- „Wir müssen Zeit schätzen lernen“
„Enthetzt euch!", fordert Zeitforscher Karlheinz Geißler. Burnout, die schwächelnde Finanzwirtschaft und das Bundesverfassungsgericht als Bremse der Politik - alles hängt an der Zeit. Lösen können wir die Probleme nur, indem wir wieder lernen, rhythmisch zu leben
Herr Professor Geißler, fangen wir mit der „einfachsten“
Frage an: Was ist Zeit?
Das weiß keiner und jeder. Es
gibt keine allgemeingültige Antwort darauf – es gibt tausend
unterschiedliche! Die meisten Leute antworten auf die Frage: „Schau
doch zur Uhr!“ Für sie ist Zeit das, was die Uhr anzeigt. Die
Germanisten meinen, es ist ein einsilbiges Wort, aber das bringt
uns auch nicht viel weiter. Meine 6-jährige Enkelin hat das Beste
gesagt, was ich je gehört habe: „Die Zeit, die gibt’s gar nicht.
Die gibt es nur im Gehirn, gleich neben den Träumen.“
Der
Begriff ist also nicht einfach zu definieren. Was macht man dann
als Zeitforscher?
Ein Zeitforscher ist zumindest
keiner, der forsch mit Zeit umgeht. Sondern einer der das, was die
Menschen mit Zeit tun, reflektiert.
Außerdem sind Sie Zeitberater – bräuchte heutzutage
nicht jeder Mensch einen Zeittherapeuten?
Jeder muss
sich selbst beraten, wenn es um Zeit geht. Und manchmal, wenn er
glaubt, dass er dann nur in noch größere Probleme kommt, kann er
einen Zeitberater konsultieren. Keinen Zeitmanager allerdings, denn
der bringt ihn nur in noch mehr Zeitdruck als vorher. Für sie ist
Zeit nur etwas, mit dem sie Ordnung machen – mit Hilfe von
To-Do-Listen, die selbst zeitaufwändig permanent umorganisiert
werden müssen. Die Zeit hat aber keine Ordnung. Sie ist so
unordentlich wie das Leben. In der Zeitberatung geht es
darum, die Widersprüche, die Vielfalt, die Unregelmäßigkeiten auch
die Ungreifbarkeiten der Zeit zu balancieren.
Was war für Sie der größte Meilenstein in der Geschichte
der Zeit?
Die Erfindung der Uhr war die größte, weil
folgenreichste Erfindung im Rahmen der Zeitmessung – damit wurde
die abstrakte Zeit gegründet. Bis dahin ist Zeit identisch mit
Wetter und Natur gewesen, wie im Französischen, Italienischen und
Spanischen noch heute – Zeit und Wetter haben den gleichen
Begriff.
Mit der Uhrzeit wurde die Zeit abstrakt und qualitativ leer. Diese abstrakte Leere auf der Uhr können wir mit neuen Maßstäben besetzen. Besetzen wir sie mit Liebe, gehen wir ganz anders damit um als wenn wir sie mit Geld besetzen, dann müssen wir uns nämlich sputen. So entsteht Kapitalismus. Unser Leben, inklusive Banken und Versicherungen ist nur auf Basis dieser abstrakten Uhrzeit denkbar. Nur dadurch können wir Zeit manipulieren, gewinnen und verlieren, können beschleunigen und schneller machen. Das ist das Problem unseres Alltags: Wir leben immer mit zwei Zeiten, dem Takt der Uhrzeit und der rhythmischen Zeit, die wir spüren, also unserem Zeitgefühl.
Was ist der Unterschied zwischen taktischer und
rhythmischer Zeit?
Alles Leben ist rhythmisch. Das
heißt, es wiederholt sich, aber es wiederholt sich nie hochpräzise,
sondern reagiert auf Umwelteinflüsse. Es ist also eine Wiederholung
mit Abweichungen: Alle Menschen werden jeden Tag müde, aber nicht
jeden Tag zur gleichen Sekunde. Alle Systeme, der ganze menschliche
Körper, der Blutkreislauf, die Hormonausschüttung laufen
rhythmisch. Wenn die Belastung zu groß ist, reagiert das System:
Der Herzinfarkt ist die Überlastung eines rhythmischen Systems
durch den Takt. Denn der Takt ist Wiederholung ohne Abweichung.
Wenn eine Stunde mal 60, mal 63, mal 58 Minuten lang wäre,
dann ist die Uhr kaputt.
