- Warum Gauck Recht hat
Joachim Gauck findet nichts Kritikwürdiges am Begriff Neoliberalismus. Recht hat er. Die Bundesrepublik braucht den Präsidenten als liberales Korrektiv
Es ist immer eine Frage der Definition: Wenn man unter dem Begriff Neoliberalismus nur versteht, dass Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden, dass Investmentbanker in London und New York in den vergangenen Jahren teilweise Boni von 80 Millionen Euro im Jahr erhalten haben, sie gleichzeitig die Märkte, auf denen sie aktiv waren, zu ihren Gunsten manipuliert haben oder seit Jahren die Gehälter der Vorstände in die Höhe schießen, während die Einkommen der Arbeitnehmer gleichzeitig stagnieren, dann wäre eine Lobrede des Bundespräsidenten Joachim Gauck auf einen so verstandenen Neoliberalismus tatsächlich ein Skandal.
Aber sollte man ihn denn so verstehen und definiert Gauck ihn denn auf diese Art? Nein, der Bundespräsident hat in seiner Rede in Freiburg zum 60. Jubiläum des Walter-Eucken-Instituts zu Recht darauf hingewiesen, dass dessen Namensgeber schon im Dritten Reich eine wirtschaftliche Ordnung entworfen hat, „die den Einzelnen weder einer staatlichen Bevormundung unterwirft noch einem Markt, auf dem die Starken so groß werden können, dass sie selbst die Regeln bestimmen“. Nicht umsonst gilt Eucken als einer der Väter der in der Bundesrepublik seit Jahrzehnten so erfolgreichen Sozialen Marktwirtschaft, die Ludwig Erhard dann fast im Alleingang politisch durchsetzte. Eucken und die von ihm begründete „Freiburger Schule“ wandten sich entschieden gegen das komplett freie Spiel der Kräfte, den „Laissez Faire“-Kapitalismus angelsächsischer Prägung und den von ihm propagierten Nachtwächterstaat. Das Neue am „Neo“-Liberalismus, wie Eucken ihn verstand, war ja gerade, dass Regeln eingeführt werden sollten, um die potenziell zerstörerischen Kräfte eines unregulierten Marktes zu zähmen.
Neoliberalismus als Antwort auf Planwirtschaft
Neu war auch, dass Eucken als Antwort auf den Naziterror und die kommunistische Planwirtschaft eine Verbindung zwischen der Freiheit der Gesellschaft und wirtschaftlicher Freiheit herstellte. Dem damaligen Zeitgeist entsprach das nicht, wie Gauck anmerkt: „Gewerkschaften hofften in den ersten Nachkriegsjahren auf Verstaatlichung und mit ihnen natürlich viele Bürgerinnen und Bürger. Industrievertreter hofften auf die Rückkehr zu liebgewonnenen Kartellen.“ Ein Wirtschaftswunder hätte es in der Bundesrepublik nicht gegeben, hätte eine dieser beiden Strömungen sich durchgesetzt. Die Geschichte hat gezeigt, dass Eucken mit seiner Grundeinsicht recht hatte: „Erst die Begrenzung von Macht durch freien, fairen Wettbewerb ermöglicht Vielen die Teilhabe.“
Die Diskussion, die Gauck angestoßen hat, ist aber nicht nur historisch interessant, sondern brandaktuell. Denn die Skepsis in Deutschland gegenüber Marktwirtschaft und Wettbewerb ist nach wie vor erstaunlich groß. Wir sehen gerne die Risiken, aber selten die Chancen des Wettbewerbs. Dabei hat Gauck recht, wenn er sagt: „Ungerechtigkeit gedeiht nämlich gerade dort, wo Wettbewerb eingeschränkt wird, durch Protektionismus, Korruption oder staatlich verfügte Rücksichtnahme auf Einzelinteressen.“ Gauck verschweigt in seiner Rede auch nicht die Exzesse der Finanzindustrie der vergangenen Jahre, sondern weist daraufhin, dass weltweit eine Diskussion eingesetzt hat, die Märkte neu zu regulieren. Es stimmt auch nicht, dass Gauck sich in seiner Rede nicht mit dem Thema der Verantwortung auseinandersetzt. Er weist darauf hin, dass im Ergebnis dieser Regulierungsdiskussion derjenige für Verluste haften soll, der sie verursacht hat. Im Zuge der Globalisierung muss auch die internationale Rahmensetzung verbessert werden. Es wäre allerdings zu viel verlangt, wenn man vom Bundespräsident diesbezüglich konkrete Lösungsvorschläge erwarten würde.
Ein geordneter Markt ist ein guter Markt
Aktuell sind Gaucks Äußerungen auch deswegen, weil er ein Zuviel an sozialen Leistungen des Staates infrage stellt und als Gefahr für die Freiheit ansieht: „Auch gut gemeinte Eingriffe des Staates können dazu führen, dass Menschen auf Dauer aus- statt eingeschlossen werden.“ Er stelle sich eine aktivierende Sozialpolitik so vor wie ein Sprungtuch, das Stürze abfedert, und denjenigen, die es brauchen, dazu verhelfe, wieder aufzustehen und für sich selbst einzustehen, sagt Gauck. Auch wenn sich der Bundespräsident nach den hiesigen Gepflogenheiten nicht in die Tagespolitik einmischen soll, lesen sich diese Sätze wie eine Warnung an die Große Koalition, in ihrem Ausgabenüberschwang bei Rente und Mindestlohn nicht die Erfolge der Agenda 2010 zu gefährden. In diesem Punkt hat der Protestant Gauck sogar schon unerwartete Unterstützung aus der katholischen Kirche erhalten. „Es ist ein Irrtum zu glauben: umso mehr umverteilt wird, umso besser“, sagte Kardinal Marx, der ebenfalls bei dem Symposium in Freiburg sprach. Der Sozialstaat solle Chancen-, nicht aber unbedingt auch Leistungsgerechtigkeit sicherstellen. Vielmehr müsse er ordnungspolitisch klug ausgestaltet sein und richtige Anreize setzen, sagte der Münchener Kardinal.
Der Politik wird es zumindest nicht schaden, wenn der Bundespräsident sich hin und wieder als liberale APO aus dem Schloss Bellevue einmischt: „Denn die Vorzüge des Wohlfahrtsstaates werden in der politischen Diskussion mehr denn je abgewogen gegen die daraus folgenden Probleme einer hohen Staatsverschuldung und einer Lähmung der wirtschaftlichen Antriebskräfte.“ Dieser Satz ist zwar nicht von Gauck und auch nicht von Kardinal Marx, sondern stammt aus einem Gastbeitrag von Angela Merkel für die Financial Times Deutschland aus dem Jahre 2005, also aus ihrer neoliberalen Phase sozusagen. Falsch ist er aber deswegen noch lange nicht.
Contra Gauck: Lesen Sie hier, warum Gauck irrt
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