- Das Virus des Protests
Zahlreiche Skandale haben für Unmut gegen den bulgarischen Ministerpräsidenten Boiko Borissow gesorgt. Inzwischen fordern jeden Abend tausende Demonstranten in Sofia seinen Rücktritt. Währenddessen steigen die Corona-Zahlen im Land stark an.
Lange Zeit hatte Bulgarien eines der schwächsten Infektionsgeschehen der Coronavirus-Pandemie in Europa. Seit einigen Wochen steigen die täglichen Zahlen positiv mit Covid-19-Getester aber stark an. Zugleich hat das Virus des politischen Protests das Balkanland erfasst. Allabendlich ziehen tausende Demonstranten durch die Straßen der bulgarischen Hauptstadt Sofia und fordern den Rücktritt des rechtsgerichteten Ministerpräsidenten Boiko Borissow und des Generalstaatsanwalts Ivan Geschev.
Manche der Protestierenden tragen Masken, andere nicht. In den kommenden Wochen wird sich erweisen, ob der politische Aufruhr den mit Unterbrechungen seit elf Jahren regierenden Premier stürzen kann und ob parallel dazu vielleicht die erste große Welle der Corona-Pandemie über Bulgarien hereinbricht.
Ein bulgarisches Stückchen Erde
Am Dienstagnachmittag des 7. Juli 2020 stieß Bulgariens früherer Justizminister Hristo Ivanov von der Schwarzmeerstadt Burgas aus mit einem motorgetriebenen Schlauchboot in See. Zusammen mit zwei Parteifreunden wollte der jetzige Co-Vorsitzende der konservativen Partei „Da Bulgaria“ (Ja, Bulgarien) auf der Halbinsel Rosenets anlegen.
Dass dies kein einfacher Landgang werden würde, ahnte Ivanov bereits. Vorsichtshalber filmte er den Landgang und übertrug ihn live und in Farbe im Internet. Tausende Zuschauer verfolgten ihn gebannt. „Was ihr hinter mir seht“, sprach Ivanov in die Kamera und deutete auf ein palastartiges Gebäude, „ist das Sommer-Serail von Ahmed Dogan. Da fahren wir jetzt hin und nehmen uns unser von der Verfassung gegebenes Recht, dieses bulgarische Stückchen Erde zu betreten“.
Eine der schillerndsten Fighuren
Der Gründer und jetzige Ehrenvorsitzende der Partei der bulgarischen Türken „Bewegung für Rechte und Freiheiten” (DPS) ist seit Jahrzehnten eine der schillerndsten Figuren auf Bulgariens politischer Bühne. Seine Anhänger sprechen ihm das Verdienst zu, den ethnischen Frieden zwischen der bulgarischen Mehrheitsbevölkerung und der türkischen Minderheit bewahrrt zu haben, als es im früheren Jugoslawien zum grausamen Bürgerkrieg kam.
Dogans Kritiker werfen ihm dagegen vor, Mitte der 1980er der kommunistischen Staatssicherheit zugetragen zu haben. Vor einigen Jahren hat sich der studierte Philosoph Dogan aus der aktiven Politik zurückgezogen, um sich wissenschaftlichen Studien zu widmen. Insgeheim gilt er aber immer noch als der eigentlich starke Mann der DPS, der politischen Einfluss in wirtschaftliche Macht umzumünzen weiß.
Ein Held, der vom Staat bewacht wird
Dass ihn die Beamten des Nationalen Wachdiensts (NSO) noch immer auf Kosten der Steuerzahler bewachen, wird in der bulgarischen Öffentlichkeit immer wieder kontrovers diskutiert. Nun dokumentiert Hristo Ivanovs gut fünfzigminütiges Live-Video, wie entschlossen NSO-Wachmänner Dogans kitischiges Sommerschlösschen vor ungebetenen Gästen schützen und normalbsterblichen Bulgaren den Zugang zum in staatlichem Besitz befindlichen Ufer des Parks Rosenets verwehren. Hartnäckig drängen Dogans Wache den Ex-Minister und seinen Parteifreund Ivo Mirchev vom Land immer wieder ins Meer zurück.
Auch registriert das Auge der Kamera, dass die herbeigerufenen Schutzpolizisten zwar die Personalien von Ivanov und Mirchev aufnehmen, nicht aber die der unrechtmäßig Gewalt anwendenden Wachmänner. Bei einer für den darauffolgenden Samstag angesetzten Massenwanderung wäre es im Park Rosenets fast zu ethnischen Zusammenstößen zwischen hunderten Demonstranten und ebenso vielen Dogan-Anhängern gekommen. Das Video von Hristo Ivanovs Seefahrt zeigt eindrücklich, dass in Bulgarien die Oligarchie gewisse politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Sphären gekapert hat.
Initialzündung einer Protestbewegung
Ivanovs Landgang in Rosenets war mehr als eine effektvolle Politik-Aktion, er gab die Initialzündung für eine Protestbewegung, die Borissovs konservativ-nationalistische Koalitionsregierung ernsthaft in Bedrängnis bringen könnte. Wie zuletzt im Sommer 2013 bei den Protesten gegen die sozialistische Regierung von Plamen Orescharski skandieren nun wieder Abend für Abend tausende Demonstranten unter dem Fenster des Ministerrats „Mafia ven!” (Mafia raus!) und „Ostavka!” (Rücktritt!).