Bekommen wir Menschen deswegen immer wieder mit der
Uhrzeit Probleme?
Ja, weil wir Menschen rhythmisch sind und die Uhr taktisch ist. Das
bringt uns letztlich den Burn-Out, weil wir eine zu starke
Vertaktung auf Dauer nicht vertragen. Früher hat man bei
Schichtarbeitern beispielsweise nach ein paar Jahren
Verdauungsprobleme und Schlafstörungen nachgewiesen, heute äußert
sich das eher in psychischen Reaktionen.
Waren sich die Erfinder der Uhr damals der Auswirkungen,
die ihre Erfindung auf die nächsten Jahrhunderte haben würde,
bewusst?
Nein. Die Uhr ist ja ironischer Weise im
Kloster entstanden: Man wollte ein Mittel haben, um pflichtgemäß
den Gottesdienst zu absolvieren. Die Mönche hatten wegen ihrer
Zeitnatur immer eine Gebetszeit verschlafen. Aufgrund ihrer
Schuldgefühle haben sie dann die mechanische Uhr erfunden, die sie
auch aufweckte.
Davor weckte sie der Hahn?
Genau. Aber ein
Hahn ist eben jahreszeitenabhängig.
Wozu ist die Einteilung unserer Zeit mit der Uhr
gut?
Um Zeit in Geld zu verrechnen. Aber das
funktioniert nur, wenn wirklich alle daran glauben. Das ist nicht
offensichtlich – Chinesen haben bis vor zwei Jahrhunderten nicht
daran geglaubt. Der Glaube daran, dass die Uhr Zeit anzeigt und
dass es eine Zeit ist, die man mit Geld verrechnen kann, ist
wesentlich. Deshalb hat Zeit viel mit Religion zu tun.
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Jetzt merken wir international in der Schulden- und
Bankenkrise, wie der Glaube an das Geld schwindet. Was würde
passieren, wenn die Leute aufhören würden, an die Uhrzeit zu
glauben?
Der Glaube an die Uhrzeit nimmt genauso ab,
wie der an das Geld. Wir organisieren unser Leben heute mit dem
Handy, über Kommunikation und immer weniger über den Blick zu Uhr.
Der Umsatz für Gebrauchsuhren geht radikal zurück, der für
Geldanlagen steigt. Es passiert das, was wir vom Pferd kennen: Das
Pferd hat unsere Geschwindigkeit über Jahrtausende bestimmt, dann
wurde es abgelöst durch die Dampflokomotive. Zum Schluss wurde es
zu einem Luxusgegenstand. Diese natürliche Entwicklung erleben wir
immer wieder bei unterschiedlichen Dingen.
Wird Reichtum also bald nicht mehr in Geld, sondern in
Zeit gemessen?
Wenn wir das Spiel weitertreiben wollen – ja. Wir glauben ja immer
noch an die Formel „Zeit ist Geld“, aber die logische Konsequenz
aus dieser Formel wäre, dass die Arbeitslosen das meiste Geld
hätten und das Gegenteil ist der Fall.
Der Güterwohlstand wird eines Tages an seine Grenzen kommen: Wir
leben richtig gut und brauchen nicht noch den dritten Computer oder
das dritte Smartphone. Unser hoher Lebensstandard wird nicht zu
halten sein, deshalb müssen wir wieder schätzen lernen, dass
Zeitwohlstand auch eine Kategorie ist. Diese Lektion wird notwendig
sein, weil die Kosten der „Zeit ist Geld“-Rechnung so groß werden,
dass sie sich nicht mehr rentieren.
Die Politiker bekommen das derzeit zu spüren: Denn das Bundesverfassungsgericht versucht, der Politik einen Rhythmus zu geben, indem es kritisiert, dass die Politiker ihre Politik nach dem Geld vertakten. Doch das geht nicht, weil die Demokratie eben mit Menschen zu tun hat und nicht mit Geld. Demokratie muss notwendiger Weise rhythmisch sein, deshalb greift das Gericht ein. Es ist eine kleine Lernmaßnahme für die Politik.
Welche Nachteile und welche Vorteile bietet das neue
Medium Internet für unseren Umgang mit der Zeit?
