- Warum sich Europas Wesen in Napoleon spiegelt
Napoleons Russlandfeldzug jährt sich diesen Herbst zum 200. Mal. Seine weltgeschichtlichen Schatten wirken bis heute nach. Nicht zuletzt in der tragischen Figur seines Feldherrn
Am 16. Dezember 1812 veröffentlichte der Moniteur, das offizielle Mitteilungsblatt der kaiserlich-französischen Regierung, ein Kommuniqué, worin dem französischen Volk der Rückzug der Grande Armée aus Russland und die bevorstehende Rückkehr Napoleons nach Paris verkündet wurde. Der Text schloss mit dem eindrucksvollen Satz: „La santé de sa majesté n’a jamais été meilleure“, zu Deutsch: „Die Gesundheit Seiner Majestät ist nie besser gewesen.“ Mit diesem Satz endete der Russlandfeldzug, zu dem Napoleon sechs Monate zuvor, am 22. Juni 1812, mit dem bis dahin größten Heer der Geschichte aufgebrochen war und der in einem beispiellosen Desaster geendet hatte. Und mit diesem Satz begann zugleich der Befreiungskrieg der europäischen Länder gegen die französische Besatzung und gegen das junge französische Kaisertum. Er war der Anfang vom Ende Napoleons.
Der napoleonische Russlandfeldzug war der erste Versuch eines westeuropäischen Herrschers, das Riesenreich im Osten zu erobern. Die Erobererkarriere des Kaisers hatte 1796 mit dem Italienkrieg begonnen, damals noch im Dienst des revolutionären Pariser Direktoriums. Seither hatte er das gesamte europäische Festland entweder unterworfen oder dessen Souveräne zu Friedensverträgen gezwungen. Damit trat er in die Fußstapfen des von ihm bewunderten Alexanders des Großen. Was er 1812 anstrebte, war nicht mehr die europäische Hegemonie, sondern das eurasische Großreich.
Neben dem epochalen Anspruch Napoleons, eine Universalmonarchie zu errichten, stand der politisch-taktische, England zu bezwingen. Trotz seiner parlamentarischen Tradition hatte sich Frankreichs alter Erbfeind der Revolutionsregierung widersetzt und lag seit 1792 beinahe ununterbrochen im Krieg mit Paris. Die Kontinentalsperre, 1806 im besetzten Berlin von Napoleon dekretiert, verbot den französisch besetzten Ländern den Handel mit der Weltmacht England. Auch mit Russland, das Napoleon zuvor nicht hatte besiegen können und mit dem es im Tilsiter Frieden 1807 zum Ausgleich gekommen war, bestand ein Abkommen, das den Handel mit England verbot. Noch auf dem Erfurter Fürstentag von 1808 standen sich Kaiser Napoleon und Kaiser Alexander I von Russland als gleichberechtigte Staatsmänner gegenüber, die das Schicksal Europas untereinander entschieden zu haben schienen.
Doch der Schein trog. Der Gegensatz zwischen Frankreich und England war ein unlösbares Dilemma, und Russland war der Faktor, an dem es sich entscheiden sollte. Die Ehe, die Napoleon 1810 mit der österreichischen Erzherzogin Marie Louise schloss, um sich, dem sozialen Aufsteiger und „Leutnant auf dem Kaiserthron“, die ersehnten Weihen dynastischer Legitimität zuzulegen, war das erste offizielle Signal seiner Abwendung von Russland. Der Zar seinerseits unterlief die Kontinentalsperre und blockierte den Handel mit französischen Waren. Eine europäische Wirtschaftskrise, hervorgerufen durch Frankreichs isolationistische Handelspolitik, war die äußere Gestalt der politischen Konfrontation, die sich seit 1807 unaufhaltsam anbahnte. Angestachelt durch klarsichtige Berater wie den aus Preußen verbannten Freiherrn vom Stein, der in Russland Exil gefunden hatte, betrieb Alexander leise, aber zügig die diplomatische Lösung von Frankreich.
Napoleon reagierte. Nachdem seine österreichische Gattin 1811 mit einem Sohn niedergekommen war, dem der Kaiser gleich bei der Geburt, in Anlehnung an die alte deutsche Reichstradition, den Titel „König von Rom“ verlieh, schienen ihm seine dynastischen Ambitionen gesichert. Er hatte nun einen Nachfolger und war bereit für einen neuen Feldzug. Diesmal ging es gegen Russland, in den unheimlichen, gewaltigen Osten. Seine Unterwerfung würde ihm den Zugang nach Südasien erschließen, damit aber zugleich die kolonialen Reserven Englands bedrohen und die handelspolitische Geschlossenheit des Kontinents vollenden.
