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Thomas Meyer/Ostkreuz für Cicero

Demografie - Die 100-Millionen-Chance

Deutschland schrumpft, sagt die Kanzlerin. Alle Politik dreht sich nur darum, mit dem Schwund zu leben. Aber die Zukunft ist längst da. Deutschland wächst: im vergangenen Jahr um 200000 Menschen. Und das ist erst der Anfang

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Rinke, Andreas

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Eigentlich galt Halle als schrumpfende, darbende Stadt, ein Symbol für das, was Deutschland bevorsteht. Seit vielen Jahren sagen Demografen der Stadt im Süden Sachsen-Anhalts voraus, dass sie kontinuierlich Einwohner verlieren, also langsam ausbluten wird. Doch wer in diesen Tagen durch Halle läuft, bekommt einen ganz anderen Eindruck. In der Fußgängerzone schieben sich Jung und Alt dicht an dicht. Auf den Baustellen klopft und knattert es. Und die Statistik ist so überraschend wie eindeutig: Die Bevölkerung wächst – und das schon im dritten Jahr.
Nun ist die Stadt wieder ein Symbol, aber nicht für den demografischen Niedergang, sondern für eine erstaunliche Trendumkehr. Deutschland wächst.

Jedes Schulkind erfährt, dass die Bevölkerungszahl auf keinen Fall bei 80 Millionen bleiben wird. Das Schrumpfen ist die Prämisse aller Politik. Auf jedem Parteitag wird das „Demografie-Problem“ beschworen. Jeder Bürgermeister mahnt Ideen an, beruft Kommissionen ein und lässt Beschlüsse fassen, um die Schrumpfkrise zu bewältigen. In den Szenarien bleiben Wohnungen unvermietet, suchen Firmenchefs verzweifelt Mitarbeiter, bleiben Krankenhausbetten unbelegt, und Regionalzüge tingeln leer durch die Landschaft. Das Rentensystem, die Budgetpläne, der Energiebedarf – all das basierte in den vergangenen Jahren auf der Annahme, dass in Deutschland deutlich weniger Menschen leben. Auf einer Annahme, die voreilig war.

Den Prognosen des Statistischen Bundesamts zufolge sollte die Zahl der Menschen in Deutschland von einem Höchststand von 82,5 Millionen seit 2002 kontinuierlich sinken, bis im Jahr 2060 nur noch 64 bis 70 Millionen Menschen übrig sind. Grund für die Prognose war vor allem, dass die deutschen Frauen schon seit Anfang der siebziger Jahre immer weniger Kinder bekommen, was dazu führt, dass auch die Zahl potenzieller Mütter sinkt. Um die Bevölkerung konstant zu halten, ist ohne massive Einwanderung mindestens ein Durchschnitt von 2,1 Kindern pro Frau nötig – real sind es derzeit etwa 1,4. Das Statistische Bundesamt rechnete die Zahlen hoch und kam zu dem Ergebnis, dass es binnen eines halben Jahrhunderts 15 bis 20 Millionen Deutsche weniger geben dürfte.

Das wäre in der Tat ein dramatischer Prozess mit weitreichenden Folgen. Doch schon 2011 wurde der Abwärtstrend gebrochen, mit einem großen Einwandererplus von 279000 Menschen. 2012 gab es erneut einen starken Zuwachs von mehr als 369000 Menschen. Die Bevölkerung stieg dadurch wieder auf über 82 Millionen Menschen an.
Mit Staunen beobachten Bevölkerungsforscher, wie die reale Entwicklung von ihren Prognosen abzuweichen beginnt. Vor allem wandern aufgrund der EU-Erweiterung und der Eurokrise mehr Menschen ins wirtschaftlich starke Deutschland ein als aus. „Ein so starkes Plus in den letzten beiden Jahren ist eine wirklich erstaunliche und erfreuliche Entwicklung“, sagt James Vaupel, Direktor am Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock, einer der führenden Einrichtungen für Bevölkerungsforschung weltweit.

