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(picture alliance) Früher hieß es, die Weimarer Republik sei eine Demokratie ohne Demokraten gewesen

Politik am Pranger - Die verachtete Republik

Weimars Schatten über Berlin: Kritiker der repräsentativen Demokratie - von Carl Schmitt bis Peter Sloterdijk - haben in Deutschland eine lange Tradition. Ihre Argumente folgen immer dem gleichen Muster

Eine Demokratie ohne Demokraten sei Weimar gewesen, und daran sei die erste deutsche Republik letztlich gescheitert: So lautet eine Schulweisheit, die man in so pauschaler Form freilich in keinem Schulbuch findet. Denn Demokraten gab es zwischen 1918 und 1933 in Deutschland durchaus, nur dass sie seit 1930 immer mehr in die Minderheit gerieten, bis es bei den Reichstagswahlen vom 31. Juli 1932 schließlich eine satte Mehrheit von zusammen 51,7 Prozent für zwei Parteien gab, die der Demokratie auf unterschiedliche Weise radikal den Garaus machen wollten: die Nationalsozialisten und die Kommunisten.

Aus heiterem Himmel kam diese negative Mehrheit gegen die Demokratie nicht zustande. Vor allem im gebildeten Bürgertum hatte es von jeher massive Vorbehalte gegenüber der angeblich „undeutschen“ Staatsform der Sieger gegeben, die den Deutschen im Herbst 1918 im Zuge der Niederlage im Ersten Weltkrieg aufgenötigt worden sei. 1926, in einem der wenigen wirtschaftlich „guten“ Jahre der ersten Republik, schrieb einer der wortgewaltigsten Kritiker der parlamentarischen Demokratie, der Staatsrechtler Carl Schmitt, in manchen Staaten habe es „der Parlamentarismus schon dahin gebracht, dass sich alle öffentlichen Angelegenheiten in Beute- und Kompromissobjekte von Parteien und Gefolgschaften verwandeln und die Politik, weit davon entfernt, die Angelegenheit einer Elite zu sein, zu dem ziemlich verachteten Geschäft einer ziemlich verachteten Klasse von Menschen geworden ist.“ Im Jahr darauf erschien eine Kampfschrift eines der Starautoren der sogenannten „Konservativen Revolution“, Edgar Jung, unter dem programmatischen Titel „Die Herrschaft der Minderwertigen“. Gemeint war die parlamentarische Demokratie von Weimar.

Schmitt und Jung gehörten zur politischen Rechten. Aber auch auf der intellektuellen Linken hatte die westliche repräsentative Demokratie nicht viele Freunde. Kurt Tucholsky verachtete die Sozialdemokraten, weil sie, der Logik des parlamentarischen Systems entsprechend, Kompromisse mit den gemäßigten bürgerlichen Parteien schließen mussten. 1921 nannte er die Genossen „Skatbrüder, die den Marx gelesen“. 1926 spottete er in einem weiteren, der SPD gewidmeten Gedicht über „Bonzen, Brillen, Gehberockte, Parlamentsroutinendreh …“

Genau drei Jahrzehnte später, 1956, veröffentlichte der Schweizer Publizist Fritz René Allemann ein Buch, dessen Titel bald zum geflügelten Wort wurde: „Bonn ist nicht Weimar“. Nicht nur die Väter und Mütter des Grundgesetzes hätten aus den Erfahrungen der Weimarer Republik gelernt, so lautete die optimistische Botschaft des Autors, sondern auch die Bundesbürger, indem sie sich in ihrer überwältigenden Mehrheit für Parteien entschieden, die fest auf dem Boden der westlichen Demokratie stünden. Als das Grundgesetz 30 Jahre alt wurde, prägte der Publizist und Politikwissenschaftler Dolf Sternberger den Begriff „Verfassungspatriotismus“. „Das Nationalgefühl bleibt verwundet, wir leben nicht im ganzen Deutschland“, schrieb Sternberger am 23. Mai 1979 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. „Aber wir leben in einer ganzen Verfassung, in einem ganzen Verfassungsstaat, und das ist selbst eine Art von Vaterland.“

