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Totale Prism-Apathie - Dann überwacht mich doch!

Die Empörung über Prism und Tempora bewegt die Massen nicht. Privatsphäre erscheint wie ein Relikt aus der Vergangenheit. Die Devise lautet: Mach‘ dich öffentlich

Alexander Kissler

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Es war ein Schlag ins Wasser: Am heißesten Wochenende des Jahres versammelten sich deutschlandweit gerade einmal gut 10.000 Menschen, um unter dem Motto „Stop watching us!“ gegen einen „außer Kontrolle geratenen Überwachungsstaat“ zu demonstrieren. Die amerikanischen und britischen Spionageprogramme Prism und Tempora seien augenblicklich zu beenden, der „Schutz des Menschenrechts auf Privatsphäre“ müsse durch internationale Abkommen garantiert werden. Zuvor hatten knapp 60 deutsche Schriftsteller und Publizisten in einem offenen Brief an die Bundeskanzlerin ähnlich geurteilt: „Wir erleben einen historischen Angriff auf unseren demokratischen Rechtsstaat, nämlich die Umkehrung des Prinzips der Unschuldsvermutung hin zu einem millionenfachen Generalverdacht.“

Diese Position ist gut begründet. Es fällt angesichts der bekannten Fakten schwer, Argumente dagegen zu finden. Es sei denn, man ist wie Otto Schily ein Altvorderer mit ehemals exekutiver Gewalt. Dann poltert es sich leicht gegen „Getöse“ und „teilweise wahnhafte Züge“ in der Debatte. Sehr schwer fällt es aber auch, die Massen zu bewegen. Das Thema – da hat Schily Recht – taugt nicht zum Wahlkampfschlager. Zieht man von den Teilnehmern an den 39 Demonstrationen am vergangenen Samstag jene in den mit 3000 bzw. 2000 Teilnehmern bestbesuchten Städten Hamburg und Berlin ab, dann bleiben für die übrigen 37 Demonstrationen jeweils rund 135 Unentwegte übrig. Pro Stadt.

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Das zeigt: Der digitale Graben ist wieder da. Er verläuft nicht wie früher zwischen denen, die sich in der digitalen Welt auskennen, und jenen, die ihr Leben analog gestalten. Nein, jenseits von Greisentum oder selbst gewählter Askese sind wir alle digital natives, Eingeborene im Land der Nullen und der Einsen. Gerade weil dem so ist, weil Kind und Teen, Twen und Mannesmann und Lady und Hausfrau, Arbeiter und Arbeitslose längst online leben, lässt der Skandal sie kalt. Wer kein digitaler Utopist mehr ist, der hat mit der Muttermilch die eine Botschaft aufgezogen: Privatheit war gestern, mach‘ dich öffentlich. Zeige dich. Nur wer gesehen wird, der lebt.

 

Diese digitale natives der zweiten Generation haben lange, sehr lange und vielleicht zu lange, die Schalmeienklänge einer neuen kommunikativen Freiheit gehört. Nun kennen sie keine anderen. Nun wissen sie, nun wissen wir, dass es kein Innen und Außen geben kann, wenn alles sofort nach außen gereicht wird. Wenn wir die Lautsprecher unseres Daseins mit uns tragen, die auf uns selbst gerichtete Kamera, mit der wir die Welt fortwährend vermessen und archivieren und entschlüsseln. Der digital native der zweiten Generation will keine Geheimnisse haben. Es verwundert ihn, wenn andere Menschen darauf bestehen und sich dann ihrerseits wundern, wenn ein Staat ihnen diese so furchtbar altmodischen Geheimnisse entwinden will. Jene anderen Menschen erscheinen ihm wie Höhlenbewohner. 

Die Digitalisierung der Welt war von Anfang an auf deren Verschriftlichung angelegt. Und wo eine Schrift, da ist ein Leser. Ob nun der Staat mitliest oder die Schar der Netzwerk-Freunde oder der „Fan“ von nebenan: Das kümmert den digitalen Eingeboren nicht. Irgendjemand, weiß er, ist da immer, der zuguckt und sich seine Gedanken macht, was also soll’s?

Das „Menschenrecht auf Privatsphäre“ hat schlechte Karten. Theoretisch wäre es schön, praktisch ist es verzichtbar in einem Universum, das zwischen den Maximen Öffentlichkeit und Exhibitionismus schlingert. Wer die Privatsphäre zurück haben will, der muss das Rad der Zeit zurückdrehen. Daten lassen sich nicht mehr privatisieren.

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