- Fakten, Spekulationen und Erfindungen
Die Terrorzelle NSU und die NPD sind eng miteinander verknüpft, doch Tatsachen und Beweise bleiben bisher auf der Strecke
Fast auf den Tag genau ist es jetzt zwei Monate her, dass Deutschland jäh der Illusion beraubt worden ist, es gebe hierzulande keinen rechten Terrorismus. Am 11. November 2011, einem Freitag, übernahm die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen in einer beispiellosen Mordserie, der zwischen 2000 und 2007 neun Migranten und eine Polizistin zum Opfer fielen. Verübt worden sind die Taten vermutlich von einer rechten Terrororganisation, die sich „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) nannte. Den Kern dieser Gruppe sollen drei Jenaer Neonazis gebildet haben, die am 26. Januar 1998 von der Bildfläche verschwunden waren: Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Von den Behörden angeblich unbemerkt, sollen sie 13 Jahre lang raubend und mordend durch Deutschland gezogen sein. [gallery:Rechte Gewalt- und Mordserie erschüttert Deutschland]
Mutmaßlich, angeblich, sollen begangen haben – auch zwei Monate nach Beginn der Ermittlungen kommt eine seriöse Berichterstattung über die drei Untergrund-Neonazis ohne diese einschränkenden Worte nicht aus. Denn allzu viel, was in den letzten Wochen berichtet wurde, ist Spekulation, allzu wenig kann als gesichert angesehen werden. Was hauptsächlich daran liegt, dass die ermittelnde Bundesanwaltschaft „aus ermittlungstaktischen Gründen“ keine Informationen preisgibt und selbst Landesministerien und –behörden einen Maulkorb verpasst hat. Aus gutem Grund: Bei ihren Ermittlungen zu den mutmaßlichen Taten der angeblichen NSU kommt die fast 500 Mann starke „Besondere Aufbauorganisation (BAO) Trio“ kaum voran.
Und so sind auch die Erkenntnisse, die bislang als gesichert angesehen werden können, noch recht überschaubar:
- Am 26. Januar 1998 tauchen Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt kurz vor Ausstellung eines Haftbefehls in den Untergrund ab, nachdem man in einer von dem Trio genutzten Garage in Jena vier Rohrbomben und knapp anderthalb Kilogramm TNT gefunden hat.
- In den folgenden Jahren bildet sich ein relativ stabiler Unterstützerkreis, der die Untergetauchten anfangs mit Geld, später mit Papieren und Wohnungen versorgt. Als einziger hat bislang der aus Jena stammende Ex-Neonazi Holger G. Helferdienste eingeräumt. Dank seiner Aussagen und früherer Erkenntnisse des Verfassungsschutzes können zudem mindestens zehn weitere Personen aus der rechten Szene Sachsens und Thüringens namhaft gemacht werden, die zum Teil bis vergangenen Sommer als Unterstützer des Trios aktiv waren. Darunter befindet sich auch mindestens ein V-Mann des Verfassungsschutzes. Drei der Helfer sitzen in Untersuchungshaft.
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- Mundlos und Böhnhardt überfallen am 4. November 2011 eine Sparkassenfiliale in Eisenach, müssen aber ohne Beute abziehen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit waren sie auch die Täter eines Bankraubes am 7. September 2011 in Arnstadt bei Thüringen.
- Mundlos und Böhnhardt sterben am 4. November 2011 durch Schussverletzungen in ihrem Wohnmobil, das am Vormittag nach dem Banküberfall in einem ruhigen Wohngebiet im Dörfchen Stregda bei Eisenach geparkt war. Böhnhardt wird von einer zweiten Person durch einen Nahschuss in den Kopf getötet. Auch Mundlos stirbt durch einen Kopfschuss. Weil sein Leichnam durch den Brand im Wohnmobil erheblich in Mitleidenschaft gezogen wurde, lässt sich ein Selbstmord nicht mehr eindeutig nachweisen. Da sich in Mundlos’ Lunge Rußpartikel fanden, muss er – anders als Böhnhardt – zum Zeitpunkt des Feuers aber noch gelebt haben.
