Bücher des Monats - Reklametypen aus Bitterfeld

Wie Christoph Hein ein DDR-Urthema, das Problem der Umsiedler, aufgreift und zu einem guten, wenn auch nicht idealen Ende führt

Fürst Potemkin hatte auf der Krim wahre Wunder vollbracht. Katharina staunte. Lauter blühende Dörfer, wohin ihre Augen blick­ten!

Die Methode, die nach dem Fürsten heißt, ist heute so aktuell wie damals. Auch der Roman «Landnahme» von Christoph Hein wendet sie an. Zwar wurde er nicht speziell für eine staatliche Prüfung verfasst und spielt auch nicht in Russland, sondern in Deutschland, aber er verkörpert trotzdem ein Musterbeispiel der Potemkinschen Ökonomie.

Zwischen einem Vorwort und einem Nachwort stehen fünf Geschichten, die zusammen eine runde Schöpfung ergeben, sozusagen den Dörferkranz oder, literarisch gesprochen, den Kranz der Novellen. Eine schließt an die andere an, jede macht dort weiter, wo die Vorgängerin aufgehört hat, der ersten folgen die nächsten wie am Schnür­chen, so dass insgesamt eine Kette ohne Lücken entsteht. Der Roman macht den Eindruck von Ordnung, Disziplin und sauberer Arbeit. Dabei scheut er sich nicht vor der Vielfalt, sondern vertraut sich unterschiedlichen Stimmen an, jeweils einer pro Kapitel. Die Erzähler, die er vorschickt, repräsentieren einen gesellschaftlichen Querschnitt, unter ihnen der Akademiker, der selbständige Unternehmer, der Schlosser, die Heimleiterin und die Friseurin.


Ich bin Literatur, sagt die Folklore

Ihr gemeinsamer Ort ist eine Stadt in Sachsen, ihre Zeit die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und ihr Held ein Flüchtlingsjunge aus Breslau. Darüber hinaus teilen sie miteinander das Schreibtalent und die Übung im Anfertigen von Belletristik. Keinem von ihnen fällt die Niederschrift schwer. Keiner hat mit der Sprache Probleme. Keiner verirrt sich im Stoff, keinem fehlen die Worte, keiner kleckst und druckst lustlos herum. Keinen überfordert die Formulierung, sondern alle sind Herr der Materie. Jeder bringt sein Teil so zu Papier, dass die Leserschaft sich darin einnisten kann. Außer sie wittert die Täuschung. Entweder hat der Heilige Geist seine Hand mit im Spiel, oder der Sprachzauber ist faul.

Dem kritischen Befund, das Ganze sei Folklore, widersetzt sich die Literatur, die von früher her ähnliche Beispiele kennt, Chroni­ken ohne Gewähr, erfundene Mappen der Väter und Urgroßväter, ungewisse Pergamente und ungesicherte Zeugenaussagen, Spielmaterial der Dichter seit eh und je, um den Anschein von Authentizität zu erwecken. Warum soll die Machart nicht mehr wie einst funktionieren? Wer sagt, sie sei von den Erkenntnissen und Errungenschaften der letzten 150 Jahre abserviert worden und stehe der heutigen Zeit so fremd gegenüber wie das Spinnrad der Textilindustrie? Ganz von der Hand lässt der Verdacht sich nicht weisen.

Der arme Christoph Hein könnte sich nur auf Bitterfeld stützen, wenn er das schriftstellerische Rüstzeug seiner Autoren rechtfertigen müsste. Dann wären sie die Reklametypen für die Einrichtung der schreibenden Zirkel im Sozialismus. Oder er pfeift auf die Motivation und pocht auf die Freiheit der Kunst. Mit ihr im Bund kann uns nichts passieren, vorausgesetzt, wir sind der Patronin gewachsen.