Inzwischen hat sich auch der den Sozialisten nahestehende Staatspräsident Rumen Radev in unerhörter Art auf die Seite der Anti-Regierungsprotete geschlagen. Am vergangenen Donnerstag waren Beamte der Staatsanwaltschaft in das Staatspräsidium eingedrungen, hatten Dokumente konfisziert und zwei seiner Mitarbeiter verhaftet. Danach sprach das Staatsoberhaupt zu vor seinem Amtssitz versammelten Anhängern:
„Die bulgarische Mafia hat das Unmögliche erreicht. Sie hat die ehrenhaften Leute gegen sich vereinigt. An uns allen liegt es, die Mafia aus der Regierung zu werfen und aus der Staatsanwaltschaft, die sie auf erbarmungsloseste Weise als ihren Schutzschild und für politische Repressionen benutzt. Die bulgarische Mafia ist erbarmungslos, weil wir sie ziemlich lange geduldet haben. Heute tritt der Zorn auf die Straße. Nein, der Angst! Wir werden Bulgarien zurückbekommen. Mutri (bulgarisch für Schläger) raus!”.
Seit dem Sommer 2009 regiert Ministerpräsident Borissov Bulgarien mit Unterbrechungen. Zwei Mal hat er sein Amt vorzeitig aufgegeben. Sein noch bis zum Frühjahr 2021 währendes drittes Mandat will er aber vollenden, das hat er mehrfach betont. Ob ihm dies gelingt, scheint plötzlich fraglich. Zwar zählt er in Meinungsumfragen zusammen mit Präsident Radev noch immer zu den Politikern mit den höchsten Zustimmungsraten.
Spionage-Skandal unter Staatsmännern
Aufgrund zahlreicher Skandale ist unter den Bulgaren aber auch starker Unmut gegen ihn weit verbreitet. Erst vor einigen Wochen wurden Telefonaufnahmen publik, in denen sich ein Mann mit Borissovs Stimme und Intonation unflätig über Parlamentspräsidentin Tsveta Karajantscheva und europäische Spitzenpolitiker äußert und davon spricht, wie er in die Befugnisse der formell unabhängigen Finanzkontrollbehörde eingreift, um einen Unternehmer „zu zerquetschen“.
Kurz darauf zeigten Fotos aus seinem Schlafzimmer Bündel von 500 Euroscheinen und Goldbarren in der Schublade seines Nachttisches. Präsident Radev spioniere ihn mit einer chinesischen Drohne aus, erklärte Borissov dazu. Der von Borissovs Regierung im Januar 2020 per Gesetz quasi enteignete Glücksspielmagnat Vasil Boschkov behauptet aus seinem Exil in Dubai, er habe Borissov und Finanzminster Vladislav Goranov 500 Euroscheinen bündelweise nachgetragen, um das ungestörte Funktionieren seines Unternehmens zu gewährleisten.
Demonstranten fordern Regierungsrücktritt
Außer den Rücktritt der Regierung Borissov fordern die Demonstranten auch die Amtsaufgabe des bulgarischen Generalstaatsanwalts Ivan Geschev. Sie werfen ihm seit langem vor, keine neutrale Verbrechensbekämpfung zu betreiben, sondern repressiv gegen Regierungsgegner vorzugehen und Bulgariens Oligarchen wie Ahmed Dogan vor Strafverfolgung zu bewahren.
Tatsächlich zeigt Geschev kaum nachvollziehbare Aktivitäten, wenn es um Hinweise auf Korruption in der Regierung nahestehenden Kreisen geht. Dagegen hat er den sich oppositionell gerierenden Staatspräsidenten Rumen Radev klar im Visier. Mehrfach veröffentlichte Bulgariens Oberster Ankläger Telefonchats, die belegen sollen, dass Radevs Mitarbeiter im Staatspräsidium mit Einfluss handeln. Geschevs Parteilichkeit im Gleichgewicht der Mächte zwischen Regierungschef und Staatsoberhaupt könnte das politische Gefüge zum Kippen bringen.
„Weit geschlossene Augen”
Am Freitag hat die Europäische Union Bulgarien in den Euro-Wartesaal ERM II aufgenommen. Am Tag danach kam es beim abendlichen Protest zu schockierenden gewalttätigen Übergriffen der Polizeikräfte auf Demonstranten. Zwei junge Männer liegen schwerverletzt ins Krankenhaus. Die Europäische Union dürfe Bulgarien nicht länger mit „weit geschlossenen Augen betrachten”, appellierte Präsident Radev an Brüssel. „Unsere Augen sind definitiv nicht weit geschlossen”, erwiderte der Sprecher der EU-Kommission Eric Mamer darauf und verwies auf den weiterhin in Kraft befindlichen Mechanismus zur Überwachung der Hoheit des Rechts in Bulgarien.
Am Samstagabend wandte sich Ministerpräsident Borissov via Facebook aus seinem Haus in Bankia an die Bulgaren. Einen Rücktritt lehnte er ab, zog stattdessen eine positive Bilanz seiner Amtstätigkeit. „In zehn Jahren haben wir doppelt so viele Autobahnen gebaut wie Todor Schivkov“, sagte er, „wir haben mehr errichtet als alle bisherigen Ministerpräsidenten zusammen. Und während der Pandemie wurden wir als Beispiel in Europa gelobt, weil wir sie am besten bewältigt haben“.
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