- Trügerische Sterne
Die Prädikate der einschlägigen Gastronomieführer sorgen zwar für Ruhm und Reservierungen – aber über den Zustand der Realgastwirtschaft sagen sie praktisch nichts aus. In der Politik ist das so ähnlich
Welches ist das beste Restaurant der Stadt? Selten gibt es auf diese Frage eine eindeutige Antwort. Im Gegenteil: Gerade beim Essen ist das Spektrum des Appetits sehr weit und schwer zu überschauen. Wer gerade Lust auf ein Butterbrot mit Schnittlauch hat, wird an einem anderen Ort seinen Hunger stillen als jemand, dem ein Kaisergranat im Tempurateig an Mango-Chili-Espuma die höchste Befriedigung verschafft.
Und doch gibt es eine Sehnsucht nach einer Hierarchie der Restaurants. Vielleicht ist es gerade die Vielzahl der kulinarischen Richtungen und gastronomischen Einrichtungen, die nach einer strukturierten Übersicht verlangt. Und so erwarten nicht nur die betroffenen Köche, sondern die ganze Öffentlichkeit den Richtspruch von Experten.
Unter den verschiedenen Publikationen, die alljährlich die örtlichen Lokale prüfen und bewerten, ragt dabei der älteste Gastronomieführer Michelin heraus, dessen Gefolgschaft die für unbestechlich gehaltene Klassifizierung nach Sternen als Maß aller Dinge ansieht. Meisterköche hoffen und bangen vor dem Erscheinungstermin im November, wenn die neuen Klassifikationen bekannt gegeben werden, denn jeder weiß, dass ein Stern mehr oder weniger über Wohl und Wehe einer Gastwirtschaft entscheiden kann.
Das Prädikat des französischen Reifenherstellers sorgt für Ruhm und Reservierungen – jedenfalls, was die Beköstigung der Oberklasse angeht. Gerade Manager und Honoratioren bestimmen ihr eigenes Prestige analog zu den Sternen der Lokale, in die sie von ihren Geschäftspartnern eingeladen werden. Und auch die wenigen, die für sich selbst die Rechnung begleichen und einen Abend mit dem Monatslohn einer Putzkraft zahlen, wollen dafür mit dem Gefühl nach Hause gehen, auf anerkannt hochklassige Art bewirtet worden zu sein.
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Obwohl die Mehrheit der Bevölkerung nicht einmal die Absicht hat, jemals bei einem der gefeierten Köche zu Gast zu sein, ist das Interesse an den Ranglisten erstaunlich groß – als wenn beim Fußball die Aufmerksamkeit lediglich auf die Tabelle gerichtet würde, aber nicht auf das Geschehen im Stadion. Vielleicht liegt es daran, dass ein im Grunde banales System aus Punkten, Hauben oder Mützen auch für kulinarische Laien leicht verdaulich ist. So können Städte mit der Anzahl der Sterne für ihre ausgezeichneten Restaurants werben und daraus falsche Schlussfolgerungen für die Esskultur innerhalb ihrer Mauern ziehen. Denn die Edelgastronomie ist derart abgehoben vom alltäglichen Geschehen, dass man tatsächlich von einem Firmament sprechen könnte, an dem die Sterne nur von oben herab glitzern – Lichtjahre von den Herden und Speisekammern am Boden entfernt, die sie so wenig beeinflusst wie die Horoskope in der Tageszeitung.
Abseits des Rummels um die Sterne existiert eine Parallelwelt, die man analog zum Finanzwesen als Realgastwirtschaft bezeichnen könnte. In dieser Sphäre genießen Menschen vielleicht völlig andere Speisen zu ganz anderen Preisen und stillen ihren Hunger. Hier wird der größte Teil des Umsatzes erzielt, ohne großes Aufsehen zu machen. Der schwelgenden Mehrheit sind Sterne schnuppe.
Damit verhält es sich ähnlich wie in der Politik. Auch hier gibt es Lichtgestalten, auf denen die Hoffnung vor allem der Journalisten ruht. Es sind Redetalente, die auf alle Fragen eine Antwort geben können und denen in Talkshows und auf Titelseiten jederzeit Platz eingeräumt wird – und wenn Orden zu verteilen sind, halten sie bereitwillig ihre Brust hin. Doch obwohl es in einer Demokratie naheliegt, den Volkstribun als den König der Republik aufzufassen, ist er selten maßgeblich an der Ausgestaltung der Geschicke des Landes beteiligt. An den Fleischtöpfen der Politik sind andere Köche tätig, deren Rezepte sich auch umsetzen lassen, wenn nur Kraut und Rüben vorrätig sind. Das mag unscheinbar sein, aber es ist wirkungsvoll und mehrheitsfähig. Denn am Wahltag entscheiden sich die Bürger zumeist gegen die Sterne, die man ihnen vom Himmel holen will, sondern für eine Kost, die sie auch sättigt.
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