Das Flüchtlingskind kommt in der deutschen Nachkriegsmisere und dem frisch gegründeten Arbeiterstaat als ein Fremdkörper an. Es wird uns als ein schlechter Schüler, bockiger Einzelgänger, verstockter Außenseiter und brutaler Selbstversorger geschildert, als der Polacke, ein armer Hund oder einfach der Neue, falls man die Bezeichnung «der Vertriebene» scheut. Er und die Seinen haben einen festen Platz im DDR-Realismus. Anna Seghers, die in der Erzählung «Die Umsiedlerin» das Leidenspathos der Zuzügler von jenseits der Oder würdigt, beschert den Einquartierten die Hoffnung auf ein gutes Ende. Sie erweisen sich als so tüchtige und willige Leute, dass die Einheimischen sie als Mitbürger akzeptieren werden. Heiner Müller macht ein Drama da­raus. Der Romancier zieht den Fall in die Länge.

Aus dem Kind wird ein Mann und aus dem düsteren Knaben ein dunkles Subjekt zwischen Anpassung und Kriminalität. Mal dient er dem Staat als Agitator für die Enteignung der Großbauern und betätigt sich ein anderes Mal als Schleuser, macht auf dem verminten Gelände zwischen den Fron­ten das große Geld, gründet eine bürgerliche Existenz, reüssiert mit einem eigenen Handwerksbetrieb und kommt heil in der neuen Bundesrepublik an.


Stimme des Volkes, ganz im Ernst

Auch hier ist das Ende gut, aber nicht ideal, sondern passend zur durchschnittlichen Humanität. Die schäbige Vita eignet sich für die Geschichtsschreibung von unten. Den Memoiren der präparierten Erzähler fügt der Vor- und Nachwortschreiber den Blick von oben hinzu. An die Stelle des Schlesiers, der sich die Achtung seiner Mitbürger ertrotzt hat, sind die Vietnamesen getreten. Jetzt wird ihnen das Leben zur Hölle gemacht. Das Fazit ist die andauernde örtliche Xenophobie.

Christoph Hein meint es ernst. Durch den Roman hindurch sollen die Volksmün­der sprechen. Zum Beispiel die Friseurin: «Ich werde dieses Frühjahr erleben und vielleicht noch ein zweites, sicher nicht mehr sehr viele. Meine Zeit ist geschrumpft, sie ist ein kleiner Schneestreifen in der Sonne, lang­sam und unaufhörlich vergehend.» Oder der Autoschlosser: «Die Latten splitterten beim ersten Schlag, und in wenigen Minuten lag das gesamte Holzgerüst auf dem Straßenpflaster. Von der Friedenstaube war nicht viel übriggeblieben. Eins der aufgemalten Augen und der rote Schnabel waren unter dem zersplitterten Holz zu erken­nen. Ein graues viereckiges Monument, das unter dem Kasten verborgen war, sah ich zum ersten Mal und ging näher heran. Es war ein Denkmal für die Gefallenen des Weltkriegs, des ersten Weltkriegs, wie man den Zahlen der Todesjahre entnehmen konn­te, die hinter den Namen standen. Auf allen vier Seiten des Monuments waren Einschußlöcher zu sehen, und oben auf der Spitze des Denkmals wohl die Reste der Nach­bildung eines Eisernen Kreuzes, es war lediglich zu vermuten, so sehr war es beschädigt.»

Oder die Heimleiterin: «Er knurrte etwas. Ich schob meinen kleinen Hintern zu ihm, und dann ging alles ganz rasant. Er riß den Büstenhalter herab, wobei die Me­tall­ösen durchs Zimmer  flogen, umfaßte meine Brüste und trug mich zum Bett. In einer Sekunde war er ausgezogen und lag über mir.» Oder die Leseprobe auf dem Buchumschlag: «Wenn er mich minutenlang ansah und dann meine Hand anfaßte, bekam ich sofort ein Fell, denn alle Härchen auf meinem Arm standen augenblicklich aufrecht. Er blickte einem unverwandt und freundlich in die Augen, und auf der Stelle roch ich diesen Geruch, er verströmte einen Duft von Kraft und Entschlossenheit.»


