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Afghanistan-Abzug - Eine logistische Mammutaufgabe

Die internationalen Kampftruppen ziehen aus Afghanistan ab. Bis Ende 2014 sollen riesige Materialmengen in die Besitzländer zurück gebracht und die militärischen Stützpunkte umgebaut oder geschlossen werden. Ein militärischer, politischer und finanzieller Kraftakt

Autoreninfo

Heidir Reisinger ist Expertin für Sicherheitspolitik am Nato Defense College in Rom.

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Man stelle sich folgende Situation vor: Aus einem Mietshaus ziehen alle 50 Mietparteien gleichzeitig aus. Manche jedoch nicht vollständig. Es soll noch Hausrat zurückbleiben, um einzelnen Mietern einen noch nicht näher definierten Aufenthalt zu ermöglichen. Das Mietshaus ist in einem  problematischen Zustand und liegt in einer gefährlichen Nachbarschaft, dazu noch weit entfernt vom neuen „Wohnort“. Die scheidenden Mieter haben unterschiedliches Umzugsgut, unterschiedliche Zeitpläne und damit auch völlig unterschiedliche Bedürfnisse. Sie konkurrieren um Umzugsunternehmen und günstige Konditionen.

Ungefähr so verhält es sich mit dem Abzug der Nato-Kampftruppen aus Afghanistan. 50 truppenstellende Nationen haben begonnen, ihre Truppen und Gerätschaften abzuziehen oder „umzugruppieren“ wie es auf Nato-Deutsch heißt. Dieses „Redeployment“ hat seine Tücken.

1. Für einen Abzug in dieser Größenordnung gibt es in der Geschichte der Nato kein Beispiel. Nach Schätzungen der Allianz sollen 125 000 Container und 80 000 Fahrzeuge aus Afghanistan abgezogen werden. Aneinandergereiht ergäbe das eine Strecke von Berlin nach Paris. Für diesen Abzug existieren keine Blaupausen. Lediglich die USA können auf umfangreiche Erfahrungen von ihrem Abzug aus dem Irak zurückgreifen. Der Einsatz des Bündnisses in Afghanistan wird damit nicht nur zum Katalysator für die Fähigkeit zur Zusammenarbeit, sondern auch zu einer gemeinsamen Koordinierungsaufgabe.

2. Genau genommen zieht nicht „die Nato“ ab, sondern – wie das Mietshaus-Beispiel zeigt – die 50 truppenstellenden Nationen. Jeder kocht dabei sein eigenes Süppchen. Das heißt, jede Nation ist verantwortlich für ihre Personal- und Materialrückverlegung in die Heimat und trägt dafür auch individuell die Kosten. Das ist nichts Neues und auch kein Zufall, denn militärische Logistik ist eine zutiefst nationale Angelegenheit: Jede Nation hat ihre spezielle Geräteausstattung, die sie in einer bestimmten Weise behandelt haben will. Um auf den Vergleich mit den Mietern zurückzukommen: Jede Mietpartei hat im übertragenen Sinne das kostbare Kristallglas, die Sammlung antiker Uhren, ganz zu schweigen von Papas Videosammlung, die diskret behandelt werden soll. Auch die Erfassung all dieser Gegenstände ist ähnlich wie bei den handelsüblichen Paketverfolgungssystemen organisiert in nationalen, militärischen Computersystemen, die auch aus Sicherheitsgründen untereinander kaum oder überhaupt nicht kompatibel sind.

3. Der Abzug der Kampftruppen ist weit mehr als eine logistische Angelegenheit, die nebenherlaufen könnte. Es ist – wenn man genau hinsieht – eine eigenständige Operation. Es geht nicht nur um den Transport einer schier unglaublichen Materialmenge, sondern auch um Fragen wie den Schutz der Einsatzkräfte, strategische Kommunikation, Standards bei der Schließung und dem Umbau von militärischen Stützpunkten, Demilitarisierung, Demontage und Entsorgung sowie um die  Standardisierung von Abläufen allgemein.

4. Die logistische Mammutaufgabe ist auch abhängig vom Erfolg politischer Schritte. Wenn eine Nation beispielsweise für den Betrieb eines Flughafens oder eines militärischen Stützpunkts zuständig ist, kann sie sich erst verabschieden, wenn die Verantwortung an die Afghanen erfolgreich übergeben wurde, sofern die Einrichtung nicht komplett geschlossen und abgebaut wird und zum Schluss wieder die grüne Wiese übrig bleiben soll.

