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(picture alliance) „Eine Mischung aus Kindskopf und Gralshüter“

Christian Ströbele - Der König von Kreuzberg

Christian Ströbele ist der König von Kreuzberg, sitzt seit 2002 mit einem Direktmandat aus dem Bezirk im Bundestag – sein Wohnsitz liegt allerdings an der Grenze zum Nobelviertel Berlin-Grunewald. Ein Portrait des wandelbaren Politikers

Nirgendwo sonst in der Republik sind die Grünen so stark wie in Berlins Bezirk Kreuzberg-Friedrichshain. „Hier sind wir längst Volkspartei“, sagt der einzige direkt gewählte Bundestagsabgeordnete der Öko-Partei, Christian Ströbele. Selbst alte SED-Parteikader in den Plattenbauten rund um die einstige Stalinallee hätten sich ihm schulterklopfend als seine Sympathisanten offenbart, erzählt der 73-Jährige, der durchaus Chancen hat, als Alterspräsident den nächsten Bundestag zu eröffnen – sollte er noch einmal antreten.

Muss man sich wirklich neue Wählerschichten erschließen, fragt er bei einem Stück Torte und heißer Schokolade im „Kuchenkaiser“, gleich um die Ecke des Kreuzberger Kreisbüros seiner Partei. „Wo doch jetzt schon die CDU aus der Atomkraft aussteigt, und Schäuble und Merkel die Tobin-Steuer fordern?“ Doch was ändert das an den Lebensverhältnissen in seinem Wahlkreis? Der Grüne ist eine Mischung aus alt gewordenem Kindskopf und Gralshüter einer linken Bewegung, die dazu neigt, ihre Lebenslügen und Irrtümer lieber unter den Teppich zu kehren, als sich mit ihnen – womöglich auch noch öffentlich – auseinanderzusetzen. Ein bisschen störrische Altersrechthaberei ist auch dabei.

Schon die Anfänge der damals von ihm mit gegründeten tageszeitung (taz) waren geprägt von einer gewissen politischen Schizophrenie, die sich zu einem tragenden Lebensmuster verfestigt hat. So propagierte er, damals Mitglied des sich gerade in Auflösung befindenden „Sozialistischen Anwaltskollektivs“, in der taz die „Aufhebung der Arbeitsteilung“. Hausmeister sollten Artikel schreiben und Redakteure in der Kantine kochen. Jeder, ob aus der Aboverwaltung oder der Poststelle, hatte das Recht, über Leitartikel und Aufmacher mitzureden. Manchmal wurde sogar mit Handzeichen über den Tenor von Beiträgen oder Kommentaren abgestimmt, wobei die Stimme des Hausmeisters so viel zählte wie die des schreibenden Autors. Rederecht hatte sowieso jeder. Ströbele selbst allerdings war nicht wirklich Teil dieses zermürbenden Experiments. Er mischte zwar mit, blieb aber weiter Anwalt mit eigener Kanzlei und Uschi, die ihm in seinem Moabiter Büro Post sortierte und die Termine machte. So viel Arbeitsteilung musste dann doch sein.

Manchmal schrieb er auch Papiere, um ins redaktionelle Geschehen einzugreifen. So schimpfte er – es muss Mitte der achtziger Jahre gewesen sein – in einem Pamphlet über ein Interview, das die taz mit Jorge Semprún in Paris geführt hatte. Tenor: Was haben solche Renegaten bei uns zu suchen. Was in jeder anderen Zeitung bestenfalls in der Ablage der Leserbriefredaktion entsorgt worden wäre, führte in der taz zu großen Palavern und Sondersitzungen der Redaktion. Unter Pseudonym schrieb Ströbele auch krude Kommentare in schlechtem Juristendeutsch. Etwa gegen die polnische Solidarno, von der er befürchtete, dass die ein bischen „enger ran an den Westen“ wollen, „um teilzuhaben an dem Glanz und Reichtum … der auf Kosten und den Knochen des Restes der Erde besteht“.

Von der fragwürdigen Spendensammlung für den Guerillakrieg 

Da in der selbst verwalteten Zeitung jede Stimme gleich viel zählte, hatten nicht die Journalisten, sondern der Apparat schnell die Mehrheit, und Ströbele verstand es, diese Mehrheit zu nutzen. Zum Beispiel für die Kampagne „Waffen für El Salvador“, bei der die taz seit 1980 mehr als vier Millionen D-Mark für eine Guerillabewegung sammelte, die später einen ihrer Führungsleute, die sich „Kommandantin“ nannte, wegen angeblicher Kollaboration exekutierte. Die öffentliche Aufarbeitung der fragwürdigen Geldsammlung und ihrer Folgen fiel später dürftig aus. Ströbele beendete die Kampagne 1992. Ein paar Jahre später begründete er dies in der taz mit dem blassen Satz: „Die Verhältnisse haben sich geändert …“ Auf die Frage, ob es sich gelohnt habe, antwortete er lapidar: „Für die Leser schon, das war identitätsstiftend.“ Die Guerilla hatte Anfang der neunziger Jahre Frieden mit den Militärs geschlossen und damit wohl ihren „identitätsstiftenden“ Heiligenschein endgültig eingebüßt. Seither ist sie Partei in einer parlamentarischen Demokratie und stellt derzeit sogar den Präsidenten in dem mittelamerikanischen Land.

