- Wie die Russland-Versteher auf Putin hereinfallen
In der öffentliche Debatte um die Ukraine und die Krimkrise bemühen die Fürsprecher Russlands nicht selten die Propaganda Putins. Ein Gastbeitrag
Was haben wir in den letzten Tagen zum Krim-Konflikt nicht alles aus Moskau gehört:
Bei den Soldaten, welche die Halbinsel besetzen, handle es sich nicht um russische Truppen, sondern um „Selbstverteidigungseinheiten der Krim“ (Präsident Wladimir Putin, Außenminister Sergej Lawrow, Verteidigungsminister Sergej Schojgu); die Ukraine sei nach dem Machtwechsel am 22. Februar 2014 „ein neuer Staat“, mit dem Moskau „nichts unterschrieben“ habe (Putin); „westliche Staaten“ beziehungsweise deren Geheimdienste hätten an diesem Tag einen „verfassungswidrigen Militärputsch“ in Kiew organisiert und den ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch vertrieben (Putin); er wisse noch nicht, ob er Truppen in die Ukraine schicken werde (Putin; zu diesem Zeitpunkt hatten diese die Krim schon praktisch okkupiert); „Unser Handeln ist vollkommen legitim. Ich bin selbst jederzeit für die Einhaltung der Normen des Völkerrechts eingetreten“ (Putin); „Alle ukrainischen Bürger müssen verstehen: Wir wollen sie schützen“ (Putin); die russische Militärintervention sei ein „Einsatz für die Menschenrechte“ (Lawrow); „Russland ist am Konflikt in der Ukraine nicht beteiligt“ (Lawrow); „Die russischen Soldaten sind Friedenstruppen, und ihre Mission ist es, den Einwohnern der Ukraine das Recht auf ihre Eigenheiten zu garantieren“ (Erklärung der Russisch-orthodoxen Kirche).
Russische Doppelstandards
Den neuen Behörden in Kiew verweigert Moskau die Anerkennung, weil sie „demokratisch nicht legitimiert“ seien – und das vor dem Hintergrund des Umstandes, dass internationale Beobachter dem Kreml bei zahlreichen russischen Wahlen seit dem Jahr 2000 Manipulationen und Fälschungen nachgewiesen haben. Russische „Touristen“ veranstalten in ostukrainischen Städten – bisher weitgehend ungehindert – teilweise gewaltsame Demonstrationen, stürmen Verwaltungsgebäude, erklären Amtsträger für „abgesetzt“ und verunglimpfen ukrainische Staatssymbole, insbesondere die Flagge. In Russland aber wird Verhöhnung der eigenen staatlichen Symbolik nach § 329 des Strafgesetzbuches mit Freiheitsentzug bis zu einem Jahr bestraft.
Das offizielle Moskau hat die Interventionen der NATO gegen Restjugoslawien 1999 und der USA gegen den Irak 2003 als völkerrechtswidrig verdammt, weil sie nicht vom Sicherheitsrat der UNO abgesegnet worden waren. Doch wie konnte der Kreml dann ohne jede Befassung dieses Gremiums Truppen auf die Krim schicken – wie schon im August 2008 nach Georgien? Wie ist es möglich, dass sämtliche veröffentlichte außen- und sicherheitspolitische Grunddokumente Russlands jeglichen Separatismus schroff verurteilen und die Unverletzlichkeit von Grenzen betonen – und dennoch Moskau gerade den „Anschluss“ der Krim – und damit eine flagrante Verletzung der Grenzen der Ukraine – vorbereitet?
Verträge, das Völkerrecht und gewaltsame Grenzänderungen
Überhaupt, zum Separatismus auf der Krim und zu seiner externen Unterstützung: Eines der Gründungsdokumente der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) ist die Erklärung von Alma-Ata vom 21. Dezember 1991. Diese betonte, dass sich die Unterzeichnerstaaten, darunter die Ukraine und Russland, um das „unveräußerliche Recht auf Selbstbestimmung“ bei gleichzeitiger „Anerkennung und Achtung der territorialen Integrität eines jeden und der Unverletzlichkeit bestehender Grenzen“ bemühen werden.