Vaupel gehörte in den vergangenen Monaten zu den Leitfiguren der Demografie-Kampagne der Bundesregierung. Sein Gesicht prangte von den Plakaten, mit denen die Bundesregierung das Land auf eine Zukunft des Schrumpfens und Alterns vorbereiten will. Doch ob die Schrumpfung wirklich so kommt wie prognostiziert, daran äußert der renommierte Demograf nun erhebliche Zweifel: „Die Bevölkerungsentwicklung wird dadurch bestimmt, wie viele Menschen ein- und auswandern und wie viele Menschen geboren werden und sterben“, sagt Vaupel. Er sehe nun „Anzeichen dafür, dass die offiziellen Prognosen in allen diesen Bereichen danebenliegen“.

Das Undenkbare wird plötzlich denkbar: Warum sollte Deutschland im 21. Jahrhundert nicht einfach weiter 82 Millionen Einwohner haben, so wie heute. Oder könnte unter neuen Bedingungen die Bevölkerung gar wachsen, auf 90 Millionen? Auf 100 Millionen?

Bis etwa zum Jahr 2000 war Demografie in Deutschland ein Tabu. Weil die Nazis ihre Ideologie stark mit demografischen Argumenten untermauert hatten, vom Volk ohne Raum über die Rassenlehre bis zum Mutterkreuz für Vielgebärerinnen war es verpönt, politische Strategien zu entwickeln, um die Bevölkerung zu vergrößern oder Familien zu mehr Kindern zu ermutigen. „Eine aktive Bevölkerungsplanung ist ein historisch belastetes Thema“, sagt Günter Stock, Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der in den vergangenen Jahren eine Arbeitsgruppe der Nationalen Akademie Leopoldina zur Demografie geleitet hat.

Vor etwa zehn Jahren brach das Tabu doch, weil die Zahlen zu Geburten und zum Bevölkerungsrückgang so dramatisch wirkten. Die „Demografie-Debatte“, an der sich bis hin zum Bundespräsidenten alle prominenten Denker beteiligten, nahm schnell fatalistische Züge an: Dass die Bevölkerung stark schrumpft, wurde landauf, landab erstaunlich schnell als gegeben hingenommen. Der Eindruck entstand, dass nichts und niemand etwas gegen die Macht der Zahlen tun kann. Das Schrumpfen entwickelte sich zum Mantra, das Kommunen, Unternehmen und Politik seither wiederholen und inzwischen all ihren Entscheidungen zugrunde legen. Städte lassen, wie zuletzt in Duisburg, mit Verweis auf „die Demografie“ ganze Wohnviertel abreißen.

Kanzlerin Angela Merkel hielt Mitte Mai bereits ihren zweiten Demografie-Gipfel ab, bei dem es um die Entvölkerung des ländlichen Raumes und um Alterung ging. Sie will die empfundene Bedrohung zumindest als Chance interpretiert wissen. Aber auch sie glaubt noch an die Schrumpfung: „Wenn wir auf Deutschland schauen, ungeachtet möglicher Zuwanderungsraten, dann wissen wir, dass wir insgesamt weniger werden“, sagte sie Ende April vor dem Deutschen Ethikrat.

Dass die Schrumpfungsprognosen so widerstandslos aufgenommen werden, hat neben historischen ökonomische Gründe. Für die Finanzminister sind die Zahlen das ideale Argument, um Ausgaben zurückzufahren, etwa im Wohnungsbau und in Schulen und Hochschulen. So will die Regierung von Sachsen-Anhalt ihren Hochschulen in den kommenden Jahren mehr als 50 Millionen Euro kürzen, was 150 Professorenstellen entspricht. Offizielle Begründung: die Demografie-Prognosen. Ministerpräsident Reiner Haseloff entließ sogar die Wissenschaftsministerin, als die sich weigerte, den Kurs mitzutragen.