5. Es ist eine Vielzahl von Akteuren beteiligt. (1) die 50 truppenstellendenNationen, bestehend aus 28 Nato-Staaten und weiteren 22 Nicht-Nato-Staaten, die an Isaf beteiligt sind; (2) die Nato als Organisation; (3) die Afghanen (stark vereinfacht, da es auch hier eine Vielzahl an Akteuren gibt); (4) die Transitnationen (einfache Kooperationspartner wie Usbekistan, Kirgistan, Tadschikistan und Russland) und last but not least (5) die privaten Transportunternehmen.

6. Der Abzug ist nicht nur ein militärischer und politischer Kraftakt, sondern auch ein enormer Kostenfaktor. Oder aus Sicht der Transportunternehmer ein riesiges Geschäft. Weder die Nationen noch die Nato unterhalten eigene Lastwagen oder Züge et cetera zum Landtransit. Die Umsetzung des Abzugs erfolgt immer durch private Unternehmen. Auch im kostspieligen Lufttransit kommen größtenteils gecharterte Transportmaschinen zum Einsatz.

7. Die Transitnationen wittern ebenfalls hohe Einnahmen. Seit zehn Jahren verdienen sie an der Versorgung der Isaf-Truppen in Afghanistan. In den Binnenstaat Afghanistan führen mittlerweile viele erschlossene Wege, und bald geht es hauptsächlich in die andere Richtung – nach Deutschland, Frankreich oder zurück in die jeweilige Heimat der truppenstellenden Nation. Aber all diese Abzugsrouten, in der Nato „Lines of Communication“ genannt, gelten als problematisch. Auch wenn mit den Transitnationen auf höchster politischer Ebene Vereinbarungen ausgehandelt wurden, heißt das noch lange nicht, dass die einfachen Beamten an den vielen Grenzen immer Bescheid wissen und willens sind, die Vereinbarungen zu erfüllen.

8. Als ob die Sache nicht schon kompliziert genug wäre – es handelt sich um sogenannten multimodalen Transit, das heißt, es werden verschiedene Verkehrsmittel kombiniert. Container werden beispielsweise vom afghanischen Mazar e Sharif per Lufttransport ins türkische Trabzon gebracht, dort wird das vorsortierte Material gesichtet, für die Instandsetzung und den Schiffstransport nach Deutschland vorbereitet und via Landtransport zum Seehafen geschafft.

Wem das kompliziert vorkommt, der sollte sich die Alternative dazu anschauen. Die Container werden von Mazar e Sharif per Lastwagen ins usbekische Hairaton gebracht, dann auf die Schiene verladen und über Kasachstan sowie Russland bis ins lettische Riga gefahren, um von dort aus per Schiff nach Rostock zu gelangen. Von dort aus kann es dann wieder per Lastwagen oder Eisenbahn weitergehen. Wenn also Lastwagen oder Züge in Usbekistan oder sonst wo auf der über 5000 Kilometer langen Strecke stecken bleiben, muss von einem weit entfernten Schreibtisch aus geklärt werden, ob die Ursache dafür technischer, bürokratischer oder politischer Natur ist. Und vor allem müssen sofort Alternativrouten bereitstehen, damit die Fracht möglichst schnell umgesteuert werden kann.

Bei aller nationalen Verantwortung für diesen Abzug versucht die Nato die truppenstellenden Nationen zu unterstützen. Sie hat zentrale Ansprechstellen geschaffen, bei denen Informationen gesammelt werden und versucht wird, die Nationen zu gruppieren und Aktivitäten zu bündeln. Die Nato hat auch aktiv an Routen gearbeitet und versucht, den Nationen möglichst viele belastbare Transitwege verfügbar zu machen. Zu diesem Zweck wurden auch Vereinbarungen mit den Transitstaaten geschlossen, die Nationen nutzen können.

Die Nationen sind immer noch mit dem Ausmisten beschäftigt, der im Nato-Jargon „aggressive housekeeping“ heißt. Logistische Umschlagplätze wie das türkische Trabzon und das russische Uljanowsk, das sich allerdings als sehr kostspielige Option erweist, sind mit Erfolg ausprobiert worden, und die ersten Rücktransporte aus Afghanistan sind längst auf dem Weg. Für alle Beteiligten steht viel auf dem Spiel. Die truppenstellenden Nationen wollen diesem schwierigen Terrain so schnell wie möglich mit Anstand Lebwohl sagen. Die Nato ist bemüht, Informationen und Optionen gemeinsam zu erschließen und zu nutzen und diese nationale Aufgabe gemeinschaftlich zu stemmen.

Aber auch die Transitstaaten müssen sich als echte Partner bewähren. Natürlich können sie den Isaf-Truppenstellern endlose bürokratische Hürden in den Weg stellen, auch um sie wie Weihnachtsgänse auszunehmen. Das aber wäre eine schlechte Investition in ihre Zukunft, denn eine Transitregion wie Zentralasien lebt von der langfristigen Zusammenarbeit mit Partnern.

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