lesen: Journal - Träume einer Geisterseherin

Marion Poschmann lässt Eiszeitpflanzen im Bauschutt erblühen und bringt die Kanalgeister zum Schäumen

Mit den beiden Gedichtbänden «Verschlos­sene Kammern» (2002) und «Grund zu Schafen» (2004) hat sich die 1966 in Essen geborene Marion Poschmann auf Anhieb in die erste Reihe der deutschen Gegenwartslyrik geschrieben. In ihrem jetzt vorliegenden dritten Gedichtband «Geistersehen» wartet sie abermals mit flirrenden Bildern und spukhaften Erkenntnissen auf. Ja, die Geisterseherin legt in ihrem neuen Werk sogar noch zu: «du hast mir Quallen gegeben, hast mir Bullaugen gegeben, / zwei runde Fenster in das unscheinbarste Meer» setzt ein submarines Sonett mit dem Titel «vage aussichten» ein. Was sich da bis ins Schriftbild kleinmacht und das Scheinwerferlicht scheut, ist große Poesie, wie man sie in den Zeiten des anything goes kaum noch für möglich gehalten hätte. Es sind Expeditionsberichte aus der Gegenwart, die das Verstörende im Vertrauten, das Abgründige im Seichten, das Unheimliche im Gemütlichen aufspüren. Auch so lässt sich die Klein­schreibung im Titel und in der Anfangszeile deuten: als Hinweis auf eine poetische Unterwanderung, einen subversiven Akt.

Was aber ist das für eine Halbwelt zwischen Wahn und Wirklichkeit, auf die Marion Poschmann als lyrische Meldegängerin immer wieder zurückkommt? «Gedächtnisverlust», «Gemüts­design», «Auflösungsangst», «Totstellreflex» heißen einige der amtlichen Erklärungen, die am Horizont der Gedichte wie Leuchtkugeln zerplat­zen. Der amerikanische Psychologe Raymond Cattell hat gegenüber der bloßen Anwendung erstarrten, «kristallinen» Wissens die Fähigkeit hervorgehoben, flexibel und unvoreingenommen auf neue Situationen zu reagieren. Auf diese für ihre Poetik bedeutsame Unterscheidung spielt Marion Poschmann in dem Gedicht «fluide Intelligenz» an. Mehr als von solchen Fertig­produkten aus dem Kühlhaus der Wissenschaft verspricht sie sich allerdings von der «aufmerk­sam geneigten Haltung, mit der wir als Kinder Molche fingen». Bei dieser kognitiven Urhorde muss man vermutlich ansetzen, wenn man das nicht näher bezeichnete «wir» ihrer Gedichte verstehen will: Sie haben sich auf wundersame Weise die Frische des ersten Blicks bewahrt.

«Glanz» und «Dampf» heißen zwei großformatige Gedichte, in denen sich die Meisterin der kleinen Form diesmal auch als Langstrecken­läuferin bewährt. Die schönste Überraschung des neuen Bandes jedoch stellt der handkolorierte Zyklus «Herbarium» dar. Keinen Musterkatalog abgestorbenen Lebens, keinen zwischen Buchdeckel gepressten Beitrag zur Pflanzensystematik legt Marion Poschmann dort vor, sondern ein an die mittelalterliche Tradition des hortus sanitatis anknüpfendes botanisches Lehrstück. Doch während Hildegard von Bingen ihr hexenhaftes Kräuterwissen noch am reich gedeck­ten Tisch der Natur erwarb, stehen nach dem ökologischen Sündenfall nur mehr Abfallhalden und Kiesgruben, Bahndämme und Sumpfränder zur Verfügung, wo Schwarzer Holunder, Römi­sche Kamil­le, Kleine Klette und Drüsiges Springkraut ein eher kümmerliches Dasein fristen. Ob die aus solchen Zutaten angerührten «Preßsäfte, Sirupe, Weine, Mixturen» («Theriak») wohl gegen moderne «Kopfkrankheiten» ankom­men? Die blaublühende Wegwarte (Cichorium intybus) hat es zumindest poetisch in sich – neben Rilkes «Blauer Hortensie» kann sie sich mühelos behaupten.
 

Reste der Hundstage Mitte August Marion Poschmanns naturmagische Dichtung, das beweisen diese kunstvollen Fußnoten zur Botanik, kommt von weit her. Ein Dichterkollege hat der Autorin bescheinigt, so wie sie würde Droste-Hülshoff heute schreiben. Die Litera­turkritik verweist eher auf ihre Familienähnlichkeit mit Friederike Mayröcker, und die beamtete Germanistik zitiert sogar den weitgehend vergessenen «Gräserbewisperer» Wilhelm Lehmann herbei.  Die Ratlosigkeit der Interpreten, die aus solchen Griffen ins Bücherregal spricht, wird gewiss auch vor den neuen Gedichten nicht haltmachen. Wer sich jedoch als ziellos streunender Lyrik-Enthusiast den von der Dichterin in Marsch gesetzten «Spähtrupps des Unterbewusst­seins» anschließt und dabei auch die als Erfrischungsgabe gereichten «Pfefferminzpastillen» nicht verschmäht, kommt über die «versenkbaren Sperrpoller» des Verständnisses mühelos hinweg: Marion Poschmanns Gedichte leuchten die unscharfen Ränder des Lächelns aus und lassen in der Asche der Erinnerung längst vergessene «Reste der Hundstage Mitte August» erglühen.     Marion Poschmann Geistersehen Suhrkamp, Berlin 2010. 126 S., 17,80 §

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