- Die Flucht der Hirne
Die schlechte Wirtschaftslage in Italien trifft vor allem die Nachwuchsakademiker. Etwa 25.000 junge Italiener wandern daher jährlich aus. Einer von ihnen ist Valerio Bassan aus der Lombardei, der in Berlin eine Online-Lokalzeitung in italienischer Sprache gegründet hat
„Via, via. Vieni via di qui. Niente più ti lega a questi luoghi.“ So beginnt nicht nur Paolo Contes Klassiker des italienischen Jazz „Via con me“ von 1981, auch eine ganze Generation junger Italiener scheint sich dieses Motto zu Herzen genommen zu haben: Bloß weg aus der Heimat, wo sie nichts und niemand mehr hält.
Als „fuga di cervelli“, Flucht der Hirne, hierzulande besser bekannt als Brain-Drain, bezeichnen die Italiener diese Auswanderungswelle der von der Wirtschaftskrise besonders betroffenen Jugend metaphorisch. Im Juni 2012 war etwa jeder Dritte der 15- bis 24-Jährigen ohne Arbeit und oft ohne erkennbare Perspektive. Laut Angabe des Consiglio Nazionale dell’Economia e del Lavoro, einem staatlichen Wirtschaftsexpertengremium, verlassen das Land jährlich etwa 25.000 meist exzellent ausgebildete junge Italiener. Zu einem der bevorzugten Ziele hat sich in den vergangenen Jahren die deutsche Hauptstadt entwickelt.
Einer dieser 25.000 ist Valerio Bassan aus der Nähe von Mailand. Bassan passt perfekt ins Bild dieser Migration 2.0, die sich durch ihren engen Bezug zum Internet und kreative Berufe auszeichnet. Anders als die Generation der Gastarbeiter, die nach dem deutsch-italienischen Anwerbeabkommen 1955 größtenteils ungelernt in den Industriebetrieben des Ruhrgebiets, den VW-Werken in Wolfsburg oder später in der Gastronomie Arbeit fanden, ist er hoch qualifiziert.
Der 26-Jährige hat einen Bachelor, einen Abschluss der Journalistenschule, absolvierte Praktika bei renommierten italienischen Medien und hat schon einen Dokumentarfilm über die serbische Minderheit im Kosovo gedreht.
Trotz hervorragender Ausbildung und praktischer Erfahrungen reichte es selbst in der Medienmetropole der Lombardei nicht für eine akzeptable Anstellung. Der Mailänder RCS-Verlag, in dem unter anderem der „Corriere della Sera“ und die „Gazzetta dello Sport“ erscheinen, hat kürzlich angekündigt, allein in Italien 640 Stellen abzubauen. Auch andere Medienunternehmen reduzieren ihr Personal teils drastisch. Für Berufsanfänger sind die Aussichten düster.
„Der Journalismus in Italien ist in einer schweren Krise“, erzählt Bassan auf Italienisch. Lässig zurückgelehnt sitzt er in seiner Berliner Übergangswohnung am Tisch und dreht sein iPhone in der linken Hand. „Ich hatte ein paar Angebote: 300 Euro für eine Vollzeitstelle. Aber das ist doch Sklaverei“, empört er sich. Von den 20 Absolventen seines Jahrganges hätten nur drei eine feste Anstellung gefunden. Bei der Frage, ob es ihm schwer gefallen sei, die Heimat zu verlassen, entspannen sich seine blassen Gesichtszüge wieder. „Absolut nicht!“, antwortet er lachend und streicht sich durch die kurzen dunklen Haare. Italien habe begonnen ihn zu langweilen und er habe neue Anreize gebraucht.
Die hat er nun in Berlin gefunden.
nächste Seite: „Fruchtbarer Boden für kreative Menschen“
Gemeinsam mit seiner Freundin, der Fotografin Elena Brenna, hat der Journalist eine Online-Lokalzeitung in italienischer Sprache gegründet. „Il Mitte“ ging am 7. Mai vergangenen Jahres online, nur zwei Monate, nachdem Bassan und Brenna in Berlin angekommen waren. Mittlerweile haben sie auf Facebook über 5000 „Likes“. Die Idee reifte in den beiden 26-Jährigen schon eine ganze Weile. Im Laufe eines Berlin-Urlaubs im April 2011 verliebte sich Bassan in die Stadt: „Hier herrscht so eine elektrisierende Atmosphäre. Das ist fruchtbarer Boden für kreative Menschen.“
So recherchierten die Lombarden im Internet nach den Voraussetzungen, um sich an der Spree selbstständig zu machen. Die italienische Gemeinde in Berlin wächst seit Jahren stetig. Nach Informationen des Amtes für Statistik Berlin-Brandenburg waren im Dezember 19.771 Italiener in der Hauptstadt gemeldet. Dazu addiert sich eine beachtliche Dunkelziffer von Erasmus-Studenten und Neuankömmlingen, die noch nicht amtlich registriert sind. Da es für die wachsende Zielgruppe allerdings kaum verlässliche Informationsplattformen in italienischer Sprache gab, fiel den Existenzgründern die Entscheidung nicht schwer.