Das Statut der GUS vom 22. Januar 1993 legte in Artikel 3 klar eine „Unverletzlichkeit der Staatsgrenzen, eine Anerkennung der existierenden Grenzen und eine Absage an rechtswidrige territoriale Gewinne“ sowie die „territoriale Integrität der Staaten und die Absage an jegliche Aktivitäten, die auf die Zerstückelung fremden Territoriums abzielen“ fest. Dazu kommen noch die „Nichtanwendung von Gewalt oder von Drohungen mit Gewalt gegen die politische Unabhängigkeit eines Mitgliedsstaates [der GUS]“ und eine „gegenseitige Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten“.
Und am 15. April 1994 unterzeichneten die GUS-Staaten – mit der Ausnahme Armeniens – eine „Deklaration über die Einhaltung der Souveränität, territorialen Integrität und Unantastbarkeit der Grenzen der Teilnehmerstaaten der GUS“. Dieses Dokument bestätigte nochmals die Unverletzlichkeit der Grenzen zwischen den GUS-Staaten. Eine gewaltsame Aneignung von Territorien sei unrechtmäßig. Die Okkupation fremden Gebiets würde dessen rechtlichen Status nicht verändern, hieß es. Und die Unterzeichnerstaaten verpflichteten sich, auf jegliche militärische, politische wirtschaftliche und „beliebige andere Formen des Drucks sowie der Unterstützung und Nutzung des Separatismus“ zu verzichten. Die GUS-Staaten erteilten dem Einsatz oder der Androhung von Gewalt damit eine Absage. Sie würden sich nicht in innere Angelegenheiten anderer GUS-Mitglieder einmischen.
Die russische Okkupation der Krim verletzt zudem den ukrainisch-russischen Vertrag vom November 1990, das Budapester Memorandum von 1994, den ukrainisch-russischen Freundschaftsvertrag von 1997 sowie die Verträge über die Stationierung der russischen Schwarzmeerflotte auf der Krim aus dem gleichen Jahr. Vor allem aber verstößt sie gegen die KSZE-Schlussakte von 1975, konkret Korb 1 mit den Abschnitten III (Unverletzlichkeit der Grenzen), IV (territoriale Integrität von Staaten), V (friedliche Streitbeilegung) und VI (Nichteinmischung in innere Angelegenheiten). Die russischen Doppelstandards werden noch offensichtlicher, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Russland sein eigenes separatistisches Problem im nordkaukasischen Tschetschenien mit zwei Kriegen 1994 und 1999 „gelöst“ hat. Die Interventionen forderten Zehntausende zivile Tote und machten Hunderttausende Menschen zu Flüchtlingen. Schließlich wurde Ende 2013 ein Gesetz verabschiedet, das „öffentliche Aufrufe zur Verletzung der territorialen Integrität“ Russlands nach dem Strafgesetzbuch sanktioniert: Wenn solche „Aufrufe“ über Massenmedien Verbreitung finden, sind bis zu fünf Jahre Haft vorgesehen.
Die Wirkung der russischen Propaganda im Westen
Hier tut sich ein Abgrund an Zynismus auf. Man sollte eigentlich annehmen, dass sich die Initiatoren einer solchen Politik zumindest in Westeuropa und Nordamerika von selbst diskreditieren. Das ist allerdings erstaunlicherweise nicht der Fall. So machen sich nicht wenige Politiker, Wissenschaftler, Journalisten und Intellektuelle zu Anwälten von alten Moskauer Forderungen an die Ukraine: Sie plädieren etwa für die Erhebung von Russisch zur zweiten Staatssprache oder sprechen sich für eine „Föderalisierung“ aus. Letztere aber würde nur zu einer weiteren Lockerung des Zusammenhalts der Ukraine führen – und einen völligen Zerfall des Landes wahrscheinlicher machen.