Was nun kam, ist im kulturellen Gedächtnis Europas bis heute so tief verankert wie sonst nur der Zweite Weltkrieg und die Hitlerherrschaft: der Einmarsch ins weite russische Land; die großen, blutigen Schlachten mit bis dahin ungekannten Gefallenenziffern; die tragikomische Einnahme Moskaus, das vom Zaren und seiner Regierung aufgegeben und in Brand gesetzt worden war; schließlich der beschwerliche Rückmarsch durch die eisige Winterkälte, bei dem russische Kosaken über die erschöpften französischen Regimenter herfielen und ihnen unglaubliche Verluste beibrachten. So überlieferte Leo Tolstoi Napoleons Russlandabenteuer in „Krieg und Frieden“ der Nachwelt, so machten es Hollywood-Verfilmungen unsterblich.
Von Anfang an litt der Feldzug unter seiner fatalen Fehlorganisation. Er begann im Juni, zu einem angesichts des frühen russischen Wintereinbruchs viel zu späten Zeitpunkt. Die zwangsverpflichteten nichtfranzösischen Truppen aus Italien, Deutschland und den slawischen Ländern waren nicht mit dem Herzen bei der Sache. Selbst das französische Volk, obschon berauscht von der glänzenden Imperatorengestalt ihres Führers, stöhnte über die Lasten der neuen Truppenerhebungen, die erdrückende Besteuerung und das straffe, diktatoriale Regime im Inneren. Doch all das konnte der epochalen Emblematik dieses Unternehmens, das irgendwie nicht von diesem Planeten schien, keinen Abbruch tun.
Seite 2: „Seht, die Sonne von Austerlitz!“
Noch nach Jahrzehnten schwelgten ausgediente französische Grenadiere, unbeirrt durch den Frieden und bescheidenen Wohlstand der Restaurationsphase nach Napoleons Sturz 1814/15, in der Erinnerung an den russischen Feldzug, der ihnen doch so unsägliches Leid, Entbehrungen und furchtbare moralische Grenzerfahrungen gebracht hatte. Schwärmerisch hielt der Intellektuelle André Maurois fest: „Nie hat die französische Armee den kleinen Hut, den grauen Mantel vergessen, hinter dem sie alle Könige Europas besiegt und die Trikolore bis nach Moskau getragen hatte.“ Ins kollektive Gedächtnis gingen vor allem der alexandrinische Gestus der Welteroberung dieses Feldzugs ein, sein Ausbruch aus der stickigen Enge europäischer Machtpolitik in die unwirkliche Sphäre einer grenzenlosen Expansion.
In Wirklichkeit war die Grenze Moskau. Napoleon erlag, wie so viele Feldherren vor und nach ihm, der Illusion, dass der Besitz der fremden Hauptstadt zugleich schon den Sieg bedeuten würde. Tatsächlich hielt sich das Gros der russischen Truppen im Hinterland auf, umsichtig geführt von ihrem Marschall Kutusow, einem ungebildeten Haudegen, dessen feiner kriegerischer Instinkt, bereichert von einer inbrünstigen orthodoxen Religiosität, richtig lag mit der Einschätzung, man müsse Napoleon in Moskau einfach an den Rand seiner Ressourcen bringen.
Ein warnendes Vorzeichen war das Gespräch mit dem russischen General Balachoff, den Zar Alexander zu Beginn der Kampfhandlungen als Emissär zu Napoleon gesandt hatte. Als ihn der ungestüme Franzose fragt, welche Straße denn am schnellsten nach Moskau führe, antwortet der Russe geradeheraus: „Sire, alle Wege führen nach Rom. Man kann auf mehreren Routen nach Moskau gelangen. Karl XII etwa marschierte über Poltawa.“ Das war ein Schlag ins Gesicht. Karl XII, der jugendliche Schwedenkönig, der sich im Nordischen Krieg zu Beginn des 18. Jahrhunderts mit Zar Peter dem Großen anlegte, wurde in Poltawa nach einem lange ungebrochenen Vormarsch vernichtend geschlagen. Napoleon war gewarnt.