Die geschasste Ministerin hatte offenbar einen aktuelleren Eindruck von der Universitätsstadt Halle als ihr CDU-Kollege Haseloff. Wer die Stadt besucht, sieht, dass sie durch den Zuzug von Studenten im Vergleich zu den Nachwendejahren aufblüht. Am Sophienhafen direkt an der Saale zum Beispiel stehen orangefarbene Bauwagen bereit. Hier sollen bald „moderne Stadthäuser“ entstehen. In der Schimmelstraße, unweit des Zentrums, lässt die Stadt demnächst eine neue Kindertagesstätte errichten, so groß ist die Nachfrage junger Eltern. Noch näher an der historischen Innenstadt, in der Niemeyerstraße, will die Wohnungsbaugesellschaft „Freiheit“ eine riesige Brache im nächsten Jahr mit 110 neuen Wohnungen füllen.

233000 Hallenser gibt es heute, über 2000 mehr als noch vor vier Jahren. Halle macht deshalb einen jungen Eindruck. Auf dem Rasen neben dem strahlend sanierten Universitätsplatz sitzen Studenten und skypen. Gegenüber, im Café „Wonnemond und Sterne“, debattiert an einem Tisch ein Professor mit seinen Assistenten, am nächsten sitzt eine Runde junger Mütter, draußen läuft eine Schulklasse vorbei. Den offiziellen Prognosen zufolge müssten schon heute nur noch 225000 Menschen in Halle leben, im Jahr 2025 gar 206000. „Alle Bevölkerungsprognosen gingen von einer anhaltenden Schrumpfung der Bevölkerungszahl in Halle aus“, sagt Uwe Stäglin, der Dezernent für Stadtentwicklung.

Ihn freut der Aufschwung: „Das Ausmaß der positiven Entwicklung war bis vor wenigen Jahren nicht absehbar, nun wollen wir erreichen, dass das Wachstum weitergeht“, sagt er. Doch ausgerechnet die Landesregierung durchkreuzt dieses Vorhaben. Die Stadtoberen und die Universitätsleitung bekommen von ihr weiterhin die veralteten Bevölkerungsprognosen als unabwendbares Schicksal präsentiert. Wird an den Hochschulen gespart, dürfte es tatsächlich wieder bergab gehen. Das Beispiel Halle zeigt vor allem eins: dass Demografie in hohem Maß flexibel und gestaltbar ist – und dass Prognosen eine eigene, potenziell fatale Kraft entfalten können, weil sie flexibles Denken und Planen behindern.

Eine ganze Generation von Beratern und Wissenschaftlern ist allein damit beschäftigt, Deutschland auf den demografischen Niedergang einzustimmen. So viele und so grundsätzliche Entscheidungen gründen inzwischen auf dem Schrumpfungsmantra, dass es für Politiker schwer ist, den neuerlichen Bevölkerungszuwachs anzuerkennen und als Chance zu begreifen: Denn nicht nur für lokale und regionale, auch für die großen Fragen der Politik dient die prognostizierte Schrumpfung als grundlegendes Argument. Die gesamte Strategie von Kanzlerin Merkel in der Schuldenkrise beruht auf der tiefen, parteiübergreifenden Überzeugung, dass man einer kleiner werdenden Zahl junger Deutscher nicht noch mehr Schulden aufhalsen kann. Die ohnehin vernünftige Sparpolitik wurde dadurch gleich zur Schicksalsfrage: Deshalb hatte bereits die Große Koalition die Schuldenbremse im Grundgesetz verankert und als Zukunftssicherung verkauft.

Im geburtenstarken Frankreich setzen die Regierungen dagegen seit Jahren auf Wachstum – und das erklärt mehr als jede Parteipolitik die derzeitigen deutsch-französischen Differenzen. Ähnlich wie die USA glaubt man sich im wachsenden Frankreich mehr Schulden leisten zu können. Als im vergangenen Jahr das französische Demografie-Institut INED seine Vorausberechnungen vorlegte, jubelten die Medien im Nachbarland: Im Jahr 2055, so lautete die Botschaft, werde man endlich bevölkerungsreicher als der ewige Hass-Liebespartner sein – ein erklärtes Ziel der französischen Politik seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Was jetzt in Deutschland passiert, muss aus französischer Sicht eine Schreckensnachricht sein: Der Koloss in der Mitte Europas wächst wieder.