Vorteilhaft ist, dass das Internet keinen Takt vor gibt. Auf der
anderen Seite gibt es aber gar keine Zeit vor, also auch keinen
Rhythmus. Das ist das Problem: Wir müssen mit dem Internet
rhythmisch umgehen, haben aber aufgrund unserer zweihunderjährigen
Taktgeschichte den Rhythmus verloren.
In manchen Betrieben wird zum Beispiel Gleitzeit angeboten – so
könnte man wieder rhythmisch zur Arbeit gehen. Doch wir haben
festgestellt, dass sich die Leute in dem Moment, indem Gleitzeit
eingeführt wird, einen Wecker kaufen, um sich auf Takt zu
bringen.
Es gibt viele Geschichten, die sich mit dem Thema
Zeit auseinandersetzen – schon bei „Momo“ von Michael Ende haben
die Grauen Herren gesparte Zeit verraucht und die Leute mussten
sich immer mehr hetzen – was sagen solche Bilder über unseren
Umgang mit Zeit aus?
Bei „Momo“ wird die Sehnsucht
nach Rhythmus gepflegt, ohne dass es zum Thema gemacht wird.
Letztlich wird in der Geschichte die Lebenszeit von der Struktur
der Uhrzeit gestohlen, für welche die grauen Herren ja nur Dienste
leisten. Es wird personalisiert, wie das in Märchen immer der Fall
ist. Solche Bücher erinnern daran, dass wir weitgehend blind in
einem System sind, das große Probleme mit sich bringt und dass es
Alternativen zu dieser Form des Lebens gibt.
[gallery:Der Deutschen liebste Auszeit]
Wie kann man diese Alternativen lernen?
Dafür ist es zunächst einmal wichtig, zwischen Entschleunigung und
Enthetzung zu differenzieren. Ich bin kein Entschleuniger.'
Was ist der Unterschied?
Beim Enthetzen
geht es darum, überflüssige Beschleunigung abzubauen und wieder
qualitativ über Zeit nachzudenken, nicht mehr quantitativ.
Praktisch bedeutet das: Der Notarzt sollte nicht mit dem Pferd
kommen, denn es ist wichtig, dass er schnell ist. Aber wir hetzen
zum Beispiel häufig ins Konzert oder treiben uns gegenseitig mit
„mach mal schnell!“. Manche Leute sagen sogar: „Wart mal schnell!“
– Wahnsinn: Wir leben in einer Gesellschaft, die sogar schnell
wartet!
Diese Dinge müssen wir abstellen, um glücklicher zu leben und einen
größeren Zeitwohlstand zu haben. Aber dabei geht es nicht um
generelle Entschleunigung. Ich rege mich auch auf, wenn jemand an
der Kasse trödelt. In gewissen Fällen, wo es berechtigt ist, sollte
entschleunigt werden.
Charlie Chaplin hat bereits 1936 in „Modern Times“ den
Zeitdruck thematisiert. Warum lässt er uns nicht los?
Wir erhöhen den Zeitdruck durch neue Mechanismen und verbreiten
dann die Illusion, davon loszukommen. Aber das stimmt nicht.
Chaplins Film zeigt die Industriegesellschaft. Wir leben heute aber
in einer Wissens-, Kommunikations- und hochbeschleunigten
Flexibilitätsgesellschaft, die nicht mehr mit Schnelligkeit,
sondern mit Verdichtung beschleunigt. Und das wird dann als die
Befreiung von der Uhrzeit verkauft.
Verdichtung – das heißt, wir werden nicht mehr
schneller, sondern müssen einfach mehr in der gleichen Zeit
schaffen?
So ist es. Gleichzeitig gibt es mehr
Möglichkeiten, auszusteigen: Sie können heutzutage zu ihrem Chef
sagen, dass Sie drei Monate unbezahlten Urlaub brauchen. Sie können
heute also individuell Zeitwohlstand organisieren – aber Sie müssen
dafür zahlen.
Wir danken für Ihre Zeit, Herr Geißler, und das Gespräch!
Das Gespräch führte Karoline Kuhla.
Professor Dr. Karlheinz Geißler emeritierte 2006 nach dreißig Jahren von seiner Tätigkeit als Professor für Wirtschaftspädagogik an der Bundeswehruniversität München. Er ist Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik und Gründer und Teilhaber von timesandmore - Institut für Zeitberatung. Zudem ist er Autor mehrerer Bücher, zuletzt erschien „Alles hat seine Zeit, nur ich hab keine: Wege in eine neue Zeitkultur" (Oekom, 2011)
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