieren und sonstigen Tricks über die Grenze zwischen Ost- und Westeuropa brachten, als Helden. In höchstrichterlichen Urteilen wurden sie als „Fluchthelfer“ bezeichnet, die auch einen Anspruch auf Bezahlung ihrer Leistung hatten. Mal sehen, ob sich der BGH, wenn er nun über Fluchthilfe aus Syrien und dem Irak befinden muss, an seine Argumentationen aus dem Kalten Krieg erinnern wird.
Fotos: picture alliance, Ulas Yunus Tosun (Aufmacher Jesiden), EPA (Babys in einem irakischen Flüchtlingslager, Seite 1)
Stefan Buchen: Die neuen Staatsfeinde. Wie die Helfer syrischer Kriegsflüchtlinge in Deutschland kriminalisiert werden. Dietz Verlag, Juni 2014, 200 Seiten, 14,80 Euro. Weitere Informationen hier
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