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Noch im September 1812, nach seinem Sieg bei der Schlacht von Borodino, feuerte er seine Truppen mit dem sprichwörtlich gewordenen Satz: „Voilà le soleil d’Austerlitz – Seht, die Sonne von Austerlitz!“ an, in Anspielung auf die Dreikaiserschlacht von 1805, aus der das junge französische Kaiserreich so glorreich hervorgegangen war. Doch die Geschichte wiederholte sich nicht. Borodino war taktisch ein Sieg, strategisch war es ein Patt: Der Weg nach Moskau war zwar frei, aber die russische Armee blieb intakt, und das Ziel selber hatte seine Bedeutung für die Entscheidung des Feldzugs verloren. Wenig später befahl er seinen Truppen den Rückmarsch aus Moskau, und zur Jahreswende stellte sich General von Yorck, widerwilliger Befehlshaber des preußischen Hilfskorps, das unter Napoleon gegen Russland hatte kämpfen müssen, offen auf die russische Seite. Im Frühjahr 1813 erklärt Friedrich Wilhelm III von Preußen Frankreich den Krieg. Im August endlich verbündet sich Österreich mit Preußen und Russland, und Neujahr 1814, genau ein Jahr nach dem preußischen Abfall, überschreitet die große Koalition den Rhein. Im April ziehen die verbündeten Monarchen in Paris ein. Napoleon muss abdanken und geht ins erste Exil auf die Insel Elba. Sein Stern war gesunken. Auch sein hunderttägiges Intermezzo 1815, bei dem er sich die Macht in Paris wiederaneignete und neue Truppen aufstellte, kann das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen. Bei Waterloo in Belgien, am 18. Juni 1815, fast auf den Tag genau drei Jahre nach Beginn der russischen Expedition, schlägt er seine letzte Schlacht. Es ist seine endgültige Niederlage.
Die historische Gestalt Napoleons ist bis heute, trotz einer Flut von Veröffentlichungen und fiktionaler Verarbeitungen, auratisch und menschlich weitgehend ungeklärt. Nichts als seine schiere Kraft ist in Erinnerung geblieben, die pure Gewalt seiner Wirkung und das ewig Drängende, das ihn von Feldzug zu Feldzug führte. Sein Gestalten und Entwerfen aber blieben merkwürdig geisterhaft und ungreifbar.
Doch eben in diesem Aktionismus, dem Drang, immer Neues zu schaffen, spiegelt sich exakt das Wesen Europas und das Wesen der europäischen Neuzeit ab – vom kopernikanischen Traum der Vermessung der Welt über die cartesianische Fantasie der restlos rationalen Gliederung bis hin zur rasenden, suchtartigen Verliebtheit des Kontinents in die Bewegung. Dass Napoleon kein eigentliches Ziel kannte, sondern dass das „Immer weiter“, das „Immer werden“ und „Niemals sein“ sein Charakter waren, wurde nirgends so deutlich wie bei seinem Russlandfeldzug. Der französische Kaiser verkörperte die reine, haltlose Kraft, die fleischgewordene „Furie des Verschwindens“, von der Georg Wilhelm Friedrich Hegel, sein großer philosophischer Zeitgenosse und glühender Bewunderer, 1806 in der „Phänomenologie des Geistes“ sprach.
Als Napoleon Bonaparte 1799 in einem Staatsstreich die Macht an sich riss, lag die Französische Revolution gerade ein Jahrzehnt zurück. Zweifelsohne stand er unter ihrem Enfluss. Doch ideologisch war er, aus korsischem Adel stammend, ein Kind des aufgeklärten Absolutismus und des Ancien Régime mit seiner uralten Fantasie der Welteroberung. Schon 1804 erhebt er sich selbst zum Kaiser. Auch sein Lebenswandel erinnert an den eines spät geborenen europäischen Heerkönigs mit all den kriegerischen, amourösen und schöngeistigen Allüren der Herren von einst. Im Grunde war er eine südländisch eingefärbte Mischung aus Ludwig XIV und Friedrich dem Großen. Doch er war eben auch mehr. Waren jene anderen beiden großen Monarchen der westeuropäischen Vormoderne irgendwann in ihrem Leben zur Ruhe gekommen, blieb Napoleon zeitlebens, bis zum bitteren Ende, der große Ruhelose. Er wollte Alexander sein, und es war Alexanders Weg, den er ideell und geografisch einschlug.
Seite 3: Napoleons Seele war die Seele eines Heimatlosen
Doch auf diesem Weg musste er scheitern. Von ihm selber, einem Kind der Aufklärung, der Entzauberung der Welt, stammt der Satz: „Als Alexander verkündete, der Sohn des Gottes Ammon zu sein, glaubten ihm alle bis auf den Philosophen Aristoteles; würde ich das sagen, würde mich das letzte Pariser Marktweib auslachen.“ Die Zeit der großen Ideen, denen man sich rauschhaft-unreflektiert, im Glauben und im Machen, hingeben konnte, war vorbei, spätestens mit der Revolution, als deren Testamentsvollstrecker er einst selbst die politische Bühne betreten hatte. Napoleon, bis heute als Wegbereiter der Moderne, als Vater der rationalen Staatsorganisation, der freiheitlichen Grundrechte, des Fortschritts angesehen, war tatsächlich ein Kind der Vergangenheit, Zuspätgekommener.
