- Singen lernen im Striptease-Lokal
Warum selbst Genies nicht automatisch zu Überfliegern werden und der Erfolg auch im Mutterland des amerikanischen Traums viele Väter hat
«Wissen Sie, was ein Berater ist?», fragte vor kurzem ein Kommentator des amerikanischen Internet-Feuilletons Salon.com. «Ein Berater, das ist einer, der sich Ihre Uhr borgt, Ihnen verrät, wie spät es ist, und sich dann mitsamt der Uhr aus dem Staub macht.» Der Mann, auf den diese wenig schmeichelhafte Berufsbeschreibung gemünzt war, heißt Malcolm Gladwell, und es scheint, als hätte er schon eine ganze Reihe von Armbanduhren in seiner Sammlung. 40.000 Dollar Honorar pro Vortrag, und jedes seiner Bücher ein Spitzenreiter der amerikanischen Sachbuch-Bestsellerliste – Malcolm Gladwell kann über Erfolglosigkeit nicht klagen.
1963 als Sohn eines kanadischen Vaters und einer jamaikanischen Mutter in Großbritannien geboren, wuchs er im ländlichen Kanada auf, absolvierte ein Geschichtsstudium, wurde mit 24 Jahren Wirtschafts- und Wissenschaftsreporter der «Washington Post» und später Autor des «New Yorker». Die Bestseller «The Tipping Point» und «Blink» machten Gladwell international bekannt. Er steht nun als leuchtendes Vorbild für Trendforscher und Intelligenzagenturen da. Somit ist Gladwell ein waschechter Überflieger, und «Überflieger» heißt auch sein neues Buch, das mit nur zweimonatiger Verzögerung jetzt auf Deutsch erschienen ist. «Warum manche Menschen erfolgreich sind – und andere nicht», die Antwort auf diese im Untertitel gestellte Frage würden nicht erst in Krisenzeiten viele gern kennen und wenn möglich gewinnbringende Schlüsse daraus ziehen. Als lebenspraktischer Ratgeber taugt Gladwells Buch aber nicht. Ist der Autor deshalb vielleicht wirklich ein Uhrendieb, ein maßlos überschätzter Scharlatan, oder muss man ihn gegen unvermeidliche Neidhammel verteidigen? Mehr als Folklore Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen, so lautet die deftige Paraphrase eines Bibelwortes aus dem Evangelium nach Matthäus: «Denn wer hat, dem wird gegeben werden, und er wird in Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden.» Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg – wer staunend vor dieser Tautologie verharrt, muss zum Fatalisten werden. Gladwell interessiert aber nicht in erster Linie, warum sich Erfolg gleichsam von selbst potenziert, und wie zur hart verdienten ersten die leicht erreichbare zweite Million kommt. Er will klären, von wo die «Überflieger» ihren Ausgang nehmen: «Nur wenn wir fragen, woher sie kommen, können wir verstehen, warum manche Menschen erfolgreich werden und andere nicht.» Für europäische Leser liegt diese Frage auf der Hand: Biografische Ursachenforschung ist in der Alten Welt eine eingeübte Disziplin. Ganz anders in den Vereinigten Staaten. Hier muss Gladwells Ansatz schon deshalb provozieren, weil er mit einer Gewissheit bricht, die das amerikanische Selbstverständnis wie keine andere bestimmt. Der amerikanische Traum – und er ist keine leere Nationalfolklore – beinhaltet nämlich zweierlei; zum einen ein vielversprechendes biografisches Verlaufsmuster: Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied und kann es – unverbrüchlichen Aufstiegswillen und harte Arbeit vorausgesetzt – ohne weiteres vom Tellerwäscher zum Millionär bringen. Auf dieser Glücksformel basieren Bildungsromane, nicht fiktive Biografien oder Filme: Erst kürzlich triumphierte der in Indien spielende, aber nach uramerikanischer Machart erzählte «Slumdog Millionaire» bei der Oscar-Verleihung. Und hat nicht auch Barack Obama bewiesen, wie steil ein Aufstieg trotz