- Auf Kosten der anderen
Es heißt, Deutschland sei ein klarer Gewinner in der Eurokrise. Die Wirtschaft wächst, die Arbeitslosigkeit sinkt, und die Preise sind immer noch stabil. Nur wie lange noch?
So zynisch klingt: Die deutsche Wirtschaft ist der große Profiteur der Finanzkrise in Europa. Es wäre Selbsttäuschung, wenn die Deutschen glaubten, sie verdankten es allein ihrem Fleiß und ihrer Findigkeit, der Tatkraft der jetzigen und früheren Regierung oder gar der Vernunft ihrer Unternehmer und Gewerkschaften, dass die Volkswirtschaft hierzulande dem Niedergang rundherum trotzt. Industrie und Handel leben – von einigen statistischen Dellen abgesehen – nicht nur trotz der Turbulenzen in Euroland relativ gut, sondern ziehen sogar Vorteile aus den Folgen der Krise.
Während die strauchelnden Länder vor allem im Süden Europas mit Rekordzinsen zu kämpfen haben, erfreut sich Deutschland der niedrigsten Kreditzinsen seit Menschengedenken. Außerdem kommt der Exportnation Deutschland der verhältnismäßig niedrige Wechselkurs des Euro zugute. Beides, extrem geringe Zinsen und günstiger Umtauschkurs der Währung, wirkt auf die deutsche Wirtschaft wie Doping im Körper von Hochleistungssportlern.
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Zu Recht frohlockte schon im März die staatliche Kreditanstalt für Wiederaufbau, der deutsche Kreditmarkt sei „ein klarer Gewinner der Eurokrise“. Geld ist dank der Europäischen Zentralbank mehr als genug da, außerdem strömt reichlich Kapital aus den Krisenländern in den sicheren Hafen Deutschland. Vor allem kapitalintensive Firmen, meist aus den hiesigen Paradebranchen wie der Automobilindustrie, dem Maschinenbau und der Chemie, genießen die Billigzinsen, weil sie so preiswert wie nie investieren können. Die ebenfalls auf Rekordtiefe gesunkenen Hypothekenzinsen verhelfen der Bauwirtschaft zu vollen Auftragsbüchern.
Nebenbei: Auch der deutsche Staat ist fröhlicher Nutznießer des Niedrigzinses. Immerhin muss allein der Bundesfinanzminister mehr als eine Viertelbillion Euro Kredite am Kapitalmarkt aufnehmen, den weitaus größten Teil, um auslaufende teurere Anleihen durch neue billigere zu ersetzen.
Und dann der Wechselkurs. Weil an den Finanzmärkten die Schwäche der Krisenländer mehr Eindruck macht als die Stärke der deutschen Wirtschaft, ist der Eurokurs nicht nur nicht gestiegen, sondern sogar gesunken. Das beschert den Deutschen quasi als Geschenk günstigere Preise beim Export, mit dem sie ein Großteil ihres Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften. Häufig sind es sogar dieselben Unternehmen, die aus den Niedrigzinsen Vorteil ziehen und zugleich wegen ihrer Stärke im Export von der Euroschwäche profitieren. So können sie zum Leidwesen der internationalen Konkurrenz mit preiswerten Angeboten bei der Kundschaft in aller Welt punkten, nicht nur in Europa und in den Vereinigten Staaten, sondern auch in Ländern wie China, Indien und Brasilien. Dass die deutschen Geschäftsleute ihre verbesserte Wettbewerbsposition auch nutzen, zeigen die kräftigen Exportzuwächse in den jüngsten Krisenjahren.
Welch hartes Schicksal die Deutschen ohne den Schutzwall durch die Gemeinschaftswährung ereilt hätte, zeigt indes die Schweiz, die bei den Kapitalbesitzern international ebenfalls den Ruf eines sicheren Zufluchtsorts genießt. Wegen des Zustroms fremden Kapitals stieg der Außenwert des Schweizer Franken ins Unermessliche, bis die Notenbank in Bern im vergangenen Herbst die Notbremse zog. Sie warf jede Menge Franken auf den Markt und stoppte so den Anstieg – zu spät. Der Export der Eidgenossen ist wegen des zu teuren Franken regelrecht eingebrochen.
Viel erstaunlicher ist aber, dass die Partner in der Währungsunion voller Bewunderung die Entwicklung in Deutschland verfolgen. Sicher, auf den ersten Blick kann sich die Volkswirtschaft in ihrer aktuellen Verfassung sehen lassen: Die Wirtschaft wächst, wenn auch in diesem Jahr langsamer, stärker als in den anderen Euroländern, die Arbeitslosigkeit sinkt, und die Preise sind immer noch stabil. Doch aus gutem Grund haben die Altvorderen schon vor mehr als 50 Jahren in das zwar fast vergessene, aber immer noch gültige Stabilitäts- und Wachstumsgesetz ein weiteres Ziel hineingeschrieben: das außenwirtschaftliche Gleichgewicht.
Was damals für die alte Bundesrepublik galt, ist heute für die Währungsunion umso wichtiger. Mit seinen Exporten im Übermaß kann Deutschland kein Vorbild sein. Sie sind vielmehr ein Teil des akuten Problems, das den Euro in Gefahr gebracht hat, nicht eine Lösung. Ausfuhrüberschüsse führen nun einmal zwangsläufig im Gegenzug zur Verschuldung der Handelspartner. Das ist schon der Keim der nächsten Krise.
Zweifellos gibt es keine Garantie, dass die hiesigen Unternehmen bei noch heftiger werdenden Turbulenzen weiterhin weitgehend ungeschoren davonkommen. Zurzeit aber müsste die deutsche Volkswirtschaft wegen ihrer Kraft als Konjunkturlokomotive allen Mitgliedstaaten der Währungsunion nutzen. Denn je stärker eine Wirtschaft ist, desto mehr kann sie importieren. Leider Fehlanzeige. Bisher verkauft Deutschland sogar den Krisenländern immer noch mehr, als es dort kauft – die deutsche Lokomotive zieht nicht. Die Deutschen verdienen sogar noch am Geschäft mit den Schwächsten.
Aber so funktionieren Wirtschaft und Finanzmärkte, wenn man versäumt, sie richtigen Regeln zu unterwerfen. Für deutsche Überheblichkeit gibt es überhaupt keinen Anlass.
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