Christian Ströbele ist heute gegen den Krieg in Afghanistan. Im Bundestag hat er immer wieder gegen die Beteiligung der Bundeswehr gestimmt. Ist er jetzt also wieder auf dem richtigen linken Pfad? War die Waffensammlung für die Guerilla damals nur eine Verirrung – oder doch Teil der politischen Schizophrenie im alternativen Biotop? Wer geneigt ist, die auf links getrimmten Grünen im immer schon auf Krawall gebürsteten Szenekiez als Randerscheinung abzutun, verkennt, welches Gewicht sie in der Gesamtpartei tatsächlich haben – nicht nur in der Berliner Landespolitik. Denn die politische Schizophrenie, für die Christian Ströbele steht, ist stilbildend für die Grünen insgesamt, aber auch für ihre Wähler. Nirgendwo lässt sich das so gut beobachten wie in Kreuzberg-Friedrichshain, wo mehr Parteimitglieder der Grünen leben als in irgendeiner anderen Stadt in Deutschland

Viele von ihnen arbeiten für die Bundestagsfraktion oder sind selbst Abgeordnete. Doch kaum einer würde sich je in der Ortsgliederung, dem Grünen Kreisverband, engagieren. Parallelwelten in ein und derselben Partei. Man trifft sich bestenfalls auf Parteitagen, zumeist in gegnerischen Lagern. Denn im Kiez sind die Grünen allemal links. Hier gilt: Sozial schlägt grün. Hier ist die Partei der ideelle Gesamtsozialarbeiter.

Wenn, wie jüngst geschehen, eine Wagenburg in Lichtenberg ihren angestammten Platz verliert, dann kümmert sich das grüne Kreuzberger Bezirksamt um einen alternativen Standplatz im eigenen Sprengel. Interessenpolitik für den Bezirk sieht anders aus. Wenn die Spitzenkandidatin Renate Künast im Wahlprogramm „Probleme“ des Zusammenlebens in der multikuturellen Gesellschaft auch nur erwähnen will, führt das zu knappen Kampfabstimmungen mit den Kreuzberger Grünen, die die Probleme lieber unter den Teppich kehren wollen.

Wer seine Kinder im Bezirk in die Schule schickt, der weiß, wie heikel das ist. Die meisten bildungsinteressierten Familien – übrigens auch solche mit „Migrationshintergrund“ – fliehen vor der Einschulung lieber stumm in „weiße“ Stadtbezirke, um einer hässlichen Auseinandersetzung gerade mit grünen Schulpolitikern zu entkommen, die am liebsten über die Köpfe der Eltern hinweg, ganz Staatslinke, die Kinder per Zuweisung multikulturell korrekt verteilen.

Alle paar Monate holen dann irgendwo im Bezirk auch die langmütigsten Eltern ihre Kinder aus Schulen, in denen während des Ramadans den „biodeutschen“ Kids schon mal das Pausenbrot aus der Hand geschlagen wird. Wenn Eltern in ihrer Verzweiflung zum Beispiel eine evangelische Schule gründen wollen, werden sie von grünen Bezirkspolitikern mit allen Mitteln daran gehindert. Ein geeignetes Schulgebäude wird lieber an eine Internationale Musikakademie „in Gründung“ vergeben statt an eine „Privatschule“, die sich jahrelang um das Gebäude bemüht hat. Selbst wenn die Musikakademie ähnlich organisiert ist und happige Studiengebühren verlangt und keiner weiß, ob sich überhaupt genug Interessenten finden werden.

Auch ökologisch haben die Grünen im Bezirk nicht viel zu bieten. Während das viel kleinere grün regierte Marburg ein Programm für Solardächer auflegte, sucht man ähnliche Leuchttürme in der grünen Hochburg vergeblich. Dabei hatte die Solarzellenentwicklung in der Kreuzberger Szene einmal ihren Ursprung. Doch die daraus entstandene Aktiengesellschaft Q-Cells und die von ihr geschaffenen Arbeitsplätze sind nach Sachsen-Anhalt abgewandert. Auch für die energetische Sanierung des großen Bestands an Mietshäusern im Bezirk fehlt ein Konzept, das die damit notwendigerweise verbundenen Mieterhöhungen mitdenkt und vielleicht sogar wohnortnahe Arbeitsplätze schafft.

Für Christian Ströbele sind die Grünen sowieso keine Unternehmerpartei. Das sollen sie auch nicht sein. Damit repräsentiert der Ober-Grüne aber einen gefährlichen Kreuzberger Geist, der im tiefsten Inneren strukturkonservativ ist. Den geringsten Widerstand gibt es da, wo alles so bleibt wie es ist.

Der politische Stillstand im mächtigen Bezirksverband könnte für die Grünen insgesamt gefährlich werden. Das Scheitern rot-grüner Koalitionsverhandlungen mit Klaus Wowereit hat hier seine Ursachen. Es könnte 2013 im Bund die Schablone für Angela Merkel werden. Sie könnte dann nach dem gleichen Muster handeln wie Wowereit: Wenn die FDP als Koalitionspartner ausfällt, wovon nach Lage der Dinge derzeit auszugehen ist, müsste sie nur versuchen, zwischen SPD und Grüne einen Keil zu treiben, und schon könnte unter ihrer Führung die große Koalition im Bund wieder aufleben.

Für die Grünen in Kreuzberg-Friedrichshain würde sich dadurch nichts ändern, sie blieben weiter Volkspartei. Sollte Christian Ströbele noch einmal antreten, dann würde er sicher zum vierten Mal das Direktmandat in seinem Bezirk für den Bundestag gewinnen, auch wenn der „König von Kreuzberg“ noch nie dort gewohnt hat. Er lebt seit Jahrzehnten in einer Seitenstraße am Ende des Ku’damms, an der Grenze zum feinen bürgerlichen Stadtteil Grunewald.

Max Thomas Mehr ist freier Journalist und hat in den siebziger Jahren mit ­Christian Ströbele die taz gegründet. Er lebt in Berlin-Kreuzberg

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