- Der Traum von der Normalität
Wovon träumt die Nach‑Hippie-Generation? Von der Kleinfamilie! «Das große Leuchten» erzählt von der Verlockung des Familiären, der Sehnsucht nach Normalität und dem Chaos der Wirklichkeit
Gelb leuchten die Rapsfelder und golden die Sonne, doch «das große Leuchten», das dieser Roman im Titel führt, bedeutet mehr, das spürt man sofort. Die Prosa im ersten Roman des 1983 geborenen Andreas Stichmann wirkt beiläufig. Doch sie ist im höchsten Maße konzentriert: Es ist die traumtänzerisch sichere Sprache eines Schriftstellers, der weiß, dass ein falsches Wort zum Absturz führt, und der doch ein realistischer Autor sein will, einer, der zum inneren Kern der Wirklichkeit vorstößt und sie zum Leuchten bringt. Diese Balance zwischen zwei Erzählweisen erschließt uns eine Weltsicht, wie es sie in der deutschen Gegenwartsliteratur so noch nicht gab.
«Das große Leuchten» ist eine Road-Novel mit umgekehrtem Vorzeichen. Rupert, der junge Ich-Erzähler, will nicht aus der Gesellschaft aussteigen, sondern er versucht mit allen Mitteln, in sie hineinzukommen. Er ist der Sohn einer Hippie-Mutter, die sich mit 48 Jahren in der Badewanne die Pulsadern aufschnitt, ein Tod, von dem ihr Sohn meint, seine Theatralik stehe eigentlich nur Pubertierenden zu. «Ficken » ist für ihn das schlimmste Wort, denn aus eben dieser Art von unverbindlichem Sex ist er entstanden. Das brachte ihm eine Jugend ohne Vater und mit einer überforderten Mutter ein, die mit ihrer Hippie- Freundin von den Zeiten schwärmte, als sie jung, schön und wild waren. Bei eben dieser Frances kommt Rupert nach dem Tod der Mutter unter. Sie ist mit ihrem Sohn aufs Land gezogen, nachdem bei ihm Schizophrenie diagnostiziert worden war.
Wie man mit dem Chaos der Wirklichkeit zurechtkommt, wie man es ordnet in seinem Kopf und wie man Zugang findet zum Kopf und Körper eines anderen – davon erzählt dieser Roman, während er die beiden jungen Männer auf die Reise schickt. Sechs Tage und fünf Stunden gewährt ihnen das Last-Minute-Ticket, um im Iran Ana zu finden, die vor knapp zwanzig Jahren als Baby mit ihren Eltern nach Deutschland geflohen war. Dann verschwand sie plötzlich, nachdem sich Rupert so sehr in sie verliebt hatte, dass er von einer gemeinsamen Zukunft mit Kindern und eigener Wohnung zu träumen begann.
Hin und her springend zwischen verschiedenen Zeitebenen und Realitätszuständen, erzählt «Das große Leuchten» von der Verlockung des Familiären und der Sehnsucht nach Normalität. Das hört sich harmlos an, doch das Gegenteil ist der Fall. Etablierte Erwachsene brüsten sich gern mit ihrer wilden Jugend und halten den heute Jungen vor, sie seien angepasst. Dass die bürgerliche Kleinfamilie aber in prekären Zeiten zum Traumbild der Zugehörigkeit werden kann (auch wenn die persische Großfamilie womöglich noch verlockender wäre), das zeigt dieser Roman in starken Bildern. Er braucht dazu keine Thesen, nur die Stimme eines Erzählers, dessen Selbstbewusstsein im Understatement seiner Sprache aufgehoben ist.
Andreas Stichmann: «Das große Leuchten», Roman Rowohlt, Reinbek 2012. 236 S., 19,95 €
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