- In dem ausgebrannten Wohnmobil finden sich unter anderem 110.000 Euro in bar, die zum Teil noch mit Banderolen versehen sind und dadurch früheren Banküberfällen aus der Zeit vor 2008 zugeordnet werden können. Auch Skizzen einiger dieser seinerzeit überfallenen Banken liegen im Fahrzeuginneren, was beides auf eine Beteiligung Mundlos’ und Böhnhardts an diesen Raubüberfällen hindeutet. Außerdem finden sich in dem Wohnmobil neben weiteren Waffen auch die beiden Dienstpistolen der 2007 ermordeten Heilbronner Polizistin Michèle Kiesewetter und ihres bei dem Überfall schwer verletzten Kollegen. Unklar ist, wie und wann die beiden Neonazis in den Besitz der Waffen gelangten.
- In der ausgebrannten Wohnung in der Zwickauer Frühlingsstraße, in der Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt seit Anfang 2008 wohnten, können rund 1400 Asservate sichergestellt werden. Darunter befindet sich auch die Pistole, mit der die meisten Opfer der Mordserie an Migranten erschossen worden waren. Unklar ist auch hierbei, wie und wann sie in den Besitz der Mieter gelangt sind. Außerdem werden dort weitere Geldbanderolen gefunden, die aus früheren Banküberfällen in Sachsen stammen. Sichergestellt werden auch Stadtplanausrisse mit handschriftlichen Notizen, auf einem davon ist einer der drei Tatorte von Mordanschlägen auf Migranten in Nürnberg gekennzeichnet.
- Trotz des Feuers in der Wohnung bleiben mehrere DVDs erhalten, auf denen eine Art Bekennervideo der NSU zu sehen ist. In dem frühestens 2003 produzierten Film sind die ersten drei Morde an Migranten sowie zwei Bombenanschläge auf ein Lebensmittelgeschäft und eine Straße in Köln dokumentiert. Offenbar später eingefügt sind Fotos der sechs weiteren Opfer der Mordserie sowie von der Trauerfeier für die ermordete Heilbronner Polizistin. Nachweislich das letzte Mal bearbeitet worden ist das Video im Jahr 2007.
- In der Wohnung entdecken die Ermittler auch ein offenbar von zwei verschiedenen Personen handschriftlich gefertigtes Drehbuch zu dem Video. Außerdem können auf der Festplatte des PC Filmdateien gesichert werden, die in dem Video verwandt wurden. Zwei Dateien mit Sequenzen, die ein Überwachungsaufnahmen der Kölner Attentäter zeigen, sind mit den Decknamen von Mundlos und Böhnhardt versehen. Aus handschriftlichen Notizen gehen laut einem Spiegel-Bericht zudem gewisse Auswahlkriterien für potenzielle Opfer hervor. Demnach sollten offenbar „unarische“ Männer im zeugungsfähigen Alter angegriffen werden. In einem Fall ist man den Notizen zufolge offenbar von einem Tatplan abgerückt: ein schon ausgesuchter türkischer Unternehmer in Dortmund sei zwar „gut, aber alt (über 60)“. Allerdings konnten die Handschriften, in denen das Drehbuch und die Notizen abgefasst sind, noch nicht zweifelsfrei Verdächtigen zugeordnet werden.
- Fest steht auch, dass das Trio zumindest in den letzten Jahren seine konspirative Lebensweise zum Teil aufgegeben hatte. Regelmäßig fuhren die drei jeden Sommer für drei Wochen zum Urlaub auf einen Campingplatz auf der Ostseeinsel Fehmarn. Dort knüpften sie Bekanntschaften zu ganz normalen Urlaubern, tauschten mit ihnen Adressen und Urlaubsfotos, schickten sogar in mindestens einem Fall später ein Urlaubsvideo.
