- Die großen deutschen Kanzlermythen
Wenn Kanzler zur Legende werden sollen, nehmen es die Parteien mit der historischen Wahrheit nicht so genau. So steuern auch die Kohl-Festspiele gerade auf einen Höhepunkt zu. Der Mythos entfernt sich dabei immer weiter von der Realität, wie schon einmal: bei Willy Brandt
Vor 30 Jahren wurde Helmut Kohl zum Bundeskanzler gewählt. Am 1. Oktober 1982 stützten CDU, CSU und FDP den sozialdemokratischen Amtsinhaber Helmut Schmidt mit einem konstruktiven Misstrauensvotum und begründeten eine schwarz-gelbe Ära. 16 Jahre, länger als jeder andere Kanzler, hat Kohl das Land regiert. In vier Amtszeiten hat der Christdemokrat aus persönlicher Überzeugung die europäische Integration vorangetrieben. Nach dem Fall der Mauer hat er früher als alle anderen Mitstreiter den historischen Moment erkannt und gegen sämtliche Widerstände in den eigenen Reihen und bei den vier Alliierten auf eine schnelle Wiedervereinigung gedrängt. Doch an Kohl scheiden sich die Geister nach wie vor.
Konrad Adenauer oder Willy Brandt wurden nach ihren Regierungsjahren zum Mythos. Helmut Schmidt wird trotz seiner 93 Jahre nicht müde, an seiner eigenen Legende mitzustricken. Die ganze Nation liegt ihm und seinen nicht immer mehr ganz klaren Gedanken zu Füßen. Die SPD fragt ihn mittlerweile gerne um Rat. Der elf Jahre jüngere Helmut Kohl hingegen sitzt in seinem Rollstuhl in Oggersheim und muss zusehen, wie sein politisches Erbe die Deutschen immer noch polarisiert.
Das soll sich jetzt ändern. Die Kohl-Festspiele steuern auf ihren Höhepunkt zu. Abbitten, Festakte, Sonderbriefmarken: Eifrig sind die Christdemokraten darum bemüht, den Altkanzler wieder aufs historische Podest zu heben. Selbstbewusst feiern sie ihren Kohl als großen Staatsmann, als Europäer und Kanzler der Einheit. Vergessen sind die schwarzen Kassen, vergessen der niedergelegte Ehrenvorsitz, vergessen die verpassten politischen Reformen, die Fehler beim Aufbau Ost und bei der Einführung des Euros.
Selbst Angela Merkel, die Helmut Kohl einst mit einem Gastkommentar in der FAZ vom Sockel gestoßen hatte, würdigte in diesen Tagen mit salbungsvollen Worten seine Verdienste in der Innen- und der Außenpolitik. Angesichts der sich zuspitzenden Eurokrise braucht Merkel die Unterstützung der alten Europäer in der CDU mehr denn je. Schließlich stößt ihr Eurorettungskurs in den eigenen Reihen auf immer mehr Skepsis.
Acht Bundeskanzler haben das Land seit 1949 regiert. Um fast alle ranken sich Mythen und Legenden. Die Schattenseiten vieler ehemaliger Bundeskanzler scheinen dabei heute fast vergessen.
Zweifelsohne begründete Adenauer die Kanzlerdemokratie und die politische Vorherrschaft der CDU in der alten Bundesrepublik, unbestritten sind seine Verdienste für den Wiederaufbau des kriegszerstörten Landes und dessen politische, ökonomische und militärische Eingliederung in den Westen. Aber Adenauer beförderte eben auch die die kollektive Amnesie der Deutschen bezüglich der nationalsozialistischen Verbrechen und er vertiefte mit seinem Primat der Westintegration die deutsche Spaltung.
Gleichzeitig war Adenauer ein autokratischer Parteiführer, der noch vom Kaiserreich und der Weimarer Republik geprägt worden war. Erst zögerte er lange, sich der CDU anzuschließen, dann sicherte er sich mit allerlei Tricks die Kanzlerschaft und auch die Vormachtstellung in der CDU. Dabei interessierte Adenauer die Partei in Wirklichkeit wenig. Von demokratischer Willensbildung und innerparteilicher Demokratie hielt er nichts. In 15 Jahren als CDU-Vorsitzender hat er nur ein einziges Mal die Bonner Parteizentrale besucht.