Wiederkäuer auf abgegraster Weide

So romanhaft spricht die Kunst-DDR. Von der heutigen Spaß-DDR unterscheidet sie sich programmatisch. Diese ist zu einer blühenden Landschaft für Literaten und Filmemacher geworden. Sie heckt Satiren und Schwänke. Ihr Boom kennt keine Grenzen. Dagegen hat jene ihre Zeit überlebt. Sie war, solange das sowjetisierte Deutschland dauerte, eine zweite Heimat gewesen, wurde mit Tränen genetzt, von Seufzern umflort und im Westen als das exotische Drüben geschätzt, aber ist inzwischen eine abgegraste Weide, auf der die Wiederkäuer das dürftige Futter malmen.

Das Konvolut der Erinnerungen, zusammengefasst unter dem Titel «Landnahme», ist trotz der prätendierten Volkstümlichkeit so mager, dass die Rippen sich abzeichnen. Ein gestaltloser Dämon durchquert die Druckseiten, passiert den 17. Juni, 13. August und 9. November und wird am Ende zum Präsidenten der örtlichen Faschingsgesellschaft gewählt. Strohmänner notieren seine Spuren. Warum sie es tun, in wessen Auftrag und zu welchem Zweck, behält der Roman für sich. Die Republik, aus der er berichtet, verkleinert sich anekdotisch. Die Schreckensherrschaft nimmt beiläufige Züge an. Das Hauptthema sind die Machenschaften und krummen Touren. Der Ankömmling aus der Fremde  verlässt die Szene fünfzig Jahre später mit erhobenem Haupt: «Der Karnevalshut auf seinem dicken Schädel war verrutscht, ich setzte ihm den Dreispitz zurecht, bevor er he­run­terfallen konnte.»

Der lebende Leichnam der Kunst-DDR

Sämtliche Auskünfte erfolgen unverbindlich. Die Informanten werden von einer ano­nymen Autorität gelenkt. Sie sind keine Romanfiguren, sondern Romanfunktionäre. Sollte dem Leser vor der Untiefe schwindeln, sagt ihm das fingierte Deutsch, woran er sich halten könnte: «So ein bißchen küssen und anfassen, nichts weiter.» Der Schriftsteller kratzt den Blechnapf wie ein Häftling aus, obwohl er doch eigentlich frei ist. Aber der Eindruck kann täuschen.

Die verflossene Kunst-DDR braucht nicht wie ein Bettler am Wegrand zu sterben, sondern wird umhegt und umsorgt. Ihr trauriger Zustand erhebt sie über jede Kritik. Wer möchte so roh sein, einen lebenden Leichnam zu schänden. Die Nachsicht, die ihm widerfährt, ist ein Akt des mitmenschlichen Anstands. Überdies vermittelt er der postmodernen Epoche einen Hauch der früheren Zeit, als die schöne Literatur und die Fiktion ein unzertrennliches Paar waren. Der nostalgische Reiz, und sei er ein Grufthauch, hat ein Publikum und einen Marktwert. Selbst junge Autoren möchten davon profitieren.

Dagegen wuchert der gereifte Autor mit seinem ureigenen Pfund. Wer außer ihm beherrscht die DDR-Kunst und die Kunst-DDR heute noch so wie er? Seine Lesungen in den alten und neuen Bundesländern formieren sich zu einem Triumphzug, und Koryphäen des öffentlichen Lebens gewähren ihm ihren Geleitschutz. Man könnte ihnen unterstellen, sie seien alle so gutgläubig wie Katharina die Große angesichts der Potemkinschen Dörfer. Indessen sagt die Geschichte nicht, ob die Zarin den Zauber durchschaut und den Attrappenmeister nur deshalb geschont hat, weil er ihr Günstling war und die Vortäuschung mit der Politik harmonierte.

 

Sibylle Wirsing, langjährige Theater- und Literatur­kritikerin der FAZ, ist freie Publizistin und lebt in Berlin.

 

Christoph Hein
Landnahme. Roman
Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2004. 360 S., 19,90 €

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