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Schauspielerin Sigourney Weaver gibt im Eröffnungsfilm „My Salinger Year“ die raue Löwin / dpa

Berlinale - Schaulaufen im Glashaus der politischen Korrektheit

Mit „My Salinger Year“, einem unbeschwerten Unterhaltungsfilm, eröffnet die diesjährige Berlinale. Symptomatisch, denn an trotzigen Dickköpfen mangelt es auch in diesem Jahr. Stattdessen will sich das Filmfestival in Sachen politischer Korrektheit nicht übertreffen lassen.

Alexander Kissler

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Eigentlich ist alles wie immer: Berlin hat sein typisches Berlinale-Wetter aufgelegt – Kälte, Wind und Nieselregen –, der Potsdamer Platz, an dem die meisten Filme gezeigt werden, ist ungastlich wie eh und je, und Journalisten lässt man vor den Aufführungen in sehr krummen Schlangen sehr lange warten, ehe sie im Kino von augenfeindlichem Schummerlicht begrüßt werden, auf das jeder Geisterbahnbetreiber stolz wäre. Und dann erscheint das explodierende Berlinale-Strahlenbündel auf der Leinwand. Bei der 70. Auflage ist aber auch vieles anders als zuvor, nicht nur durch den Wechsel an der Spitze. Die Berlinale will sich gesund schrumpfen, weil sie es muss.

Der Eröffnungsfilm, mit dem die Internationalen Filmfestspiele Berlin gestern begannen, heißt „My Salinger Year“ und ist einerseits der französischste Film, der je in New York gedreht worden ist, andererseits eine verschmitzte Variante des Komödienplots von „Der Teufel trägt Prada“. Damals, vor gut 13 Jahren, spielte Meryl Streep die Rolle einer despotischen Chefredakteurin, Anne Hathaway gab den Azubi als Backfisch mit Kulleraugenblick. Wie deren ebenso zarte, ebenso rehäugige jüngere Schwester agiert nun Margaret Qualley in „My Salinger Year“. Die raue Löwin der Branche gibt derweil Sigourney Weaver, freilich als Literaturagentin.

Nostalgisches Filmvergnügen 

„My Salinger Year“ ist ein nostalgisches Filmvergnügen, strikt konservativ in Handlung, Dramaturgie, Spiel und Kamera. Die einzige Extravaganz, die sich der kanadische Regisseur Philippe Falardeau und seine Kamerafrau Sara Mishara leisten, sind die direkt in die Kamera gesprochenen Bekenntnissätze jener begeisterten Leser des Schriftstellers Jerome David Salinger, die sich mit ihren persönlichen Anliegen an Salingers Literaturagentur wenden. Dort liest die Briefe Joanna (Margaret Qualley) und lässt sich mehr rühren, als es ihrer Jobbeschreibung zuträglich ist. Sie soll die Briefe alle vernichten und vorformulierte Absagen abtippen. Salinger, erfahren wir, hat 1963 zum letzten Mal auf Fanpost reagiert. Nun schreiben wir das Jahr 1995.

New York liegt hier an der Seine, alteuropäisch anmutende Musik ist dem Geschehen unterlegt, die Akteure erspielen sich ein Jahr 1995, das aus der Zeit gefallen scheint. Die Damen tragen Kleider oder streng zugeknöpfte Blusen, die Herren Anzug oder Westen, man speist im Waldorf Astoria oder bei Sonnenschein auf Freitreppen, und Literaturagentin Margaret weigert sich, von Schreibmaschine auf Computer umzustellen. „My Salinger Year“ ist wie der Eröffnungsfilm des vergangenen, des letzten Jahres unter Dieter Kosslick eine unerschütterlich optimistische New Yorker Sozialromanze. Auch „The Kindness of Strangers“ war 2019 Kintopp der alten Schule. Nun geriet „My Salinger Year“ für die Berlinale zur Probe auf die eigene innere Opposition. Man wird in den Tagen bis zum 1. März lange suchen müssen, um auf vergleichbar unbeschwerte Unterhaltung zu stoßen. Die Berlinale gilt als Festival der politischen Problemfilme – und die neuen Leiter Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian wollen dem mit mehr Ernst und weniger Glamour als Gutelauneonkel und Ich-AG Kosslick gerecht werden.

Nicht überraschend

In den Wettbewerb um den Goldenen Bären wurde „My Salinger Year“ nicht geschickt. Er gehört der Reihe „Berlinale Special Gala“ an. Das Spezielle meint unter Berlinale-Gesichtspunkten das etwas minder Problembeladene. Hier laufen Filme über Elfenbrüder („Onward“), Kopfgeldjäger („High Ground“), Wunderheiler („Charlatan“ von Agnieszka Holland). Im Wettbewerb bietet man hingegen einen spanischen „Psycho-Sex-Thriller“ namens „El Prófugo“ auf, Burhan Qurbanis Verlegung von „Berlin Alexanderplatz“ ins heutige Berlin und das Flüchtlingsmilieu, das neue Werk des südkoreanischen Lieblingsgastes Hong Sangsoo („The Woman who ran“), der 2017 mit „On the Beach at Night Alone“ überzeugte, und ein erwartbar stumpfes Exerzitium mit Willem Dafoe, der in „Siberia“ von Abel Ferrara wieder einmal den kaputten, einsamen Mann darstellen darf. Überraschend ist diese Auswahl für den Wettbewerb beileibe nicht.

