- Mubaraks Willkürherrschaft ist wieder da
Die blutigen Auseinandersetzungen haben Ägypten zurückgeworfen: Das Land ist de facto eine Militärdiktatur – und die Demokratie in Weite Ferne gerückt
Die ägyptische Revolution fand gestern unter den schweren Rädern dutzender Militärpanzer ihr Ende.
Mit Knüppeln, Tränengas und Sturmgewehren räumte das Militär zwei Protestcamps der Muslimbruderschaft und tötete mindestens 400 Menschen. Sie wurden in den Kopf und in den Rücken geschossen, zu Tode geprügelt oder verbrannten in ihren Zelten. Es war eine Machtdemonstration. Ägypten ist zurück im Status quo ante: zurück in den Tagen der Militärherrschaft.
Selbst gestern noch begrüßten viele Ägypter das Vorgehen des Militärs und schenkten seinen Aussagen glauben. Vorübergehend solle der gestern verhängte Ausnahmezustand sein, ließ das ägyptische Militär verlauten, noch während die Räumung lief. Armeechef Abdel Fattah al-Sissi sagte, es gelte nur für einen Monat. Es ist die Rhetorik, die schon der gestürzte Präsident Hosni Mubarak nach der Ermordung seines Vorgängers nutzte, als er ein vorübergehendes Notstandsgesetz einführte. Auch Mubarak war General. Das Notstandsgesetz blieb 30 Jahre in Kraft.
Nichts deutet darauf hin, dass al-Sissi einen anderen Weg einschlagen wird. Erst putschte die Armee gegen den ersten demokratisch gewählten Präsidenten, den Muslimbruder Mohammed Mursi. Dann verhaftete das Militär Hunderte Mitglieder der Muslimbruderschaft. Fast die gesamte Führungsriege wurde eingesperrt. Mursi soll möglichst bald mit fadenscheiniger Begründung vor Gericht gestellt werden.
Gleichzeitig suspendierte al-Sissi die Verfassung und setzte eine zivile Regierung ein. Sich selbst machte er zum stellverstretenden Premierminister, ohne genaue Aufgabenbeschreibung. Jedem musste klar sein, wer in diesem Kabinett die Entscheidungen trifft. Und jedem musste klar sein, in welche Richtung das Land strebt: Nur fünf Tage nach seinem Putsch erschossen Soldaten bei einer friedlichen Versammlung der Muslimbruderschaft 51 Menschen. Die Schuld gab das Militär den Opfern. Als zynische Antwort auf die „Gewalt der Muslimbrüder“ wurden mehrere Sondereinheiten Mubaraks rehabilitiert. Der berüchtigte Amn ad-Dawla war vor der Revolution für die Folter und Ermordung tausender Oppositioneller verantwortlich.
Die Anhänger der Muslimbruderschaft antworteten mit weiteren Protesten. Sie würden erst weichen, wenn „ihr“ Präsident wieder eingesetzt sei. Das kann man als wenig kompromissbereit verurteilen. Besonders, nachdem Mursi im Jahr seiner Präsidentschaft selbst oft kompromisslos über die Anliegen jener hinweg ging, die ihn nicht gewählt hatten. Mit seinem Demokratieverständnis, demzufolge der Wahlgewinner tun kann, was er will, hat er viel zur Polarisierung des Landes beigetragen. Gleiches gilt für seine oftmals autokratischen Entscheidungen zum eigenen Machterhalt. Doch al-Sissis Aufruf, ihm durch Proteste „ein Mandat im Kampf gegen Terrorismus“ zu geben, war ein Aufruf zum Mord.
Und das ist der traurige Sündenfall der ägyptischen Linken und Liberalen. Sie folgten dem Aufruf und gingen auf die Straße. Auch in den dunkelsten Stunden seit der Revolution konnte man immer argumentieren: Die Menschen haben angefangen, für sich selbst zu denken und Entscheidungen zu treffen. Sie hatten sich von der Diktatur abgewandt.
Jetzt aber haben die Linken und Liberalen entschieden, dass Demokratie nur für sie selbst gilt. Gewinnen Islamisten die Wahlen, dann sind aus ihrer Sicht Massaker gerechtfertigt. Viele in Kairos Straßen sagten gestern, dass die Muslimbrüder selbst daran schuld seien, dass sie zu hunderten abgeschlachtet werden. Schließlich seien sie Terroristen. Und hierin liegt der große Unterschied zur Herrschaft unter Mubarak. Das Volk hasste ihn. Al-Sissi kann sich hingegen auf die Zustimmung großer Teile der Bevölkerung stützen.
Doch damit haben die Linken und Liberalen auch ihren Träumen von Demokratie ein Ende gesetzt. Nach dem gestrigen Tag gibt es kein Zurück mehr. Die Bilder der Gewalt und die Häme der Unterstützer der Gewalt werden den Vätern, Brüdern, Schwestern und Kindern der Getöteten im Gedächtnis bleiben. Für viele werden sie zum Symbol für Demokratie werden – nach dem zynischen Motto: Wahlen sind gut, doch Islamisten dürfen sie nicht gewinnen. Stattdessen wird vielen ein Weg in die Gewalt als einzige Option erscheinen.
Auch das hat einen Vorgänger in der ägyptischen Geschichte. Nachdem Gamal Abdel Nasser kurz nach der Gründung des modernen Ägyptens die Macht an sich riss, ließ er tausende Mitglieder der Muslimbruderschaft verhaften. In den Foltergefängnissen von damals liegen die Anfänge von Al-Qaida und dutzender extremistischer Splittergruppen. Die kommende Spirale der Gewalt wird al-Sissi und seinem Marionettenkabinett den Vorwand bieten, ihre Macht auszuweiten und den Ausnahmezustand aufrecht zu erhalten.
Um den Schein zu wahren, wird es wahrscheinlich erneut Parlamentswahlen geben. Die schätzungsweise drei Millionen Mitglieder der Muslimbruderschaft und viele andere, die für sie in Wahlen gestimmt haben, werden daran jedoch nicht teilnehmen.
Sie haben gelernt, was Demokratie bedeutet.
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