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Strafprozess gegen Fluchthelfer - Das Klischee vom bösen Schleuser

Vor dem Landgericht Essen läuft der größte Strafprozess gegen „Schleuser“ seit zehn Jahren. Die Männer haben syrische Kriegsflüchtlinge zu ihren Verwandten nach Deutschland gebracht – und werden wie Kriminelle behandelt. Ein offener Brief an die deutsche Polizei und Justiz

Autoreninfo

Stefan Buchen ist Fernsehautor beim ARD-Magazin Panorama. 2011 wurde er mit dem Leipziger Preis für die Freiheit und Zukunft der Medien ausgezeichnet.

So erreichen Sie Stefan Buchen:

Liebe Grenzschützer,

glauben Sie nicht, Sie müssten sich einen Justizfehler vorwerfen lassen. Nein. Sie haben alles richtig gemacht.

Sie haben das Hinüberschwappen der syrischen Kriegsmisere in unser Land „durch das rechtzeitige Heranführen von Polizeikräften“ vereitelt. Bravo, Sie waren energisch wie ein conseil de guerre! Wenn sich jenseits des Mittelmeers die streitsüchtigen Orientalen untereinander bekriegen und zerfleischen, dann haben wir uns das Gezänk und seine Folgen vom Leib zu halten. Es soll uns nur insofern kümmern, als wir wachsam unsere Grenzen gegen den überlebenden Abschaum verteidigen. Niemand kann das besser als Sie, mit rechtsstaatlich sauberen Mitteln. Juristisch einwandfrei. Schließlich haben Sie den Spruch geprägt, dass man auch für ein standrechtliches Todesurteil juristisches Können benötigt. Damit haben Sie schon in frühen Zeiten weitreichende Ansprüche an sich selbst gestellt. Diese hohe moralische Latte überspringen sie immer wieder souverän.

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Akribisch haben Sie gezählt, dass in Syrien „20.000 Schleusungswillige“ auf ihre illegale Einreise nach Deutschland warten. Ein einziger Verbrecher schleust täglich vier von diesen Parasiten mit Flugzeugen, Lastwagen und Schiffen in unser Land, haben Sie festgestellt. Bald will er sein Tageskontingent auf acht erhöhen. Das Gefährliche ist, dass dieser Staatsfeind die syrischen Frauen, Männer und Kinder wohlbehalten über die deutche Grenze bringt. Wenn sie wenigstens auf dem Weg absaufen oder ersticken würden! Nein, diesem Typen ist das Leben seiner orientalischen Blutsverwandten heilig. Er hat sich im bankrotten, korrupten Griechenland versteckt. Da hat er leichtes Spiel, besticht griechisches Flughafenpersonal und setzt die Leute, obwohl sie keine Papiere haben, in den Flieger nach Deutschland.

Ein bisschen Abenteuer muss sein


Fernab vom Zugriff der deutschen Polizei und Justiz wähnt sich dieser Halunke. Aber, liebe Grenzschützer, er hat weder mit Ihrer Hartnäckigkeit gerechnet noch mit Ihrem langen Arm. Sie wissen, dass er Hame heißt und wo in Athen er wohnt. Denn jedes seiner Telefonate haben Sie abgehört, ob das nun von einem richterlichen Beschluss gedeckt war oder nicht. Auf derlei Kleinigkeiten kommt es in einem solchen procès de famille nicht an. Polizei und Justiz ziehen an einem Strang. So viel esprit de corps muss erlaubt sein, wenn es um den Schutz der Grenzen geht. Sie haben den Schleuserkriminellen in Athen festgenommen und in Handschellen nach Deutschland geflogen. Elegant berufen Sie sich auf den „Europäischen Haftbefehl“, aber gefühlt haben Sie sich wie bei einem „Rendition Flight“ der CIA. Ein bisschen Abenteuer muss sein. Das motiviert das eigene Personal. Schließlich ist das hier ein Krieg um die Reinhaltung unserer demografischen Struktur.