Statt exakt 400 Filmen wie anno 2019 werden nun insgesamt 342 Filme zu sehen sein – ein Umstand, der auch der Schließung der „Cinestar“-Kinos am Potsdamer Platz mit ihren acht Sälen zu verdanken ist. Noch immer freilich sind es viel zu viele Filme, die sich wechselseitig kannibalisieren. Täten es nicht auch deren 200? Wo bleiben die Komödien? Und was ist von Filmen zu erwarten, bei denen schon die Ankündigung einen Gähnreiz auslöst? „Zwischen Arbeit, Schwimmen und anonymem Sex lebt Sandro ein recht eintöniges Leben in der Hitze und Trockenheit Goiás in Brasilien.“ „Die Olivenbäume ihrer Großmutter sind von einer Käferplage bedroht.“ „Das berührende Porträt der achtjährigen Sasha, die ihr Geschlecht infrage stellt und damit zum Teil verstörende Reaktionen einer Gesellschaft hervorruft, die noch immer in einem biologistischen Junge-Mädchen-Denken verhaftet ist.“

Durchpolitisierte Branchenschau

Die Berlinale will sich in ihrer politischen Korrektheit von keinem Festival übertreffen lassen. Mariette Rissenbeek betont „unser Bekenntnis zur UN-Agenda 2030 und den #17Zielen“, Carlo Chatrian deutet Filme als „Aufforderung an die Zuschauer*innen, sich von Gewissheiten zu lösen“. Bleibt zu hoffen, dass hier nicht, wie so oft, unter neuen Gewissheiten der Konventionen allerletzter Schrei verstanden wird. An trotzigen Dickköpfen, die das windschnittig Risikolose meiden, herrscht Mangel.

Peinlich bleibt für eine derart durchpolitisierte Branchenschau der blinde Fleck auf der eigenen Brille. Nun erst und nur dank der Recherchen der Wochenzeitung Die Zeit wurde die tiefe Verstricktheit des Gründungsdirektors Alfred Bauer in den Nationalsozialismus ruchbar. Dass die Berlinale rasch eine historische Kommission zur Aufarbeitung einsetzte, war notwendig. Und sorgt für ein bitteres Geschmäckle und eine erste Lehre aus dem Filmjahrgang 2020: Die Moral, die man ins Schaufenster stellt, sollte man befolgen.
 

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Romuald Veselic | Fr., 21. Februar 2020 - 17:05

Zit: „Das berührende Porträt der achtjährigen Sasha, die ihr Geschlecht infrage stellt und damit zum Teil verstörende Reaktionen einer Gesellschaft hervorruft, die noch immer in einem biologistischen Junge-Mädchen-Denken verhaftet ist.“ Biologistisch?
Was ist das? Ich lernte mal in der Schule Biologie, als "Bio" genannt.
Schon deshalb, interessiert mich diese Kunst nicht. Es sind Antifilme, die mit Schablonen abgegossen wurden, um politisch zu wirken. Diese Produktionen, mit Ausnahmen, werden in den Filmcharts den Kellerstatus besitzen u. auf dem ARD-Merkel-Alt-Poesie-Kanal Anno 2040 gezeigt.
Meine Realität, die nicht einfach ist, bin ich nicht bereit, mit einer Realität, zu vertauschen, die im praktischen Verhältnis 1 zu 100 Millionen steht, und in meinem ganzen Leben nicht erleben werde. Ich will mich entspannen. Nachdenklich macht mich Deutschlands Zukunft. Das reicht mir für den Feierabend.

Christoph Ernst | Fr., 21. Februar 2020 - 17:23

wie ein byzantinisch um sich selbst kreisender Zombiezirkus, wo es nur um Pfründe, Zugang zu Trögen und belangslose Narzissmen geht. Die Feigheit der Kunst im Angesicht der Krise und ihr begeistertes Bejahen der Derrida'schen Formel suizidaler Autodestruktion darf man aber schon noch beklagen, oder?

Andreas Zimmermann | Mi., 4. März 2020 - 01:59

also genauer 1998. Damals habe ich unglaublich viele Filme gesehen, es war wie ein Rausch. Ein geplanter Urlaub fiel ins Wasser und ich hatte Zeit. Filme wie Good Will Hunting, Jackie Brown oder das geniale Wag The Dog waren Highlights, sind Heute Klassiker! Danach habe ich ein ziemliches Loch von über 10 Jahren und wollte so um 2013 oder 2014 nochmals eintauchen in diese Filmwelt, aber ich fand kaum etwas interessantes. Das war alles schon in der Beschreibung derartig langweilig oder abgehoben, das ich nur schwer einen interessanten Film fand - von dem ich dann noch enttäuscht war. Und das war noch vor dem großen Gender Gaga und hohem politisch korrekten Anspruch und einer entsprechend hohen Anzahl an Filmen die möglichst alle existierenden Minderheitenprobleme möglichst gut und farbenfroh darzustellen - dieser Event ist tot oder ist keiner mehr, jedenfalls für mich. Aber das ist ja in Berlin kein Wunder, diese Stadt schafft es einfach alles gegen die Wand zu fahren.

Ein Berliner