- „Wir brauchen ein europäisches Deutschland“
In Frankreich nannten sie ihn nur "Dany le Rouge". Doch der rote Daniel Cohn-Bendit ist längst ein Grüner geworden und verrät im Interview, warum die europäische Idee viel zu wichtig ist, um sie Merkel und Sarkozy zu überlassen
Herr Cohn-Bendit, Europa bekommt gerade so viel
Aufmerksamkeit wie nie zuvor in der Integrationsgeschichte. Das
müsste doch eigentlich die Stunde des europäischen Parlamentes
sein. Warum hört man dennoch so wenig vom europäischen Parlament,
von den europäischen Parteien?
Zum einen liegt das an der medialen Übersetzung. Wir brauchen an
dieser Stelle, wie es Habermas formulierte, einen Strukturwandel
der Öffentlichkeit im Hinblick auf Europa. Zweitens: Wenn
beispielsweise über Vertragsveränderungen gesprochen wird, dann
wird mit keinem Wort das europäische Parlament genannt. Eine solche
Vertragsänderung kann es jedoch nicht ohne Zustimmung des
Parlamentes geben. So steht es in den Verträgen. Mir scheint,
Merkel und Sarkozy wissen überhaupt nicht, dass es ein europäisches
Parlament gibt.
Das zeigt doch aber auch, wie schwach zurzeit die
supranationalen Elemente, wie schwach vor allem Kommission und
europäisches Parlament im EU-Gefüge sind. Die Krise hat vollbracht,
was selbst Charles de Gaulle in dieser Qualität nicht gelang: Das
institutionelle Zusammenspiel der EU wurde zugunsten der
intergouvernementalen, der zwischenstaatlichen Elemente,
verschoben.
Diese Tendenz gibt es. Sarkozy hat in einer Rede in Toulon letzte
Woche gesagt, die europäische Demokratie sei eine
intergouvernementale Demokratie.
Das ist dann die Sarkozy-Version von Charles de Gaulles
„Europa der Vaterländer“.
Im Grunde ja. Diese intergouvernementale Interpretation der EU der
Staats- und Regierungschefs ist ein großer Widerspruch. Denn
intergouvernemental ist nicht wirklich demokratisch. Das Parlament
in seiner überwiegenden Mehrheit sieht das ganz genau so. Dort will
man Stabilität und Solidarität neben und nicht
nacheinander. In der intergouvernementalen Weltauffassung
beziehungswiese in der Weltauffassung des Duos Merkel/Sarkozy liegt
aber die Priorität auf einem Nacheinander. Eine solche Auffassung
ist natürlich fatal für Länder wie Spanien oder Italien. Eine
Vertragsveränderung dauert zwischen 12 und 18 Monaten, mindestens.
Die Finanzprobleme in den genannten Ländern können aber nicht
solange warten. Frau Merkel suggeriert, es liege vor allem an den
Ländern selbst. Sie müssten sich nur anstrengen und ihren Haushalt
konsolidieren. Dabei machen heute längst alle diese Länder
Stabilitätsanstrengungen. Diese schwarze Pädagogik, die Frau Merkel
anwendet, nach dem Motto, erst strafen und dann schauen wir mal wie
es weitergeht, ist kontraproduktiv. Stattdessen sollten wir
deutlich machen, dass ganz Europa für die Probleme einzelner
europäischer Staaten einstehen wird.
Die meisten Politiker sind sich einig: Wir brauchen mehr
Europa. Doch was das am Ende heißt, darüber ist man sich so uneinig
wie selten. Die Frage nach der Finalität ist eine offene.
Inzwischen wächst die Einsicht, dass die europäischen Verträge
geändert werden müssen, aber die klare Perspektive fehlt. Bietet
die Krise nicht die einmalige Chance, das entscheidende politische
Defizit der Währungsunion zu beheben und zu einer echten
politischen Föderation zu gelangen?
