- Nostalgische Sehnsucht nach Ordnung
Alles so schön alt hier: Ob Mad Men, Lady Gaga oder die Inneneinrichtung von Starbucks. Retro- und Vintage-Trends haben unsere Kultur im Griff. Ist das noch kreativ oder schon spießig? Unser Trendexperte sucht nach Antworten
Dieser Artikel ist eine Kostprobe aus der Februar-Ausgabe des Cicero. Wenn Sie keine Ausgabe des Magazins für politische Kultur mehr verpassen wollen, können Sie hier das Abonnement bestellen.
Wie sie da so auf dem Kanapee liegt, gehüllt in einen Brokatmantel, umgeben von prächtigen Folianten – es könnte das Motiv einer kunstsinnigen Modekampagne sein. Und auch das Interieur ist von höchster Raffinesse: Vorhänge wie Wasserfälle aus Samt, blumenwuchernde Tapisserien, auf dem Plattenteller dreht sich knisternd eine Schellackscheibe. Die Frau ist ein Vampir, und Tilda Swinton spielt ihn in Jim Jarmuschs Film „Only Lovers Left Alive“ als weiblichen Dandy, der sich mit zunehmender Erschöpfung durch die Zeitläufte bewegt. Einzig in den Requisiten von früher gibt es Trost. Sie sind versiegelt mit Erinnerung, und aus der Patina lesen die unsterblichen Connaisseure die Zeichen einer glorreichen Vergangenheit.
Das Phänomen heißt Vintage, die Fetischisierung des Gestern, weil das Heute irgendwie ordinär, billig und beliebig geworden ist. Vielleicht musste der Vampir deshalb zum Superstar der popkulturellen Unterhaltung aufsteigen: Er personifiziert wie kein anderer die Idee, dass die entscheidenden Dinge in der Vergangenheit stattgefunden haben und alles Weitere nur ein Verwalten des bereits Geschehenen ist. Der auf die Vorzeit fixierte Vampir ähnelt, was Haltung und Selbstverständnis angeht, erstaunlich uns, den Vertretern eines aufgeklärten Geschmacksbürgertums. Unsere Retromanie kennt keine Grenzen, wir recyclen Moden, Looks und Stile, als gäbe es kein Morgen. Die Maxime der Moderne, die Dinge neu zu machen, hat sich erledigt. Innovation: ein Fortfahren im Rückwärtsgang.
Der letzte Schrei ist letztlich nur ein Echo, das gilt für die Musik, für Film und Fernsehen, fürs Design und für die Mode, wobei die Dekaden, die wir mit dem Firnis der nostalgischen Verklärung überziehen, immer näher rücken. Die Soulsängerinnen Amy Winehouse und Adele klingen wie ihre Großmütter aus den Sixties und Seventies. Lady Gaga und La Roux bedienen sich selbstbewusst beim Synthiepop der Achtziger, und Bands wie The White Stripes und The Hive plündern das Formenarsenal des Neunziger-Garagenpunk. Hollywood hat uns in den vergangenen Jahren so viele Remakes beschert, dass der Retroaspekt des Ganzen kaum noch zu Bewusstsein kommt: „Ocean’s Eleven“, „Tron“, „True Grit“, „Casino Royale“, allesamt Blockbuster mit historischem Gütesiegel.
Der Hosenträger als ironisches Stilzitat
Deutlich wird das Museale dieser Stoffauswahl erst, wenn buchstäblich historische Stoffe verwendet werden: Baz Luhrmann verfilmte 2013 noch einmal den „Großen Gatsby“, als gigantische Inszenierung der Zwanziger-und-Dreißiger-Jahre-Mode. Anfang dieses Jahres kam „The Wolf of Wallstreet“ ins Kino, Martin Scorseses Porträt eines Börsenspekulanten. Erzählte Zeit: Achtziger Jahre. Kostümbild: Vintage Armani. Es sollte einen nicht wundern, wenn demnächst Schulterpolster, breite Revers und Hosenträger in die Boutiquen Einzug halten, die klassische und jetzt mit ironischem Augenzwinkern getragene Montur des kapitalistischen Aufsteigers.