Wiederum drei Jahrzehnte später lebten die Deutschen längst wieder in einem „ganzen Deutschland“. Ob sie das Grundgesetz noch als eine „Art von Vaterland“ verstehen, ist allerdings nicht mehr so sicher. Die Stimmen mehren sich, die die konsequent repräsentative Demokratie, für die sich die weise gewordenen Weimarer – Männer wie Theodor Heuss, Konrad Adenauer und Kurt Schumacher – 1948/49 entschieden, für ein höchst unvollkommenes System halten, das dringend einer plebiszitären Frischzellentherapie bedarf.

Mehr noch: Über „das System“, „die Politik“, die „politische Klasse“ und „die Parteien“ wird seit einiger Zeit in einer Weise gesprochen und geschrieben, als habe es Weimar nie gegeben – die Republik, die nicht zuletzt an der Verachtung der parlamentarischen Demokratie und ihrer Politiker durch das gebildete Deutschland zugrunde gegangen ist.

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Nicht irgendwo, sondern im Spiegel erschien 2010 ein Essay des Philosophen Peter Sloterdijk. Der Autor sieht die Bundesrepublik „postrepublikanischen und postdemokratischen Zuständen“ entgegengehen, deren Hauptmerkmal die „Bürgerausschaltung“ durch eine „monologisch in sich verschränkte Staatlichkeit“ sei. „In der repräsentativen Demokratie werden Bürger – von ihren fiskalischen Aufgaben abgesehen – in erster Linie als Lieferanten von Legitimität für Regierungen gebraucht. Deswegen werden sie in weitmaschigen Abständen zur Ausübung des Wahlrechts eingeladen. In der Zwischenzeit können sie sich vor allem durch Passivität nützlich machen. Ihre vornehmste Aufgabe besteht darin, durch Schweigen Systemvertrauen auszudrücken.“ Die politische Klasse habe in ihrer Hilflosigkeit den Bürgern „oft nicht mehr zu bieten als die Aussicht auf Teilhabe an ihrer eigenen Kläglichkeit – ein Angebot, auf das die Bevölkerung in der Regel nur im Karneval und bei Aschermittwochsreden eingeht“.

Rettung verspricht, wenn man Sloterdijk folgt, allein der gerechte Bürgerzorn – jener Geist der Empörung, wie er sich in der baden-württembergischen Metropole manifestierte, solange die Gegner von „Stuttgart 21“ noch davon überzeugt waren, dass sie und nicht die gewählten Repräsentanten die Sache des Volkes vertraten, ja das Volk waren. Hans Herbert von Arnim, der emeritierte Staatsrechtler, sieht das ganz ähnlich. Während Sloterdijk empfiehlt, die Regierenden gelegentlich „symbolisch so zu teeren und zu federn, wie sie es verdient hätten“, bereitet Arnim in einer vom Tagesspiegel vom 18. Dezember 2011 abgedruckten Rede die Bürger auf die Notwendigkeit von Widerstand in Form von zivilem Ungehorsam vor. Sein Gegner ist eine „politische Klasse, die sich nach dem Motto ‚der Staat sind wir‘ von den Bürgern abschottet und eine neue Form des Absolutismus bildet, einen parteienstaatlichen Absolutismus“.

Für den Fall, dass das Bundesverfassungsgericht „einknickt“, das heißt: nicht der Rechtsauslegung Arnims folgt, wonach es keine weitere Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union geben darf, hält der Autor einen Aufruf zum Widerstand gegen eine Beseitigung der verfassungsmäßigen Ordnung zumindest für erwägenswert – ein Recht, das sich gegebenenfalls aus dem Bekenntnis des deutschen Volkes zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten in Artikel 1 Absatz 2 des Grundgesetzes herleiten lasse und damit, so muss man wohl folgern, aus einer höheren Legitimität als der formalen Legalität.