Viele Politiker und Experten erwischt die aktuelle Entwicklung auf dem falschen Fuß. Kein einziges der Szenarien, die bisher kursierten, spielte durch, was passieren könnte oder passieren müsste, damit die Bevölkerung stabil bleibt oder wieder wächst. Dabei sind die Folgen der aktuellen Entwicklung vor allem in den deutschen Städten gut zu beobachten. In Städten wie Berlin, Hamburg und München wird Wohnraum knapp, am Samstag stehen die Wohnungssuchenden oftmals um Straßenecken herum Schlange, um eine der begehrten Appartements besichtigen zu können. In Berlin kurbelt die Landesregierung den sozialen Wohnungsbau wieder an.

Wohnhäuser lassen sich relativ schnell bauen. Bis eine neue Schule gebaut ist, und dort der Unterricht beginnen kann, dauert es dagegen schon länger. Wenn eine Republik, die auf Schrumpfung getrimmt wird, doch wieder wächst, wirft das Probleme auf. Wenn milliardenschwere Infrastrukturpläne, ob für die Bahn oder den Autoverkehr, auf eine sinkende Bevölkerung eingestellt werden, kann das schnell zu überfüllten Zügen und Stau führen. Die Pläne für die ohnehin schon schwierige Energiewende wären falsch ausgelegt, da dann für deutlich mehr Menschen Windräder, Solarzellen und Stromnetze installiert werden müssten.

Durch ein Wachstum gäbe es allerdings viele positive Effekte: In der Finanzpolitik könnte vor allem das Sparen, aber auch das staatliche Investieren, einfacher werden, weil es doch mehr Steuerzahler gäbe als bisher angenommen. In jedem Fall wäre ein wachsendes Deutschland für Investoren aus aller Welt attraktiver als eines, das als Markt schrumpft und unter einem ständigen Fachkräftemangel leidet. Die Finanzierung der Sozialsysteme würde einfacher und die ohnehin kommende Alterung der Gesellschaft könnte besser abgefedert werden.
Nur langsam dämmert es den Fachleuten, dass ihre früheren Zahlensets überholt sein könnten und sie bei den Prognosen für Ein- und Auswanderung, bei den Geburten und bei der Lebenserwartung womöglich umdenken müssen.

Treibende Kraft für den starken Bevölkerungszuwachs ist derzeit eindeutig die Zuwanderung. Nachdem 2009 noch mehr Menschen Deutschland den Rücken gekehrt hatten als zugezogen waren, dreht sich der Trend dramatisch in die andere Richtung. Nach einem positiven Saldo 2011 vermeldete das Statistische Bundesamt Anfang Mai, dass 2012 ingesamt eine Million Menschen nach Deutschland gezogen ist, 369000 mehr als auswanderten – das ist der höchste Nettozuwachs seit 17 Jahren.

Zwar warnen erfahrene Statistikerinnen wie Bettina Sommer vom Statistischen Bundesamt davor, das Hoch der vergangenen beiden Jahre linear auf die Zukunft zu übertragen. Die Bevölkerungsexpertin verweist auf die Langfrist-Statistik, nach der es seit 1950 bereits 13 Mal ein positives Zuzugssaldo von mehr als 300000 Einwohnern gegeben hat. Der Rekord lag 1992 sogar bei 782000 Menschen. Dann deutet sie auf andere Teile der zackigen Kurve: In fünf Phasen seit 1950 gab es auch ein negatives Wanderungsaldo, verließen mehr Menschen Deutschland als zuzogen. „Wenn Sie langfristige Annahmen für die Zeit bis 2060 treffen, müssen Sie als Statistiker einen Durchschnitt annehmen und vorsichtig rechnen“, warnt Sommer. Sie ist ein gebranntes Kind. Denn als das Statistische Bundesamt 2009 seine neue 12. Bevölkerungsvorausberechnung veröffentlichte, wurde es prompt dafür kritisiert, dass die damals verwendeten Annahmen mit einem durchschnittlichen jährlichen Zuzug von 100 000 und 200 000 Menschen viel zu optimistisch seien. 2008 und 2009 glaubten auch viele Experten wegen der wirtschaftlichen Krise nicht mehr an eine Wende.