Die Stilzitate von gestern sind die Grundlage der Trends von morgen. Am eindrucksvollsten belegt dies die amerikanische Fernsehserie „Mad Men“: hohe Einschaltquoten, höchstes Kritikerlob, Preise en masse, und dies ausgerechnet für ein in Zeitlupe erzähltes Drama über Werbetexter in den fünfziger und sechziger Jahren. Don Draper, der Held des mittlerweile sechs Staffeln umspannenden Fernsehromans, trägt schmal geschnittene Zwei-Knopf-Sakkos und weiße, gestärkte Hemden. Sein Büro ist mit Eames-Stühlen möbliert, und wenn er sich einen jener vielen Drinks genehmigt, die seinen Tag präziser strukturieren als das Uhrwerk seiner Patek Philippe (Baujahr 1954), dann läuft im Hintergrund womöglich ein Frank-Sinatra-Song.
Die Pointe: In vielen Büros und Wohnungen von Brooklyn bis zum Berliner Prenzlauer Berg sieht es heute genauso aus, auch wenn die Männer tagsüber dort eher Bionade als Martinis trinken. Seitdem Banana Republic, eine Untermarke von Gap, eine „Mad Men“-Kollektion auflegte und das edle Einrichtungshaus Brooks Brothers Anzüge, „inspired by Mad Men“ anbot, sind Sixties-Silhouetten wieder salonfähig. Die Damen tragen entsprechend Nagellack wie damals die Stenotypistinnen auf dem Weg zum Date in eine Cocktailbar. Empfohlener Farbton der Marke Nailtini: „Bourbon Satin“.
Für den Einrichtungsstil jener Ära hat die Möbelbranche einen Begriff geschaffen: „Mid Century Modern“. Holzstühle von Arne Jacobsen, eine Artischockenlampe von Poul Henningsen, und weil man die geschliffenen Glaskaraffen mit Hochprozentigem beziehungsweise die Dockstation fürs iPad ja irgendwo abstellen muss, noch ein schön schlichtes Sideboard von Finn Juhl. Das Design der Fünfziger und Sechziger, inspiriert von den ästhetischen Innovationen des Bauhauses, gilt heute als stilistischer Mainstream. So stattet selbst die Ibis-Hotelkette ihre Lobbys mit Eames-Stühlen aus, und die Moderatorin Tine Wittler, RTL-Fachfrau für Wohnungsverschlimmbesserung, empfiehlt in ihrer Ratgebersendung bunt lackierte Neuauflagen von Arne Jacobsen.
Eigentlich eine paradoxe Entwicklung: Was noch bis vor kurzem als Geschmacksverirrung galt, ist heute Ausweis von Savoir-vivre und Stilbewusstsein. Wer auf sich hält, erwirbt einen Eames-Lounge-Chair oder einen Sessel von Hans J. Wegner, das heißt Klassiker der fünfziger Jahre. Leute, die noch mit den Möbeln dieser Zeit wohnten, bekamen panische Angst, als Spießer zu gelten, und trennten sich von allem“, sagt der Design-Galerist Clemens Tissi in einem Interview.
„Heute haben ihre Kinder die gleiche panische Angst, als Spießer zu gelten, wenn sie nicht komplett mit Möbeln eben dieser Ära eingerichtet sind.“ Tissi, der einstige Doyen der Vintage-Vermarktung, hat mittlerweile für die Retromanie nur Verachtung übrig. „Vintage bedeutet heute, Angst vor dem eigenen Geschmack zu haben, Angst davor herauszufinden, was man selber schätzt. Das neue Bürgertum hat in Vintage das Vokabular gefunden, um seine Orientierungslosigkeit zu kaschieren.“
Wenn schon eine schwedische Möbelkette in „Mid Century Modern“ macht und H&M-Schaufenster aussehen wie die Auslagen hipper Londoner Second-Hand-Shops, wird der Nachahmungs- und Wiederbelebungsfuror verdächtig. Was aber, wenn es sich beim Vintage- und Retrophänomen nicht nur um den Ausdruck einer Desorientierung handelt, sondern auch um eine weltanschauliche Neujustierung? Das Sammeln von Panton-Stühlen, Bebop-Platten und Chanel-Kleidern aus der Nachkriegsära wäre dann nicht einfach nur modisch aufgehübschte Reaktion, sondern eine Geste der Widerständigkeit.