Carl Schmitt und Edgar Jung hätten ihre Freude an der derzeitigen Renaissance von Denkfiguren, wie sie im Umfeld der „Konservativen Revolution“ vor acht Jahrzehnten propagiert wurden. Der Publizist Thymian Bussemer spricht in seinem 2011 erschienenen Buch „Die erregte Republik“ von einer „Nadelstreifen-Apo“, die sich seit den neunziger Jahren organisiert habe. In der Tat erinnern die Vorwürfe, die heute von eher rechten Intellektuellen gegen die repräsentative Demokratie der „Berliner Republik“ erhoben werden, auffällig an die These vom „Umschlag der Volksvertretung in Repräsentation der Herrschaft“, die Johannes Agnoli, einer der maßgeblichen Ideologen der Studentenbewegung und ein gelehriger Schüler von Carl Schmitt, 1968 in seinem zusammen mit Peter Brückner verfassten Buch „Die Transformation der Demokratie“ verfochten hat. Bussemer diagnostiziert das Aufkommen einer „Stimmungsdemokratie“, die mit einem neuen Typus des Bürgers korrespondiere, „der immer weniger citoyen und immer mehr bourgeois und Konsument ist“, und er nennt die dahinterstehende Haltung „Politikverachtung, die sich mit fundamentalistischer Besitzstandswahrung paart“.

Wie in der Weimarer Kritik an der repräsentativen Demokratie, so operiert auch die heutige mit der Verklärung von Zuständen, gegenüber denen das gegenwärtige System als Verfallsprodukt erscheint. Für Carl Schmitt war die Idealzeit der englische Parlamentarismus der Ära Walpole in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts – ein Regime, das sich in Wirklichkeit am besten als „government by corruption“ beschreiben lässt. Für Sloterdijk ist das historische Nonplusultra die römische Republik in ihrer Entstehungsphase, in der die „Geburt der res publica aus dem Geist der Empörung“ erfolgte, und im weiteren Sinn die „Politik“ im griechischen Sinn als „Derivat des Ehrsinns und der stolzen Regungen gewöhnlicher Menschen“.

Die amerikanischen Gründerväter der modernen Demokratie kannten ihre griechischen und römischen Klassiker, aber Verehrer der antiken Versammlungsdemokratie waren sie nicht. James Madison, der spätere vierte Präsident der USA, meinte 1788 im „Federalist No. 55“, einem von 85 Artikeln zur Verteidigung der amerikanischen Verfassung von 1787, in allen Volksversammlungen mit sehr vielen Teilnehmern, aus welcher Art von Menschen sie auch zusammengesetzt seien, gelinge es der Leidenschaft doch immer, der Vernunft das Szepter zu entreißen. „Wäre auch jeder athenische Bürger ein Sokrates gewesen, so wäre doch immer noch jede Versammlung der Athener eine des Pöbels gewesen.“

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Manche deutsche Intellektuelle haben offenbar immer noch Schwierigkeiten, die Vernunftgründe einzusehen, die Madison und die anderen Väter der amerikanischen Verfassung dazu bewogen, den Gedanken der Volkssouveränität mit dem Prinzip des „representative government“ zu verbinden. Wer heute nach mehr direkter Demokratie ruft, will in der Regel die repräsentative Demokratie nicht abschaffen, sondern nur „ergänzen“. Die Frage ist, ob bundesweite Plebiszite wirklich zu „mehr Demokratie“ führen würden. Die Freunde der Volksgesetzgebung plädieren meist für ein möglichst niedriges Quorum, wenn nicht gar gegen jedes Quorum.

Aber je niedriger das Quorum, desto weniger repräsentativ das Ergebnis. Die Erfahrung zeigt, dass die Nutznießer der angeblich authentischen direkten Demokratie besonders motivierte, überdurchschnittlich gut vernetzte und gebildete Bürgerinnen und Bürger sind – privilegierte Minderheiten also. Sie mögen in manchen Fragen an Sachverstand und Problembewusstsein den Parlamentariern überlegen sein. Aber wenn sie glauben sollten, dass sie generell in höherem Maß als die gewählten Vertreter berufen sind, den Volkswillen zu artikulieren, dann täuschen sie sich.