„Je suis une parcelle de rocher, lancée dans l’espace“, hatte der Kaiser gesagt: „Ich bin ein Stück Fels, das in den Weltraum geschleudert wurde.“ Das ist die Selbst- und Weltsicht des Menschen der frühen Neuzeit, des cartesianischen Suchers und Zweiflers, ins Faustisch-Mannhafte, Abenteuerliche gewandt. Das uralte europäische Leiden an der Begrenztheit des insularen Daseins, die brennende, verzehrende Sehnsucht nach Entgrenzung, nach Überschreitung, nach Transzendenz: Napoleon lebte sie aus ins politische Extrem. Der wehmutsvolle, ängstlich gepflegte Traum der alten Griechen und Römer, hinauszusegeln über die Säulen des Herakles ins weite, grenzenlose Meer: Napoleon schickte sich an, ihn mit modernsten Mitteln wahr zu machen. Diesem Traum gab er sich hin, erbarmungslos sich selbst und die anderen ausnutzend; und an diesem Traum zerbrach er nach Anstrengungen, die man auf den europäischen Kriegsschauplätzen seit dem Dreißigjährigen Krieg nicht mehr gesehen hatte und die sich erst in der Apokalypse des Weltkriegszeitalters wiederholen sollten.
Napoleons Scheitern setzte einen Endpunkt unter die politische Romantik des Ancien Régime, unter seinen Wunsch, es den Helden Homers gleichzutun und sich durch die Inbesitznahme der Welt selbst eine Welt zu schaffen – jene Welt, die man innerlich, durch den Fortfall der alten Glaubenssätze, durch den Verlust Gottes verloren hatte. Des Gottes, von dem Hegel just zu jener Zeit schrieb, er sei „gestorben“. Napoleons Seele war die Seele eines Heimatlosen, eines von der Insel Vertriebenen, der sich zeitlebens in der Welt, in Europa wie auf einem verlassenen, auf dem Ozean schwimmenden Eiland fühlen sollte – in einer unsäglichen Leere, die auszufüllen sein Lebensinhalt war und um deren Verdrängung willen er seinen politischen Weg einschlug.
Folgerichtig endete dieser Weg auf einer Insel. Weit ab von Europa, auf Sankt Helena, vor der westafrikanischen Küste. Helena – so hieß die spartanische Prinzessin, die bei Homer von Paris geraubt wird und um deren Rückholung willen die Griechen den Trojanischen Krieg beginnen. Bei Homer endet dieser Feldzug zwar mit dem Sieg und mit der Niederbrennung Trojas; aber auch die heimkehrenden Griechen kommen nicht mehr zur Ruhe. Ihre häuslichen Altäre sind ihnen fremd geworden, das zehnjährige Kriegserlebnis, die Rastlosigkeit der Feldlagerexistenz haben sie ihrer Heimat für immer entfremdet, ohne dass sie in der Fremde eine neue Heimat gefunden hätten. Die Ruhe und Ganzheitlichkeit ihrer bürgerlichen Existenz war verloren, für immer. Eben diese Ganzheitlichkeit und Ruhe hatte Napoleon wiederherstellen wollen. Es ist ihm nicht gelungen.
Als der Kaiser während der französisch-russischen Friedensverhandlungen 1807 vom Thronwechsel in Spanien erfuhr, der seine europäische Position gefährdete, und General Rapp fragte, wie weit es von Danzig nach Cádiz sei, antwortete dieser lakonisch: „Zu weit, Sire.“ Napoleon, dessen Leben ein einziger Traum von der Überschreitung der Grenzen der Zeit war, scheiterte daran, dieses unmögliche Projekt im Modus der Überschreitung der bloß räumlichen Grenzen wahr zu machen. Er hätte ewig weitermarschieren können: Ans Ziel wäre er niemals gekommen. Es gibt kein „Ende der Welt“. Sein Ziel hätte in ihm selbst gelegen. Die Welt, die er außen nicht fand, hätte er in sich selbst finden müssen, anstatt sich immer neuen Kraftanstrengungen und Gewaltleistungen hinzugeben wie ein Drogensüchtiger dem Rausch.
In Wahrheit war Napoleon schwächer als der letzte seiner Grenadiere gewesen. Frankreich mag er neu geformt, Europa mit seinen Gedanken inspiriert haben: Sich selber hat er nicht gefunden. Ein ruheloser Marsch war sein Leben gewesen. Die Ruhe kam erst auf dem verlassenen Felsenriff vor Afrika, weit weg von Europa, jenem Kontinent, der ihm in seiner tiefen, traurigen Weltlosigkeit, wie so vielen großen Europäern auf dem Thron und am Schreibtisch vor ihm, doch immer zu eng gewesen war.
Fotos: picture alliance
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