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- Dennoch bewegten sie sich in der Öffentlichkeit unter falscher Identität mit den Namen ihrer Helfer. Zum Teil verfügten sie über gefälschte Papiere. Eigene Bankkonten unterhielten sie offenbar nicht, die drei hatten immer Bargeld bei sich und bezahlten damit. Unwahrscheinlich ist aber, dass die Beute aus den von ihnen angeblich verübten Banküberfällen über die 13 Jahre im Untergrund zum Leben gereicht hat. Zieht man die im ausgebrannten Wohnmobil sichergestellte Summe ab, bleiben rund 500.000 Euro für die Zeit ab 1999, als die ersten Überfälle geschahen. Für den teilweise aufwändigen Lebensstil des Trios mit Dutzenden angemieteten Wohnmobilen, Urlauben und Reisen sowie angebliche finanzielle Unterstützungsleistungen für andere Neonazis dürfte dieses Geld allein nicht gereicht haben. Zumal einige Indizien auf ein weiteres, bislang noch unentdecktes Quartier des Trios in der Zeit seit 2008 hindeutet – Fahndern war jedenfalls aufgefallen, dass der Wasserverbrauch in der Zwickauer Wohnung auffällig gering für einen Drei-Personen-Haushalt war.
Die aufgefundenen Waffen wie auch das Video sprechen zwar dafür, dass zumindest Böhnhardt und Mundlos an den Mordtaten und Bombenanschlägen beteiligt gewesen sind – eindeutige Beweise sind das aber nicht, Video und Tatwaffen können ihnen auch von Dritten untergeschoben worden sein. Auch dafür, dass die NSU tatsächlich als eine strukturierte, möglicherweise hierarchisch organisierte Gruppe existierte und ob ihr noch weitere Mitglieder angehörten, gibt es keine Beweise.
Auch der inhaftierten Beate Zschäpe lässt sich keine Mitgliedschaft in der NSU nachweisen – im Gegenteil: BKA-Chef Jörg Ziercke hatte in der Innenausschuss-Sitzung des Bundestages einräumen müssen, es gebe keine Indizien dafür, dass die 36-Jährige je an einem der Verbrechenstatorte gewesen ist. Allerdings gehen die Strafverfolger davon aus, dass Zschäpe zumindest eingeweiht war in die Taten, die Böhnhardt und Mundlos zugeschrieben werden. Ob sie aber die Anruferin war, die kurz vor einem Mord in München am 5. Juni 2005 die beiden auf einem Handy angerufen hat, steht nicht fest. Das Telefonat wurde von einer Telefonzelle in Zwickau geführt, nahe einer Wohnung, die das Trio seinerzeit bewohnte.
Ungesichert sind auch Vermutungen der Ermittler, dass sich die drei nach dem letzten Banküberfall von Eisenach trennen wollten. Zwar sprechen die vielen Waffen und die hohe Summe Bargeld im Wohnmobil dafür, dass Böhnhardt und Mundlos von Eisenach aus sich in einen anderen Unterschlupf absetzen wollten. Sicheres Wissen darüber haben die Ermittler aber nicht.
Die vielen offenen Fragen in dem Fall lassen dann auch genug Raum für Spekulationen in den Medien. Das reicht von weiteren Mordanschlägen, die der NSU zugeschrieben werden, über die Verwicklung staatlicher Stellen oder dunkler Mächte aus dem In- und Ausland, die sich des Trios bedient hätten, bis hin zu einer gezielten „Opferung“ der drei Neonazis, mit dem der Rest eines größeren Verschwörernetzwerks sich schützen wollte. Beweise für all diese Theorien? Fehlanzeige.
Die einzige Person, die Licht in das Dunkel bringen könnte, ist
Beate Zschäpe. Sie schweigt jedoch beharrlich. Ohne ihre Hilfe aber
wird das Geheimnis um die angebliche NSU weiterhin nicht gelüftet
werden können.
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