Sie wissen es zu schätzen, dass politische Meinungen in der ganzen Sache ohne Belang sind. Sie handeln allein nach den objektiven Geboten des Strafrechts. Und das sagt ganz klar: wer Ausländer nach Deutschland schleust, ist ein Verbrecher. Egal ob die „Schleusungswilligen“ moldawische Frauen, vietnamesische Nagellackierer oder eben syrische Kriegsflüchtlinge sind. Ausländer ist Ausländer. Gesetz ist Gesetz. Es gibt keinen premier magistrat, der darüber stünde und Ihnen einen anderen Befehl gäbe.

Diesem Gesetz verschaffen Sie Geltung, gegen alle Tricks der orientalischen Taschenspieler. Ihr ewiges Verdienst wird bleiben, dass Sie sich von Hanna L., dem Chef der kriminellen Bande, nicht haben hinters Licht führen lassen. Nur Sie konnten das raffinierte Täuschungsmanöver dieses Schlangenkopfes vom Tigrisufer durchschauen. Dreißig Jahre lang hat er zum Schein als Ingenieur in einer Essener Baufirma gearbeitet. Er hat eine Deutsche geheiratet und Mischlinge mit ihr in die Welt gesetzt. Er wohnt in einer Doppelhaushälfte, die auf seinen Namen im Grundbuch registriert ist. Das perfekte Doppelleben. Hinter der perfiden bürgerlichen Fassade in Essen im Ruhrgebiet macht er sich an sein verbrecherisches Werk.

Absolute Konformität mit dem Gesetz


Konspirativ nimmt der Ingenieur Geld an. Seine Kunden, in Deutschland lebende Syrer, überreichen es ihm in Plastiktüten und Briefumschlägen. Das Geld wird in Syrien ausgezahlt, vom Bruder des Ingenieurs an die Verwandten der Kunden. Diese bezahlen davon ihre illegale Einreise nach Deutschland. Der Ingenieur überweist also den “Schleuserlohn”. Das macht ihn zum Treuhänder, zum heimlichen Chef der Schleuser. Außerdem verstößt er gegen das Zahlungsdiensteaufsichtsgesetz (ZAG) und gegen das über Syrien verhängte Wirtschaftsembargo. Das richtet sich sebstverständlich nicht nur gegen Assad und seine Mischpoke, sondern gegen alle Syrer. Der Ingenieur ist eigentlich kein Ingenieur. Er ist ein Hawala-Banker und Schleuserbandenchef.

Nur Sie konnten das herausfinden, weil Sie vom Makel der incurie und der inintelligence befreit sind. Sie gehen mit der Zeit, verpassen keine Fortbildung. Nach dem 11. September haben Sie das „Hawala-Banking“ in Ihr Fachvokabular aufgenommen. Von Ihren US-amerikanischen Partnern haben Sie gelernt, dass es aus dem „Orient“ stammt, der „Finanzierung undurchsichtiger Geschäfte“ dient und im „Gefahrenbereich Terrorismus“ anzusiedeln ist.

Sie haben den vermeintlichen Ingenieur 15 Monate lang abgehört und observiert. Sonst hätten Sie das Detail mit den Plastiktüten nicht bemerken können. Sie haben Entsetzliches festgestellt. Der Oberschleuser handelt aus „Zugehörigkeitsgefühl“ zu anderen Syrern. Crime! Er gilt bei seinen Landsleuten als „seriös und zuverlässig“. Crime! Wenn eine Flucht scheitert, zahlt er das Geld an die Kunden zurück. Crime! Er ist zwar orthodoxer Christ, aber er hilft „Syrern aller Glaubensrichtungen“. Crime! Er spricht deutsch, arabisch, kurdisch und aramäisch. Crime!