Seite 2: Willy Brandt, der Medienkanzler
Auf Adenauer folgte Ludwig Erhard. Bis heute lässt die CDU keine Gelegenheit aus, um diesen als Vater der Sozialen Marktwirtschaft zu feiern. Doch seine Meriten erwarb sich der Wirtschaftsprofessor vor allem in der unmittelbaren Nachkriegszeit, als er in den drei Westzonen für freie Märkte und eine schnelle Währungsreform eintrat. Als Adenauers Wirtschaftsminister hingegen wirkte Erhard eher glücklos. Alle großen Sozialreformen, mit denen der Kanzler in den Wirtschaftswunderjahren den sozialen Ausgleich organisierte, etwa die Einführung der umlagefinanzierten, dynamischen Rente, lehnte Erhard ab. Gegen den Willen Adenauers wurde Erhard 1963 dessen Nachfolger. Doch als Kanzler scheiterte Erhard schnell, bereits nach drei Jahren wurde er von seinen Parteifreuden aus dem Amt gejagt.
Statt Erhard wurde Kurt Georg Kiesinger der Kanzler der Großen Koalition. Dieser regierte zwar erfolgreich, bescherte Deutschland wichtige Reformen, Vollbeschäftigung und einen ausgeglichenen Haushalt. Trotzdem ist Kiesinger heute fast vergessen. Anders als Willy Brandt, jenem sozialdemokratischen Kanzler dessen Vita und dessen Leistungen als Politiker und Kanzler vor allem von Sozialdemokraten verklärt und mystifiziert wird.
Als Brandt 1969 an der Spitze einer sozialliberalen Koalition zum Kanzler gewählt wurde, zweifelten viele Sozialdemokraten an ihm. Schließlich hatte dieser drei wenig erfolgreiche Wahlkämpfe hinter sich. Kanzler konnte er nur werden, weil CDU und CSU die absolute Mehrheit denkbar knapp verpasst hatten. Brandts neue Ostpolitik hatte auch in den eigenen Reihen Gegner.
Der Emigrant Willy Brandt galt als Exponent des anderen Deutschlands, das sich Hitler widersetzt hatte und zu den Verbrechen des Nationalsozialismus nicht schwieg. Im Ausland wurde der SPD-Kanzler als Staatsmann geachtet. Doch erst im Wahlkampf 1972, nach dem Kniefall von Warschau, dem Friedensnobelpreis und nach dem gescheiterten Misstrauensvotum wurde Brand auch in Deutschland zum Charismatiker, zum Idol einer ganzen Generation und zum Liebling aller Sozialdemokraten.
Brand hatte ein Gespür für symbolische Gesten, war der erste Medienkanzler. Aber er litt auch unter schweren Depressionen, im Amt war er überfordert, in der Ölkrise von 1973 agierte er hilflos, seine Regierungsbilanz ist schlecht. Das hatte sich 1974 längst auch in der SPD herumgesprochen. Wäre er nicht wegen der Guillaume-Affäre zurückgetreten, hätten ihn die Genossen Herbert Wehner und Helmut Schmidt vermutlich vertrieben. Seine innerparteiliche Demontage hatte längst begonnen. Doch kaum war Brandt nicht mehr im Amt, begann die sozialdemokratische Seligsprechung.
Die Parteien sind Erinnerungsgemeinschaften. Adenauer und Erhard, Brandt und Schmidt – die Parteien brauchen Mythen, Helden und Legenden, auch wenn sie es dabei mit der historischen Wahrheit nicht so genau nehmen. Sie sind der Kitt, der Parteien flügelübergreifend und trotz Interessensgegensätzen und Intrigen zusammenhält. Kein Wunder, dass sich die CDU in Sachen Mythos Kohl in diesen Tagen derart ins Zeug legt.
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