Wie Sommer sieht auch der Demografie-Experte Reiner Klingholz, Leiter des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, „derzeit noch keine Anzeichen für eine demografische Trendwende“. Die starke Zuwanderung werde nicht zehn oder mehr Jahre anhalten, „weil dann irgendwann keiner mehr in Spanien oder Bulgarien ist, der auswandern könnte“.

Doch viele sind anderer Meinung. Wegen der Krise in anderen EU-Staaten und der Stärke der deutschen Wirtschaft dürfte ihnen zufolge die Zuwanderung dauerhaft anhalten. Das Wirtschaftsforschungsinstitut Kiel Economics, eine Ausgründung des renommierten Instituts für Weltwirtschaft, rechnet damit, dass allein im Jahr 2014 die Nettozahl der Zuwanderer auf über 500000 steigen könnte. Bis 2020 könnten insgesamt 2,2 Millionen Menschen hinzukommen, vor allem aus den wirtschaftlich kriselnden Ländern in Süd- und Osteuropa. Das wären 275000 pro Jahr, fast ein Drittel mehr als angenommen. Der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, rechnet allein aus Bulgarien und Rumänien mit einer Zuwanderung von 120000 bis 180000 Menschen – jährlich. „Die tiefgehende Wirtschaftskrise in Ländern wie Spanien und Griechenland lässt es plausibel erscheinen, dass die hohe Einwanderung anhält und dass viele der Einwanderer in Deutschland bleiben werden“, erwartet auch James Vaupel, Direktor am Max-Planck-Institut für demografische Forschung. Dass die Zuwanderung in das temperierte Deutschland noch stärker wächst, wenn in Afrika und Asien der Klimawandel wirklich zuschlägt, ist in diesen Prognosen noch nicht einmal beachtet.

Die vorsichtigen Annahmen hatten mit der früher üblichen Vermutung zu tun, höhere Zuwanderungszahlen seien in Deutschland aus politischen und kulturellen Gründen nicht machbar. Doch inzwischen hat sich die Lage auch mental zum Positiven verändert, die Integrationspolitik fruchtet. Zuwanderer sind heute in Medien und Politik sichtbarer vertreten als früher, nicht einmal die Union geriert sich mehr als Bewahrer reindeutscher „Leitkultur“. 20 Jahre nach der erbitterten, teilweise naiven Multi-Kulti-Debatte ist die Bundesrepublik heute auf dem besten Wege, sich lautlos zu einem funktionierenden Schmelztiegel zu entwickeln. Von „Gastarbeitern“ spricht heute kaum noch jemand, auch der sperrige „Mensch mit Migrationshintergrund“ wird im Sprachgebrauch seltener. Zuwanderung ist die neue Normalität, in der Breite der Gesellschaft ist eine „Willkommenskultur“ am Entstehen.

Peter Clever von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, plädiert für einen noch offensiveren Kurs: „Wir haben unsere Behörden über Jahrzehnte in eine Abschottungskultur hinein entwickelt, man hat den zuständigen Beamten gesagt, haltet uns die Leute vom Hals, die wollen alle nur in unsere Sozialsysteme“, kritisiert er. Jetzt müsse aber umgeschaltet werden: „Wir benötigen Fachkräfte, die müssen wir umwerben.“ Die vielen Zuwanderer von heute kommen also trotz des Gegenwinds von Behörden. Was für ein Potenzial gäbe es erst, wenn Deutschland gezielt anwerben würde?

