- Ein-Kind-Politik, Zweitfrau und Samenraub
Nobelpreisträger Mo Yan spießt die chinesische Geburtenpolitik auf
Glatt sind sie und glitschig, und ihr Geschrei kann sich wie Quaken anhören: Neugeborene Babys haben einiges mit Fröschen gemeinsam. Im Chinesischen liegt die Homologie noch näher, denn die Schriftzeichen für „Frosch“ und „Baby“ werden gleich ausgesprochen, nämlich „Wa“. In seinem jüngsten Roman macht sich der Literaturnobelpreisträger des Jahres 2012 diese Analogie zunutze. „Frösche“ ist ein wahres Feuerwerk symbolischer Bezüge, eine krachende Orgie des Erzählens, derb, komisch, brutal, aber auch offen für menschliche Schwächen und Sehnsüchte.
Von den Liebesnarreteien eines jungen Mannes bis hin zum Kinderwunsch einer Frau in der Menopause, die ihrem Mann heimlich seinen Samen raubt, um eine Leihmutter befruchten zu lassen, ist dem Autor nichts Menschliches fremd. Freilich erzählen sich solche Geschichten in China anders als hierzulande. Wo die Politik nicht mit freundlichen Versprechungen an der Geburtenschraube dreht, sondern rigide in das Leben der Familien hineinregiert, ist das Private auf andere Weise politisch als in demokratischen Gesellschaften. Der 1955 als Guan Moye in Gaomi, Provinz Shandong, in eine Bauernfamilie hineingeborene Schriftsteller hat sich mit seinem Künstlernamen Mo Yan die Warnung seiner Mutter auf die Fahnen geschrieben: Er bedeutet „Nicht sprechen“. Das ist nur scheinbar paradox. Denn Sprechen und Schreiben sind nicht das Gleiche, zumal wenn es sich um Literatur handelt – die Literatur kann den Radar der Zensur austricksen, ein altbekanntes Phänomen, das sich auch Mo Yan zunutze macht.
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Im Zentrum des Romans steht die Tante des Erzählers, für die es im Leben des Schriftstellers, wie das Nachwort verrät, ein reales Vorbild gibt. 1937 geboren, wurde sie als Sechzehnjährige nach den Standards der modernen Medizin zur Hebamme ausgebildet. Die Spannung zwischen westlicher und traditioneller Chinesischer Medizin, aber auch zwischen technischem Fortschritt, Aberglaube und Religion durchzieht den Roman, ohne dass er sich ganz auf eine Seite schlägt. Die Hebammenkunst von Tante Gugu, wie der Erzähler sie nennt, ist der alten Praxis der „Wehmütter“, die sich schon mal mit ihrem ganzen Gewicht auf Schwangere setzen, um die Geburt zu beschleunigen, deutlich überlegen. Bald bringt Gugu sämtliche Kinder der Gegend auf die Welt. Schon bei ihrem Erscheinen überkommt die werdenden Mütter eine „fast heilige Ruhe“. Eine Zeit lang wird die anfangs zarte Frau wie die Reinkarnation einer berühmten Gottheit verehrt.
Allmählich aber wendet sich das Blatt. Brachen nach der großen Hungersnot 1960 die Geburtenzahlen ein, weil die Frauen ihre Regel nicht mehr bekamen, bewirkte die üppige Ernte von 1962 eine wahre Kinderschwemme. Bereits 1965 gab es erste Appelle der Regierung, die Zahl der Geburten zu senken. Mit der Einführung der Ein-Kind-Politik verwandelt sich Gugu in einen wahren Höllenhund, massig und martialisch auch im Aussehen. Die Männer werden zur Sterilisation aufgerufen. Den Frauen setzt sie ohne Zustimmung nach der Geburt des ersten Kindes eine Spirale ein. Werden sie jenseits des „Plansolls“ schwanger, werden sie mit brutalen Mitteln zur Abtreibung gezwungen. Um schwangere Frauen aus ihren Verstecken zu scheuchen, lässt Gugu Bäume ausreißen oder ganze Häuser plattwalzen. Eine Frau jagt sie mit dem Patrouillenboot zu Tode. Renmei, die lebenslustig kühne Gattin des Erzählers, stirbt bei einer Spätabtreibung. Der heiratet prompt Gugus Assistentin.
Mo Yan präsentiert den gewaltigen Stoff seines Romans in Form von Briefen, die der Ich-Erzähler, ein Schriftsteller mit dem Künstlernamen „Kaulquappe“ an einen japanischen Freund schreibt, während er an einem Theaterstück über seine Tante arbeitet. Über fünfzig Jahre erstreckt sich die Handlung und reicht bis in die Gegenwart, in der eine Vielzahl von Ausnahmen sowie marktwirtschaftliche Interessen die Ein-Kind-Politik durchlöchern. Die Strafen für „überzählige Kinder“, wie sie im Roman heißen, zahlen Reiche, ohne mit der Wimper zu zucken. Wer kann und will, hält sich Zweit- und Drittfrauen, um mit einem männlichen Stammhalter sein Erbe abzusichern. Die symbolische Pointe des Romans ist eine als Froschzucht getarnte Leihmutterfirma.
So verständlich es ist, dass Exilanten wie der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels Liao Yiwu die Verleihung des Literaturnobelpreises an einen auch in China preisgekrönten Schriftsteller, der überdies stellvertretender Vorsitzender des chinesischen Schriftstellerverbands ist, empörend fanden: Die hohe Kunstfertigkeit dieses Autors verträgt sich durchaus mit Gesellschaftskritik. Auch wenn sie unter der Maske des Burlesken in Deckung geht.
Mo Yan: Frösche. Roman. Aus dem Chinesischen von Martina Hasse. Hanser, München 2013. 512 S., 24,90 €
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