Oder ist es vielleicht genau das, was man bezweckt? Manche westliche Stimmen übernehmen auch die Propaganda Moskaus völlig ungeprüft. So etwa die Meldung, dass nach dem Sturz Janukowitschs die russische Sprache „verboten“ worden sei. Doch wie sollte das gehen in der Ukraine, wo sich zumindest die Hälfte der Bevölkerung ausschließlich oder bevorzugt des Russischen bedient? Es sei hier aus einem Offenen Brief einer Gruppe russischsprachiger ukrainischer Schriftsteller in Charkiw an die russische Regierung zitiert, den die FAZ veröffentlichte: „Wir sind Bürger der Ukraine und brauchen keine ausländische Schutzmacht. Wir kommunizieren in unserer Arbeit wie auch darüber hinaus frei in russischer Sprache und glauben nicht, dass eine sprachliche oder ethnische Frage als Vorwand für eine militärische Intervention dienen darf. Alles, was wir brauchen, ist ein anständiges und friedliches Leben. Und die einzige Bedrohung dafür resultiert heute aus der Entscheidung der russischen Regierung, in unser Land einzudringen.“
Seit Ende Februar verbreiten europäische Medien zahllose Äußerungen von Personen, die sich vorher nie oder kaum mit der Ukraine oder Russland befasst haben. Nun, innerhalb weniger Tage, wollen sie zu „Spezialisten“ für diese Länder geworden sein und „gute Ratschläge“ erteilen. Für manche Experten scheint die Grenze zwischen Analyse und Lobbying zugunsten der russischen Position entweder nie existiert zu haben oder aber sehr durchlässig geworden zu sein. Und jenen im Westen, die – der russischen Position folgend – Janukowitsch nach wie vor als „rechtmäßigen Präsidenten“ der Ukraine betrachten, sei gesagt, dass ein Staatsoberhaupt, das Scharfschützen auf Protestierende schießen lässt, dann ins Ausland flieht und von dort aus fremde – in diesem Fall: russische – Truppen in sein Land ruft, Hochverrat begeht und nirgendwo würdig betrachtet würde, sein Amt weiter auszuüben.
Die EU ist gefordert
Putins Aktivitäten zeugen von seiner Entschlossenheit, der Ukraine so großen militärischen, wirtschaftlichen, politischen, propagandistischen und diplomatischen Schaden wie nur möglich zuzufügen. Es liegt nun an der Weltgemeinschaft – und insbesondere der EU –, die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine nicht nur mit Worten zu unterstützen. Der französische Philosoph und Politaktivist Bernard-Henri Lévy rief Anfang März auf dem Maidan in Kiew aus: „Europa verfügt über Sanktionsmöglichkeiten, und es muss sie einsetzen. Europa könnte zu Putin sagen: ‚Wir brauchen dein Gas, aber du brauchst unsere Euros – also Pfoten weg von der Krim!‘“ Tatsächlich gilt es, sich des Umstandes bewusst zu sein, dass alle Staaten, die russisches Erdöl und Erdgas kaufen, zur Finanzierung genau jener russischen Armee beitragen, die gerade die Krim besetzt und die „übrige“ Ukraine zumindest bedroht.
Man sollte sich aber auch in dieser Situation nicht zu pauschalen Meinungen über Russland hinreißen lassen. Viele Menschen dort lehnen Putins Politik – und konkret sein Vorgehen auf der Krim – ab. Sie bekunden das auch auf Friedensdemonstrationen, bei denen sie Schikanen durch die Polizei und Verhaftungen riskieren. Und die Achtung vor Kultur, Literatur, Musik und Theater Russlands wird uns Putin erst recht nicht nehmen.
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