Das Internet kennt keine Geschichte
Die Frage, ob Nostalgie unsere Kultur daran hindert voranzukommen oder umgekehrt, ob nostalgische Techniken des Sammelns, Archivierens und Wiederbelebens die Konsequenz sind aus einer Gegenwart, die immer flüchtiger und virtueller wird, ist offen. Die spätkapitalistischen Produktionsbedingungen und die Digitalisierung haben die Vintage-Begeisterung zwar nicht hervorgebracht, in jedem Fall aber beflügelt. Man sieht es einem C&A-Hemd nicht an, wer es zusammengetackert hat, und der Beat eines Technosongs kann an jedem beliebigen Ort der Welt auf einem Computer errechnet werden. Von einem Hermès-Tuch oder einer Billie-Holiday-Ballade lässt sich das nicht behaupten: Sie sind Zeugnisse einer bestimmten, historisch gewachsenen Fertigkeit.
Gerade weil im Netzzeitalter alles permanent verfügbar ist, macht sich ein Gefühl von Ort- und Zeitlosigkeit breit. Das Internet kennt keine Geschichte, sondern nur das Nebeneinander von Information, eine betäubende Synchronizität, in der die Antike lediglich einen Mausklick entfernt ist von den Swinging Sixties. Das Zitieren beziehungsweise Nachahmen – Retro – oder die Wiederbelebung eines vergangenen Zeitgeistphänomens – Vintage – sind hingegen Bemühungen um eine gültige Dramaturgie. Wer, wie Natalie Portman bei der Oscar-Verleihung 2011, ein über 50 Jahre altes Kleid von Dior vorführt, der will nicht nur auffallen, sondern Teil einer Erzählung sein. Hier wäre das die Historie eines stilprägenden Couturehauses und seiner Glanzzeit.
Die Robe ist jetzt im Museum gelandet, allerdings nicht als Original – das wurde an einen Couture-Sammler für 50 000 Dollar versteigert –, sondern per Filmeinspielung. In seiner kleinen, aber exzellenten Schau zum Thema Vintage zeigt das Museum für Gestaltung Zürich (bis 6. April) einen Mitschnitt der Preisverleihung. Die Werbung hat unser Bedürfnis nach geschichtlicher Tiefenschärfe in Zeiten virtueller Verflachung und Zerstreuung schon länger erkannt. „Heritage Branding“, die Darstellung des Markenerbes, heißt das Marketingkonzept.
Die Kaffeehauskette Starbucks wandte es an und möblierte Filialen mit Antiquitäten von europäischen Flohmärkten, gleichzeitig wurde das Firmenlogo nach Vorbildern aus den siebziger Jahren neu gestaltet. Rolex lancierte die „Icons“-Kampagne und präsentierte historische Persönlichkeiten von Martin Luther King über Winston Churchill bis Pablo Picasso als Werbeträger. Slogan: „This watch doesn’t just tell time. It tells history.“
Zeitzeugen sind wir alle selber, aber Akteure einer Geschichte zu sein, eines Abenteuers, einer wahrhaft großen Unternehmung, davon träumen wir. In den Dingen, das ist die Hoffnung, sind Reste tieferer Bedeutung archiviert, und deshalb durchstöbern wir Flohmärkte und Vintage-Boutiquen, Designstores und Plattenläden auf der Suche nach den Objekten unserer Begierde, die vor allem Speicher historischer Narrative sind. Und weil wir anders als Vampire nur wenig Zeit haben für die Ausbildung eines Distinktionsgefühls, verlassen wir uns auf die Institutionen des guten Geschmacks. Das muss nicht immer eine Galerie sein mit Möbelklassikern der Nachkriegsmoderne. Manchmal tut es, für den Anfang, auch eine Filiale von Ikea.
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