- Europa – Mein liebster Feind?
„Bürokratiemonster“, „Regulierungswahn“, „Schuldenunion“: Die Europa-Berichterstattung ist oft einseitig und unfair.
Mal ganz ehrlich, wie war Ihre erste Reaktion auf die Bekanntgabe des diesjährigen Friedensnobelpreisträgers? Kopfschütteln? Hohngelächter? Ein zynischer Kommentar? Ich vermute, kein EU-Bürger hat vor Freude einen Luftsprung gemacht, als die Nachricht ihn erreichte. Eher beschlich einen doch das Gefühl, so etwas wie die letzte Salbung zu erleben: Drei Kreuze und ein Halleluja, möge der Patient in Frieden ruhen. De mortuis nil nisi bene.
In der Tat mutet es einigermaßen grotesk an, dass ausgerechnet ein Komitee aus ehemaligen norwegischen Spitzenpolitikern diese Auszeichnung an eine Gemeinschaft vergibt, zu der zu gehören die eigene Bevölkerung zwei Mal abgelehnt hat. Und wenn in Norwegen morgen ein drittes Referendum über einen EU-Beitritt abgehalten würde, bekäme die Nein-Fraktion unter Garantie noch deutlich mehr Zulauf als beim letzten Versuch: 52,2 Prozent waren es im Jahr 1994 – wohlgemerkt zu einer Zeit, da kein Wölkchen den Himmel über der Europäischen Union zu trüben schien. (Wie die Deutschen in dieser Frage abstimmen würden, wenn man sie denn ließe, darüber wollen wir an dieser Stelle ohnehin besser schweigen.)
Und dann auch noch die aberwitzig scheinende Begründung, die uns der Osloer Rat der Friedensfreunde über die Grenze hinweg zuruft: „Die Arbeit der EU repräsentiert eine Bruderschaft zwischen den Nationen“, heißt es da zum Beispiel. Schon klar, wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Oder meinen die das ernsthaft so? Dann wären wir und unsere mediterranen Brüder (und Schwestern) zumindest ein interessanter Fall für die gerade in Norwegen mit besonderer Überzeugung praktizierte Familientherapie.
[gallery:Griechenland unter: Karikaturen aus zwei Jahren Eurokrise]
In dieser Art und Weise könnte ich jetzt noch seitenlang weiterschreiben – eine verächtliche Passage an die nächste reihen, garniert mit den ubiquitären Empörungsschlagworten wie „Bürokratiemonster“, „Regulierungswahn“, „Schuldenunion“ oder „Demokratiedefizit“. In Wahrheit ist es eine Schande, dass den meisten von uns, für die „Krieg zwischen Deutschland und Frankreich undenkbar“ ist, wie das Nobelpreiskomitee völlig zu Recht feststellt, der Defätismus ganz besonders leicht fällt, wenn von den europäischen Institutionen die Rede ist.
Das geht auch mir so und funktioniert besonders prächtig in meiner Branche, dem Journalismus. Es soll nichts beschönigt werden, wo es nichts schönzureden gibt – aber warum eigentlich war selbst seriösen Medien über viele Jahre hinweg die berühmt-berüchtigte (und längst abgeschaffte) Vorschrift zum Krümmungsgrad von Gurken wichtiger als eine kontinuierliche Berichterstattung über die vielen von der EU in Gang gesetzten Reformen? Weil das Spiel mit der Empörung aber offenbar so gut funktioniert, spielen auch Politiker in den Mitgliedstaaten eifrig dabei mit – und schieben nur allzu gern „Brüssel“ den Schwarzen Peter zu, um von eigenen Versäumnissen abzulenken.
Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse hat es mit seinem unlängst erschienenen Buch „Der europäische Landbote“ auf sich genommen, gängige Vorurteile gegenüber der EU und ihren Behörden zu hinterfragen und geradezurücken. In den Amazon-Verkaufscharts steht er damit irgendwo um Platz 1000. Thilo Sarrazins Titel „Europa braucht den Euro nicht“ hingegen war selbstredend ein Bestseller.
Keine Frage, der Friedensnobelpreis für die EU ist etwas anderes als ein Meistertitel bei der EM: Große Emotionen weckt diese Trophäe trotz der vom Komitee beschworenen „Bruderschaft zwischen den Nationen“ nicht. Aber vielleicht sollten wir bei Gelegenheit einmal darüber nachdenken, warum uns die Fußballnationalmannschaft wichtiger ist als ein Europa ohne Krieg.
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