Sie waren konsequent. In absoluter Konformität mit dem Gesetz haben Sie durchgegriffen. Sie haben den Schlangenkopf und seine ganze Bande festgenommen, in U-Haft gesteckt und vor Gericht gestellt. Bis zu zehn Jahre Haft drohen den Verbrechern, sagt der Staatsanwalt. Die Angeklagten haben einfach zu viele Männer, Frauen und Kinder aus Syrien nach Deutschland gebracht, illegal und mit falschen Papieren. 

Auf der Seite des Gesetzes und der Menschlichkeit

Das Volk, dessen Grenzen und Blut Sie schützen, wissen Sie hinter sich. Sollten sich dennoch einzelne Zweifler und Weichlinge regen, haben Sie ein unerwartetes Argument. Sie stehen nämlich nicht nur auf der Seite des Gesetzes, sondern auch der Menschlichkeit, der humanité. Sie geben an, die Flüchtlinge vor den Schleusern zu schützen. Sie legen dar, dass die Schleuser die Flüchtlinge quälen und in Lebensgefahr bringen. Sie beschuldigen die Verbrecher des „Einschleusens mit Todesfolge“. Sie streuen, dass die Bande schuld ist am Untergang eines Flüchtlingsbootes in der Ägäis mit 62 Toten. Sie wissen, dass Sie so eine campagne de presse auslösen, auf deren Flügeln Sie getragen werden. Das öffentliche Urteil ist schon gefällt. Kunstvoll haben Sie ein préjugé kreiert. Dass die Toten zuvor von einem Patrouillenboot der EU-Küstenwache am Grenzübertritt gehindert und zurückgedrängt wurden und dass die Angeklagten mit diesem Unglück gar nichts zu tun haben, verschweigen Sie geschickt. Wenn die Justiz beschließt, nicht die Wahrheit zu sagen, wird niemand sie sagen. Es war die Illusion eines optimistischen Zeitalters, dass die Wahrheit, la vérité, von selbst und aus sich heraus ans Licht treten wird.

Liebe Grenzschützer, Justitias Wagschalen sind bei Ihnen in guten Händen. Niemand weiß Milde und Härte so gerecht zu verteilen wie Sie. Die Nachkriegszeit war die Stunde der Gnade für Urkunden- und Passfälscher in Deutschland. Damals hatten Nazis das legitime Anliegen, sich durch Annahme einer neuen Identität der Strafverfolgung zu entziehen. Für diese verständlichen Taten, die aus einer nachvollziehbaren persönlichen Notlage geboren wurden, erließen Sie eine kluge, friedenstiftende Amnestie. Andernfalls hätte es ja auch den einen oder anderen von Ihnen getroffen, liebe Grenzschützer. Niemand musste wegen solcher Vergehen ins Gefängnis.

Der Tradition der Milde gegenüber Nazis sind Sie seitdem weitgehend treu geblieben. Sie wissen, dass dieses Thema sich am besten von selbst erledigt. Die Nazis sterben irgendwann oder sie jagen sich in die Luft. Strafermittlungen sollten sich auf Nichtdeutsche konzentrieren. Zum Beispiel auf die Angehörigen der Mordopfer der Nazis. Oder eben auf die Schlepper von Flüchtlingen.

Sie wissen, wo Sie die Schuld und die Schuldigen zu suchen haben, wann Zeit für eine Gnadenlobby ist und wann nicht. Das haben Sie mit Ihrem ersten Urteil gegen ein Mitglied der Schleuserbande bewiesen. Der Mann hat ein paar Mal in seinem Taxi syrische Flüchtlinge ohne Papiere über die Grenze nach Deutschland gefahren. Dafür haben Sie ihm zwei Jahre und zehn Monate gegeben. Es gibt keinen Grund, sich über Sie zu beklagen, liebe Grenzschützer. Es gibt nur Anlass zu Lob und Genugtuung.

Stefan Buchen arbeitet als Fernsehjounalist für das ARD-Politikmagazin Panorama. Über den „Schleuserprozess“ in Essen kann man hier seine Filmberichte anklicken:

Wie aus Menschenrettern Kriminelle werden

Fluchthelfer von Syrern vor Gericht

 

 

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