Migrationshintergrund in einer noch immer latent rassistischen Gesellschaft sein kann? Die Zukunft als Blankoscheck Die Kehrseite dieser Erzählung ist ein Tabu: Wenn ausnahmslos jeder sein Schicksal in die Hand nehmen kann, dann darf sich auch niemand herausreden. Die Voraussetzungen, welche durch Elternhaus, Schule oder bestimmte historische Umstände gegeben sind, können so widrig gar nicht sein, als dass sie nicht aus eigener Kraft überwunden werden könnten. Im geschichtsvergessenen Amerika kommt nach idealtypischer Erzählweise auch der Erfolg out of the blue. (Wo ganz offensichtlich das Gegenteil der Fall ist, droht üble Nachrede. So mokiert sich Gladwell über den Präsidentensohn und -bruder Jeb Bush, der seinem Glaubwürdigkeitsproblem durch die Behauptung begegnet, er habe sich den unternehmerischen Erfolg hart erarbeiten müssen, und das Elternhaus sei dabei eher von Nachteil gewesen.)Schon die Märchen des Wilden Westens erzählten ja von elternlosen Helden: Die berühmtesten Cowboys begannen als Findelkinder – als wären sie von der Prärie selbst zur Welt gebracht worden. Sie spielten damit nur noch einmal die Rolle der allerersten Einwanderer nach, die, kaum dass der Anker vor der Küste Neu-Englands geworfen war, ihre Bande zu den Vorgesetzten der Alten Welt (Eltern, Feudalherren, Könige) gekappt hatten. Endlich schuldenfrei, sollte die Zukunft nun vor ihnen liegen wie ein Blankoscheck. Von dieser Vorgeschichte einer Ideologie erzählt Malcolm Gladwell nicht einmal in Andeutungen. Und doch steht dieser in New York ansässige Kanadier nun auf und ruft: Halt, stopp, macht nur so weiter – glaubt an den Selfmademan und das Naturtalent –, und ihr werdet schon sehen, wohin das führt! Mal einen Blick auf die Geburtstage der besten Eishockeyspieler geworfen? Erstaunlicherweise kam die überwältigende Mehrheit von ihnen in den ersten drei Monaten des Jahres zur Welt. Das aber hat nichts mit dem günstigen Einfluss der Sternzeichen Steinbock, Wassermann und Fisch zu tun, sondern, viel simpler, mit einer Terminregelung im Auswahlverfahren von Jugendmannschaften. Da der Stichtag der Zulassung auf den 1. Januar fällt, spielt ein neunjähriger Junge, der am 2. Januar geboren ist, in einer Mannschaft mit anderen Spielern zusammen, die sein Alter spätestens in einem Jahr erreichen werden. Dieser Junge muss also nicht begabter sein oder ehrgeiziger als seine Konkurrenten; allein weil er größer und kräftiger ist als die anderen, wird er sich mit höherer Wahrscheinlichkeit in dieser Mannschaft behaupten, für die nächste Förderstufe ausgewählt werden, dort noch mehr und besser trainieren – und so weiter. Der Weg zum erfolgreichen Profi ist steinig und setzt Ehrgeiz und Talent voraus. Und doch – das weist Gladwell unter Aufbietung ausführlicher Zahlenkolonnen auch für andere Sportarten nach – kann ein willkürlich gesetztes Aufnahmedatum auch unter Gleichbegabten über späteren Erfolg oder Misserfolg entscheiden. Was schlägt der Autor vor? Einen zweiten Ausbildungsstrang, in dem die in der zweiten Jahreshälfte Geborenen gefördert werden. Das würde, nach Adam Riese, die Anzahl der sportlichen Überflieger verdoppeln.Lauter Schmetterlingseffekte