Wir werden sehen, ob die Krise als Chance genutzt wird. Wenn jetzt
die Vertragsveränderungsvorschläge kommen, das Parlament sie aber
aus bestimmten Gründen ablehnt, dann ist es sehr wahrscheinlich,
dass die Staats- und Regierungschefs wiederum den Schwarzen Peter
auf das Parlament schieben. Dann werden sie jammern und sagen, dass
man in Zeiten der Krise die Reformen doch nicht aufhalten dürfe.
Mit anderen Worten: Die Krise bietet nur dann eine Chance, wenn man
sich nicht von ihr erpressen lässt.
Das heißt konkret?
Das ist doch ganz einfach. Wir brauchen einen Nachhaltigkeitspakt.
Wir brauchen Stabilität und Solidarität gleichermaßen.
Institutionell bedeutet das: Die Kommission wird zur Regierung und
gleichzeitig von zwei gleichberechtigten Kammern – Ministerrat und
Parlament – kontrolliert. Die Regierungen im Rat wiederum müssen
von ihren nationalen Parlamenten kontrolliert werden. Eine solch
demokratische Struktur ist unerlässlich.
Und schon sind wir bei den Vereinigten Staaten von
Europa
So ist es.
Bleibt das Problem der Entmachtung nationaler Parlamente
bei der Übertragung weiterer Souveränität auf die europäische
Ebene.
Die nationalen Parlamente werden nicht entmachtet. Man kann auch
Souveränität abtreten, um Souveränität zu gewinnen. Wenn beide
Kammern gleichberechtigte Gesetzgeber sind, dann findet doch gar
keine wirkliche Entmachtung statt, sondern eine Verlagerung.
Letztlich haben ja auch immer die nationalen Parlamente das letzte
Wort.
Welche Rolle sollten Frankreich und Deutschland in
diesem Modell spielen?
Frankreich und Deutschland müssen vor allem klug und bedacht
handeln und nicht wie zurzeit besserwisserisch und selbstherrlich.
Selten war ich mit Helmut Schmidt einverstanden. Doch seine Rede,
in der er vor deutsch-nationaler Kraftmeierei warnte, war schon
bemerkenswert.
Lesen Sie im zweiten Teil, warum sich Joschka Fischer irrt.
Dieser Tage scheint besonders bei Franzosen und Briten
die Angst vor einem Wiedererstarken Deutschlands groß zu sein. Vor
allem die Worte Kauders („In
Europa wird wieder Deutsch gesprochen“) haben
verschreckt.
Entschuldigung, aber Kauder ist einfach ein Schwachkopf. Und mit
Schwachköpfen soll man sich ja bekanntlich nicht aufhalten.
Aber Resonanz gab es dennoch.
Dieser Spruch hat eine völlig besoffene Debatte in Frankreich
ausgelöst. Eine Debatte, in dessen Verlauf dann ein französischer
Sozialist Frau Merkel mit Bismarck verglichen hat. Solche
dümmlichen Sprüche auf beiden Seiten können unendlich viel Schaden
anrichten. Klar ist, dass Frau Merkel in ihrer Selbstherrlichkeit
leider ein deutsches Europa will. Die Franzosen wollten immer ein
französisches. Doch so funktioniert es nicht. Wir brauchen ein
europäisches Deutschland und ein europäisches Frankreich. Da muss
das Europaparlament, da bin ich mit Ihnen einverstanden, noch mehr
Gesicht zeigen. Ob es genug Mumm hat, wird man sehen.
Vielleicht schon in der nächsten Woche, wenn der Rat
eine Erklärung für eine Vertragsveränderung an das Parlament
weiterreicht und ein Kompromiss gefunden werden muss.
Zwischen Dezember und März wird es zwischen Parlament und Rat um
die Wurst gehen. Wie sich dann die Mehrheit im Parlament verhält,
kann ich Ihnen heute nicht sagen. Noch überwiegt das
Selbstbewusstsein der Parlamentarier. Aber wie lange sie dem Druck
der Regierungen standhalten, wird man sehen.
Ist es die letzte Chance für den Euro?