Wie das aussehen kann, macht Jens Begemann deutlich, Chef des Start-ups und Spieleentwicklers „Woogaa“ im Berliner Viertel Prenzlauer Berg. Als der umtriebige Manager die Kanzlerin im März durch die Räume in der „Backfabrik“ schiebt, freut er sich besonders auf diesen Moment: Er platziert Merkel vor einer Gruppe von 40 Mitarbeitern – aus 40 verschiedenen Staaten. Das Foto wird zum Symbol für das neue, boomende Deutschland: „Anderssein“ stört nicht mehr, sondern wird zum Plus in der globalisierten deutschen Wirtschaft. Hamburg und andere Städte haben „Welcome Center“ eingerichtet, um Migranten den Start zu erleichtern. Die Zukunft der Zuwanderung hat begonnen: Angesichts der Panik vor einem Fachkräftemangel veranstalten deutsche Auslandshandelskammern zunehmend Anwerbeveranstaltungen, auch in den angeschlagenen Eurostaaten. Die Goethe-Institute verzeichnen weltweit Rekordnachfragen nach deutschen Sprachkursen. Die Bundesagentur für Arbeit hat gerade eine Delegation nach Asien geschickt, die in China und einigen anderen Staaten die Chancen für die Anwerbung von Arbeitskräften für den Gesundheitssektor erkunden soll.
Die Resonanz auf deutsches Werben ist meist positiv. Junge Menschen zieht es heute nicht nur nach Deutschland, weil es Jobs gibt. Hinzu kommen das moderate Klima, eine effiziente Infrastruktur, Krankenversicherung für alle, die saubere Umwelt und ein reiches Kulturleben. Wenn Wirtschaftsminister Philipp Rösler Deutschland „das coolste Land der Welt“ nennt, wird er von Deutschen dafür stärker belächelt als im Ausland.

Attraktiv geworden ist Deutschland inzwischen auch wieder für Wissenschaftler aus aller Welt. War früher vom „brain drain“ gen USA die Rede, ist Deutschland nun begehrtes Ziel. Während in den USA, Großbritannien und in südeuropäischen Ländern die Forschungsbudgets teils drastisch schrumpfen und Hochqualifizierte ihre Arbeitsplätze verlieren, hat die Bundesregierung ihre Ausgaben für Bildung, Technologie und Forschung seit 2005 um 60 Prozent erhöht. 2011 studierten 252000 Ausländer an deutschen Universitäten, knapp 29 000 ausländische Wissenschaftler arbeiteten an deutschen Forschungseinrichtungen. Das sind so viele wie nie zuvor, Tendenz steigend. Attraktiv wird Deutschland auch für jene deutschen Wissenschaftler, die in den vergangenen Jahren in andere Länder abgewandert sind. Viele von ihnen kehren zurück, teils dank staatlicher Anreize für Heimkehrer.

Auch die traditionell hohe Zahl deutscher Auswanderer könnte in Zukunft sinken, schon weil die USA längst nicht mehr das Land der unbegrenzten Möglichkeiten sind und das frühere Traumland Australien in den Nachrichten wahlweise mit Dürren oder Überschwemmungen vertreten ist.

Wenn weniger Menschen auswandern, schlägt der Positivtrend bei der Zuwanderung stärker durch. Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Migration und Integration urteilt: „Zum ersten Mal seit 15 Jahren hat die Zuwanderung ein Maß erreicht, das den demografischen Wandel und seine Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme abfedern kann.“
Niemand bezweifelt, dass der demografische Wandel gerade wegen der gesunkenen Kinderzahl und der wachsenden Zahl alter Menschen eine Herausforderung ist. Doch die Demografie-Debatte der vergangenen Jahre verlief zu starr, so als könnte man nur noch den Niedergang möglichst erträglich gestalten. Demografische Prognosen sind aber kein Naturgesetz, kein unabwendbares Schicksal. Das gilt selbst für die Geburtenrate, die Hauptursache dafür, dass die deutsche Bevölkerung geschrumpft ist. Von rund einer Million Geburten im Jahr 1970 ist die Zahl auf 663000 im Jahr 2011 gesunken. Die Gruppe der potenziellen Mütter, also von Frauen zwischen 15 und 49 Jahren, wurde als Folge davon allein seit 2004 um rund eine Million kleiner. Weniger Mütter, weniger Kinder, das liegt auf der Hand, dazu kommt die große Anzahl kinderloser Frauen, die die durchschnittliche Kinderzahl drückt.