Demokratie ist, einem Wort des ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss zufolge, Vertrauen auf Zeit. Wenn parlamentarische Mehrheiten das in sie gesetzte Vertrauen verlieren, müssen sie bei der nächsten Wahl anderen Mehrheiten weichen. Regierende Mehrheiten müssen kooperationsfähig sein. Plebiszitäre Mehrheiten können auch dadurch zustande kommen, dass sich Kräfte in der Negation zusammenfinden, die zu gemeinsamer konstruktiver Arbeit niemals in der Lage wären. Auf diese Weise erklärt sich das Scheitern des Europäischen Verfassungsvertrags in den französischen und niederländischen Referenden vom Frühjahr 2005.

Es waren Weimarer Rechtsintellektuelle wie Carl Schmitt, die dem vom Volk gewählten Reichspräsidenten eine höhere Legitimität zuschrieben als dem in Parteien gespaltenen Reichstag und der Regierung, die von einer parlamentarischen Mehrheit im Reichstag abhängig war. Würden die Freunde der direkten Demokratie sich mit der Forderung durchsetzen, den Bundespräsidenten nicht mehr durch die Bundesversammlung, sondern durch das Volk wählen zu lassen, würden sich die politischen Gewichte zwischen dem „nur“ mittelbar demokratisch legitimierten Kanzler und dem unmittelbar gewählten Präsidenten unweigerlich zugunsten des Letzteren und zulasten der repräsentativen Demokratie verschieben. Um zu glauben, dass das ein Schritt in Richtung auf „mehr Demokratie“ hin wäre, muss man gegen historische Erfahrungen ziemlich immun sein.

In einem Punkt haben die Kritiker der jüngeren Entwicklung der deutschen Demokratie recht. Die Bundesregierungen haben allzu lange den inzwischen wichtigsten Bereich der deutschen Politik, die Europapolitik, als reine Exekutivdomäne betrachtet und dem öffentlichen Diskurs weithin entzogen. Mit seinem Urteil zum Lissabon-Vertrag hat das Bundesverfassungsgericht im Juni 2009 dieser Praxis einen Riegel vorgeschoben. Es hat die Integrationsverantwortung des Bundestags nachhaltig gestärkt und damit einen wichtigen Beitrag zur demokratischen Legitimierung des europäischen Projekts geleistet. Solange die Mitgliedstaaten der EU die Herren der Verträge sind, und das ist ein Wesensmerkmal dieses Staatenverbunds, gibt es keine wirksamere Kontrolle europapolitischer Entscheidungen.

Der Staatenverbund dürfte aber nur ein Durchgangsstadium sein. Die Schuldenkrise erzwingt die Umwandlung der Währungsunion in eine Fiskalunion und über kurz oder lang in eine politische Union. Wenn sich die EU zu einer europäischen Föderation weiterentwickelt, muss das deutsche Volk seine Verantwortung als „pouvoir constituant“, als Verfassungsgeber, wahrnehmen: Es wird aufgerufen werden, nach Artikel 146 des Grundgesetzes über eine neue Verfassung, ein im europäischen Sinn überarbeitetes Grundgesetz, abzustimmen. Dieser Akt von direkter Demokratie ist ebenso legitim wie notwendig: Er legt den Grund für eine Ausweitung des Prinzips der repräsentativen Demokratie auf die Europäische Union. Deutsche Intellektuelle täten gut daran, auf dieses Ziel hinzuarbeiten, anstatt sich Wunschträumen von der angeblich wahren, unmittelbaren Demokratie hinzugeben – und darüber zu vergessen, in wessen Fußstapfen sie treten, wenn sie dem alten deutschen Unbehagen an der repräsentativen Demokratie neue Nahrung geben.

Heinrich August Winkler ist einer der renommiertesten Historiker Deutschlands und emeritierter Professor an der Berliner Humboldt-Universität. Zuletzt erschien der zweite Band („Die Zeit der Weltkriege 1914-1945“) seiner Trilogie „Geschichte des Westens“

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