Im Zusammenhang mit der europäischen Integration wird seit jeher
mit Superlativen hantiert. Immer ist die Rede von „Krise“ oder von
„der letzten Chance“. Wir wissen doch alle, dass der europäische
Einigungsprozess schwierig ist und nicht reibungsfrei verläuft. Die
Historiker werden sich in fünfzig Jahren wundern, mit welcher
Aufgeregtheit die Europadebatte geführt wurde. Im Grunde lässt sich
die ganze Debatte um den Euro auf eine einfache Formel bringen:
Wenn Sie ein Rührei machen, dann gibt es keinen Weg mehr zurück zum
Ei. Da können Sie machen was Sie wollen. Wir haben nun einmal den
Euro, die nationalen Währungen sind passé. Das Zweite ist: Die
deutsche Position um die Zentralbank erinnert mich an folgende
Geschichte: Ein Mensch kommt bei einer Flutwelle fast ums Leben,
bekommt den Schock seines Lebens. 30 Jahre später brennt sein Haus
und er ruft aus: „Zu meiner Rettung alles, aber kein Wasser.“ So
kommen mir zurzeit die Deutschen vor.
Sie spielen auf das permanente Schüren von
Inflationsängsten an?
Ja. Wir leben in völlig anderen Zeiten. Mit dem Euro und der EU
haben wir mittlerweile doch völlig andere Vorzeichen
geschaffen.
Was sind das für Vorzeichen?
Wir sind nach wie vor in einer Phase, den Nationalstaat zu
überwinden. Wir haben im Grunde fünfhundert Jahre gebraucht, um den
Nationalstaat und die sich mit ihm herausgebildeten kulturellen
Identitäten mit all ihren Widersprüchen – Revolutionen, furchtbare
historische Momente – zu bezwingen und in etwas Neues zu
überführen. Vor diesem Hintergrund ist Europa ein einzigartiges
Projekt. Dieser Prozess entscheidet sich nicht auf einem EU-Gipfel
oder bei einem Mittagessen, bei welchem Frau Merkel und Herr
Sarkozy die Welt neu zu erfinden glauben.
Was glauben Sie denn…
…Ich bin Atheist, ich glaube nicht.
Gut, was denken Sie denn bezogen auf Europas Zukunft?
Der Konstruktionsfehler der Währungsunion, das Fehlen eines
politischen Überbaus, wie groß ist die Chance, dass man das
wirklich hinbekommt? Und wie groß ist der politische Wille
dazu?
Uns bleibt doch gar nichts anderes übrig. Die Frage ist nicht ob,
sondern wie schnell wir die notwendige Übertragung von nationaler
Souveränität auf europäischer Ebene vollziehen. Und wie wir das
demokratisch ausgestalten. Ich denke, das ist der Gang der
Geschichte.
Über Weg und auch über das Ziel sind sich aber die
handelnden Akteure nach wie vor uneinig. Sogar bekennende Europäer
und blühende Föderalisten weichen plötzlich von einem
supranationalen Europa ab. Joschka Fischer beispielsweise warnte
jüngst vor der Schaffung einer Superstruktur oberhalb der
nationalstaatlichen Ebene. Ein Affront gegen Kommission und
Europaparlament. Letzteres will er sogar durch eine Eurokammer,
bestehend aus Parlamentarier nationaler Parlamente,
ersetzen.
Der Joschka hat sich da in eine Sackgasse begeben. Die
Renationalisierung des Europaparlaments wäre ein großer
Rückschritt. Worüber man reden kann, ist, ob man nicht bei
bestimmten Euroentscheidungen im Europaparlament letztlich nur die
Abgeordneten der Eurostaaten abstimmen lässt.
Aber zeigt das Beispiel Fischer nicht auch, das die
Skepsis generell zunimmt?
Klar nimmt die Skepsis gerade auch in der Bevölkerung zu. Das
Positive ist jedoch: Zum ersten Mal wird vielen Menschen bewusst,
dass es nicht nur ihren Nationalstaat gibt und die EU kein
abstrakter Spielplatz in weiter Ferne ist. Die Leute merken, dass
Europa ganz konkret unseren Alltag bestimmt. Zum ersten Mal haben
wir eine europäische Öffentlichkeit. Das ist ein entscheidender
Schritt zu einer europäischen Demokratie.
Herr Cohn-Bendit, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Timo Stein
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