Doch wie bei der Zuwanderung sehen Demografen sowohl am renommierten Max-Planck-Institut in Rostock als auch am französischen INED bei der Geburtenrate Anzeichen für eine Trendwende. Ende März veröffentlichten die Rostocker Forscher einen Aufsatz. Titel: „Endgültige Geburtenraten werden steigen.“ „Langfristig niedrige Annahmen der Periodenfertilität, wie etwa 1,4 für die mittlere Variante der deutschen Vorausberechnungen, erscheinen wenig realistisch“, schreiben die Demografen Mikko Myrskylä und Joshua Goldstein. Eine leichte Steigerung erwarten auch die Expertinnen im Statistischen Bundesamt, Bettina Sommer und Olga Pötzsch. „Den Tiefpunkt verzeichneten wir bei Frauen, die in den Jahren 1967 und 1968 geboren wurden. Seither zeigt sich wieder eine leichte Erholung auf einen Wert von 1,55 Kindern pro Frau“, sagt Pötzsch.

Trendwenden bei der Geburtenzahl sind also möglich. Das zeigt auch Frankreich. In den neunziger Jahren, das wird oft vergessen, war auch dort die Kinderzahl pro Frau auf durchschnittlich 1,7 abgesackt. Durch eine Reihe von Einflüssen wie staatliche Förderung, verstärkte Einwanderung und einen Meinungswandel in der Bevölkerung ist die Geburtenrate in relativ kurzer Zeit wieder gestiegen.
Aber kann die Geburtenrate auch in Deutschland nach einer so langen Phase sinkender Kinderzahlen wieder steigen? „Ja, daran glauben wir fest“, sagt Günter Stock, Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. „Wenn man Mädchen im Alter von 14 bis 16 Jahren befragt, ist für sie das Thema Kinderbekommen eine Selbstverständlichkeit.“ Später sinke der Wunsch, vor allem, weil viele junge Frauen eine Kollision zwischen Berufs- und Familienwünschen fürchten.

Derzeit aber verbessern sich die Rahmenbedingungen für junge Eltern, etwa durch den Ausbau von Krippen- oder Kitaplätzen oder mehr familienpolitische Leistungen. Dazu kommt die in Deutschland ins Positive gedrehte Grundstimmung. Alle Experten räumen ein, dass sowohl die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes als auch eine Zuversicht in der Bevölkerung den Kinderwunsch erhöht.
Früher gaben sich junge Deutsche Zukunftsängsten hin etwa vor einem Atomkrieg – Kinder in eine vermeintlich untergehende Welt zu setzen, galt fast schon als moralischer Makel. Heute gibt die große Mehrheit der Jugendlichen in Deutschland an, keine Angst vor der Zukunft zu haben – auch nicht vor Arbeitslosigkeit. 84 Prozent der Befragten zwischen 17 und 27 Jahren gaben in einer Studie „Jugend, Vorsorge, Finanzen“ des Versorgungswerks Metall-Rente vielmehr an, dass sie darauf vertrauten, einen guten Lebensstandard zu erreichen und sich viel leisten zu können.

Am Demografie-Institut in Rostock führt James Vaupel Skandinavien als Beispiel an, wie die Geburtenrate wieder steigen kann. „Wenn nun in Deutschland die Kinderbetreuung ausgebaut ist und Väter sich stärker in die Versorgung der Kinder einbringen, sehe ich keinen Grund, warum es nicht auch in Deutschland zu einer Trendwende bei der Geburtenrate kommen sollte.“ Marion Kiechle, Direktorin der Frauenklinik der TU München, erklärte im Mai bei einem Treffen im Kanzleramt: „Gelebte Gleichstellung würde die Geburtenrate mit Sicherheit steigern.“
Dazu kommen kleinere positive Effekte durch sinkende Abtreibungszahlen und die erhöhte staatliche Förderung für die künstliche Befruchtung. Selbst das zur Vorsicht verpflichtete Statistische Bundesamt hat eine „spekulative“ Berechnung angestellt, was eigentlich der Effekt wäre, sollte Deutschland im Jahr 2015 wieder eine Fertilitätsrate von 2,1 Kindern pro Frau erreichen. Unterstellt man die bisherige Lebenserwartung und einen durchschnittlichen positiven Zuzug von 100000 Menschen pro Jahr, würde die deutsche Bevölkerung im Jahr 2060 trotz einer unvermeidlichen Babydelle schon wieder 82,9 Millionen betragen, etwas mehr als bisher.