Malcolm Gladwell ist zu sehr Starjournalist, um sich mit Statistiken und den Untersuchungen von Soziologen und Ökonomen zufrieden zu geben, aus denen er weite Strecken seines anschaulichen und oft verblüffenden Buches destilliert hat. Im persönlichen Interview mit Bill Gates notiert der Autor einen Satz, der ihm auf die eine oder andere Weise für alle Überflieger zu gelten scheint: «Ich hatte einfach Glück.» Im Falle des Microsoft-Gründers war es so, dass er gerade im richtigen Alter war, als die Mütter seiner Schulklasse Geld für die damals teureren Rechenzeiten an einem Computer zusammenkratzten, an denen der interessierte Achtklässler seine ersten Erfahrungen im Programmieren sammeln konnte. Wie es der Zufall wollte, arbeitete die Mutter eines Schulfreundes bei einer Computerfirma, die den frühreifen Bill dankbar als Tester ihrer Programme beschäftigte. Und dann gab es da später diesen Rechner auf dem Campus der University of Washington, den er nur deshalb jede Nacht benutzen konnte, weil seine Wohnung in unmittelbarer Nachbarschaft lag. Und dann und dann und dann … Auch hier: Gladwell leugnet nicht, dass Bill Gates ohne außergewöhnliche Begabung kaum je zum Giganten der Software-Branche hätte werden können. Wenn aber die Mütter damals nicht in die Rechenmaschine investiert und ihre Kinder lieber auf eine Reitschule geschickt hätten – auf der Liste der reichsten Männer der Welt würde heute ein Name fehlen. Und verdanken nicht sogar die Beatles ihren ungeheuren Erfolg einem vergleichbaren Schmetterlingseffekt? Gladwell ist davon überzeugt. Ihr Glück bestand darin, dass es in Hamburg, wo die Band in ihren ersten Jahren zusammenwuchs, keine Rock’n’Roll-, sondern bloß Nachtclubs gab. Wohl oder übel mussten die Musiker hier bis zum Morgengrauen zu einem Nonstop-Strip tease spielen und das Nacht für Nacht. Ohne diese Spielpraxis, sagt Gladwell, hätten die Beatles ihr Talent, auch wenn es in einer ganzen Generation seinesgleichen sucht, nicht entfalten können. Nach der Lektüre des Buches lässt sich die Liste beinahe nach Belieben verlängern: Der Autor erzählt die Geschichten von New Yorker Textilunternehmern, jüdischen Staranwälten oder koreanischen Piloten und entwickelt eine Theorie, nach der sich die Stärke der chinesischen Mathematik aus der uralten Kulturtechnik des Reisanbaus erklären lässt. In solchen Momenten mag der gesunde Menschenverstand des Lesers rebellieren: Warum sollte ausgerechnet im riesigen China ein Platzmangel dafür verantwortlich sein, dass die Bauern ihre akribischen Fertigkeiten auf bloß wohnzimmergroßen Feldern entwickeln? Zahlen und Romane Die Schwäche des Buches besteht darin, dass es mit einer einzigen, dazu recht schlichten These, auskommen muss. Dass sich Aufstiegschancen aus sozialen Kontexten ableiten und ohne einen gezielten Impuls im richtigen Moment noch die größte Intelligenzbestie unter ferner liefen bleibt – das taugt als Voraussetzung jeder bildungspolitischen Tischvorlage. Bedenkenswert und gar nicht dumm ist aber Gladwells Nachweis, dass der noch viel trivialere (und zudem fatale) amerikanische Traum nach wie vor das Selbstverständnis der westlichen – und keineswegs bloß der amerikanischen – Gesellschaft bestimmt. Die ausgesprochene Stärke des Autors ist sein glänzendes Storytelling: Wenn Gladwell auch dauernd auf dasselbe hinauswill, so belegt er den schlichten Zusammenhang doch mit stets frappierenden Anekdoten. Dass die Beatles als eine Striptease-Begleitband begonnen haben, gehört schließlich nicht zum Allgemeinwissen. Dieser Autor mag ein Scharlatan sein, ein rhetorischer Taschenspieler, der ein ganzes Buch mit einer bunten Mischung aus statistischer Zahlenmagie und kleinen Bildungsromanen bestreitet. Dann wäre dieser Bestseller auch eine geborgte Uhr – gut vorstellbar, dass ihm trotzdem nicht wenige Leser bis zum Ende folgen wollen. Malcolm Gladwell Überflieger. Warum manche Menschen erfolgreich sind – und andere nicht Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer. Campus, Frankfurt a. M. 2009. 272 S., 19,90 €
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