Vorbereitungen wurden getroffen und die Koffer gepackt. „Ich habe mich selbst gewundert, wie schnell das alles ging“, sagt der Journalist zur erstaunlich problemlosen Umsetzung des Projektes. Die Investitionen hielten sich dabei in Grenzen. Eine richtige Redaktion gibt es nicht. Gearbeitet wird von zuhause und alle Autoren schreiben ohne Honorar. So reichten die 5.000 Euro, die er von der Journalistenschule als Stipendium bekommen hatte, um das Projekt ins Rollen zu bringen.
Obwohl die Seite durch die öffentliche Aufmerksamkeit und viel Mundpropaganda mittlerweile etwa 30.000 User pro Monat erreicht, ist die Finanzierung problematisch. Das konkrete Interesse an Werbeanzeigen tendiert gegen Null und ein Geldgeber ist bisher nicht in Sicht. „Wenn ich nur von ,Il Mitte‘ leben müsste, wäre ich schon verhungert“, scherzt Bassan mit einem verschmitzten Grinsen im Gesicht.
Muss er glücklicherweise nicht. Als freier Journalist arbeitet der Lombarde regelmäßig für verschiedene italienische Medien und schreibt zudem ein Sachbuch über die Zukunft des Journalismus in Zeiten des Internets, das im Frühling als E-Book erscheinen soll. So reichen die Einnahmen, um sich im – verglichen mit Mailand – sehr günstigen Berlin über Wasser zu halten.
Der Begründer versteht „Il Mitte“ gleichermaßen als Informationsplattform und Begegnungsstätte. Von nützlichen Kurzmeldungen über die neusten Pannen bei der S-Bahn bis zu einem ausführlichen Porträt von Sven Marquardt, dem berüchtigten Türsteher des Berliner Szene-Clubs Berghain, widmet sich die Seite allem, was Berlin und vor allem die junge Einwanderergeneration bewegt. Die Reaktionen aus der italienischen Gemeinde seien durchweg positiv gewesen, so Bassan: „Wir haben einen unglaublichen Enthusiasmus erlebt und wurden mit E-Mails förmlich überhäuft.“
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Seit „Il Mitte“ wächst und wächst, ist Valerio Bassan ein viel beschäftigter Mann. Italienische und deutsche Medien haben bereits über sein Start-Up berichtet. Auch beim Gespräch mit dem eloquenten 26-Jährigen ist Zeit ein knappes Gut. Die Arbeit füllt ihn voll aus und lässt nicht viel Zeit für andere Aktivitäten.
So ist auch nach elf Monaten in der deutschen Hauptstadt die Sprache immer noch ein großes Hindernis. Der Norditaliener besucht zwar einen Deutschkurs, die Fortschritte sind bisher aber überschaubar. „Ich müsste einen Intensivkurs machen, finde aber keine Zeit.“ Besonders viele Deutsche kennt er nicht, hofft allerdings mit steigender Sprachkompetenz, neue Kontakte knüpfen zu können.
Anders als die Gastarbeiter seien die jungen Italiener im Ausland heute nicht mehr daran interessiert, unter sich zu bleiben, meint Bassan. Das hat wohl auch damit zu tun, dass die aktuelle Auswanderungswelle dauerhaft angelegt ist. Während die Gastarbeiter ursprünglich nur für eine absehbare Zeit in Deutschland arbeiten wollten, um sich mit den Ersparnissen ein besseres Leben in der Heimat zu ermöglichen, kommt eine Rückkehr in den Plänen vieler junger Italiener heute nicht vor. Die berufliche Perspektivlosigkeit, ein von Korruption durchsetztes politisches System und der immer noch tief in der Gesellschaft verankerter Konservativismus treiben sie fort aus Italien. Die Wertschätzung der italienischen Sprache ist von dieser „Heimatverdrossenheit“ jedoch unberührt. „Die meisten Leser beherrschen die deutsche Sprache sehr gut und könnten die Nachrichten auch in einer deutschen Zeitung lesen. Sie freuen sich aber immer noch darüber, etwas in ihrer Muttersprache zu lesen“, beschreibt der 26-Jährige die stetig wachsende Leserschaft.
Bassan hofft, dass sich die steigende Reichweite seiner Seite bald finanziell auszahlt. Aber auch wenn der große Durchbruch mit „Il Mitte“ nicht gelingen sollte, wäre das für ihn kein Grund aufzugeben. „Wenn es nicht klappt, erfinde ich mich halt neu. Ich habe noch einen Plan B und C“, erklärt der Norditaliener, weicht weiteren Nachfragen jedoch aus. Obwohl es ihm in Berlin sehr gut gefällt, will er sich nicht für alle Ewigkeit auf einen Ort festlegen. „Es gibt Tausende Orte, die ich gerne sehen würde“, erklärt er ganz im Sinne der neuen europäischen Mobilität. Und was ist mit einer Rückkehr nach Italien? Bassan hält kurz inne und atmet tief durch. „Ich kann es mir momentan nicht vorstellen. Aber – mai dire mai – sag niemals nie!“
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