Zu einer Trendwende bei der Bevölkerungszahl könnte am Ende auch beitragen, dass die Lebenserwartung möglicherweise stärker steigt, als für solche Langfristannahmen bisher unterstellt. Zwar verschwinden derzeit viele besonders Langlebige aus den staatlichen Karteien. Der letzte Mikrozensus hat hier bei der absoluten Bevölkerungszahl und der Langlebigkeit mit statistischen Artefakten aufgeräumt. „Da gab es viele Ausländer, die in ihre Heimat zurückgehen, sich nicht abmelden und dann auf dem Papier in deutschen Behörden 120 Jahre alt werden“, sagt Reiner Klingholz vom Berlin-Institut.

Doch die Lebenserwartung könnte real deutlich steigen, wenn es in der Medizin Durchbrüche gibt oder wenn es zu weniger Herzinfarkten kommt, weil die Menschen sich gesünder ernähren und mehr Sport treiben. Das Statistische Bundesamt geht in seiner 2009 erstellten Annahme davon aus, dass das Lebensalter von Frauen bis 2050 auf 89,2 Jahre und das von Männern auf 85 Jahre steigen wird. „Dank medizinischem Fortschritt und gesünderem Lebenswandel kann die Lebenserwartung genauso gut deutlich stärker steigen, als in der Prognose angenommen“, sagt James Vaupel sogar. „Gerade bei der Entwicklung der Lebenserwartung haben Demografen systematisch danebengelegen und sie unterschätzt.“ Für die 13. Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamts, die Ende 2014 erscheinen soll, dürften die Annahmen für die durchschnittliche Lebenserwartung nach oben korrigiert werden, sagt die Expertin des Amtes, Bettina Sommer.

Niemand kann garantieren, dass es bei der demografischen Trendumkehr bleibt. Die harten Faktoren beim Geburtenrückgang wirken, und es wird weiter Schwankungen und unvorhersehbare Entwicklungen geben. Klar ist auch, dass es in vielen Regionen Deutschlands zu Schrumpfungsprozessen kommen wird. Sofern nicht wie unter Friedrich dem Großen Siedlerbewegungen entstehen, werden sich abgelegene Regionen weiter leeren. Die „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“, die das Grundgesetz fordert, ist passé.

Doch das noch vorherrschende Dogma der Schrumpfung ist fatal, weil es politische Entscheidungsprozesse in falsche Bahnen lenken kann – die Studenten in Halle und die Wohnungssuchenden in Berlin bekommen das zu spüren.

Es ist nötig, dass in der Diskussion auch Szenarien debattiert werden, unter welchen Bedingungen die Bevölkerung auf 90 Millionen oder 100 Millionen Menschen wachsen könnte. Das mag nicht hochwahrscheinlich sein, aber möglich durchaus, wenn ein wirtschaftlich erfolgreiches, innovatives Deutschland dauerhaft zum Magneten und Schmelztiegel wird und sich Optimismus, Umweltschutz und gesunde Lebensweisen mit Kinderfreundlichkeit vereinen. Platz gäbe es, aber das Land müsste sich auf Wachstum einstellen – politisch und emotional. Erst wenn Szenarien wie das eines „100-Millionen-Deutschlands“ in der Debatte überhaupt vorkommen, wird Demografie vom Abwicklungs- zum Gestaltungsprozess. James Vaupel, Leitfigur Regierungskampagne zur Demografie, sagt: „Gute Politik bereitet sich darauf vor, dass es doch anders kommt, als alle gedacht haben.“

 

 

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