Bücher des Monats - "Kann ich wollen, was ich will?"

Warum die neurologische Forschung heute Hochkonjunktur hat – als Übertreibungswissenschaft und als Stichwortgeberin in philosophischen Debatten

Als Papst Paul VI. die große Halle betrat, festlich gewandet zur offiziellen Audienz, knieten die Kardinäle in ihren roten Roben nieder und küssten seinen Ring. Nur die Biologen, Neurologen, Physiker und Kognitionswissenschaftler blieben stehen und schüttelten dem Stellvertreter Christi die Hand. Die päpstliche Akademie der Wissen­schaften hatte 1964 in den hochherrschaftlichen Renaissance-Bau, das Wohnhaus Pauls VI., geladen, um mit den führenden Experten der Zeit über Brain and Conscious Experience, Gehirn und bewusstes Erleben, zu philosophieren.

Besonders eine neue Erkenntnis beschäftigte die Forscher und Bischöfe. Der Neu­rophysiologe Benjamin Libet vom Mount-Zion-Krankenhaus in San Francisco hatte Patienten Elektroden im Gehirn platziert und eine Reihe kühner Messungen durchgeführt. Viele der führenden Neurologen der Zeit, darunter der Nobelpreisträger Sir John Eccles, zeigten sich beeindruckt. War es denkbar, dass zwischen einem Sinnesreiz und seiner Wahrnehmung im Gehirn nicht weniger als eine halbe Sekunde Zeit vergeht? Und – noch viel erstaunlicher – besitzt unser Gehirn die Fähigkeit, diesen zeitlichen Unterschied durch eine «Rück­datierung» vor uns selbst zu verbergen?


Neurologische Seelen-Erkundungen

Benjamin Libet erzählt diese Episode in seinem neuen Buch «Mind Time. Wie das Gehirn Bewusstsein produziert». Der Untertitel ist ohne Zweifel ein Missgriff des deutschen Verlags; im Original heißt es «The Temporal Factor in Consciousness». Denn wie das Gehirn Bewusstsein erzeugt, das weiß natürlich auch Libet nicht: «Wir wissen und verstehen nur wenig davon, wie es entsteht und welche Funktionen unser subjektives In­nenleben bei unserem bewussten Willen hat.»

Doch die Neurowissenschaften haben Konjunktur und mit ihnen das Interesse der Verlage und Feuilletons an allen Fragen des Gehirns (siehe „Literaturen” 1–2/2005). Die Folge sind gewaltige Titel: «Was die Seele wirklich ist», wusste schon zu Anfang der neunziger Jahre Francis Crick, der Entzifferer der Doppel-Helix; «Con­sciousness Explained», ein solches Unterfangen traute sich der Neurologe Daniel Dennett zu; «Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins» verkündete zugleich sein Kollege Antonio Damasio.

Wenn allerdings die schwere Hypothese gesetzt ist, krabbeln die Einzelteile beschädigt darunter hervor. Was auch immer die Neurowissenschaften ihrem Wesen nach sein mögen, zur Zeit sind sie eine Übertreibungswissenschaft. Ein kurzer Rundblick auf die Fülle der Erklärungsliteratur belehrt darüber unmissverständlich: Kein Gesamtbild zeichnet sich ab, nicht einmal ein Mosaik. Eher ein wildes Sammelsurium aus Legosteinen, Fischertechnik und Plastikant, die nicht richtig zusammenpassen. Auch «Mind Time» ist keine große Erklärung, sondern ein Sammelband von Aufsätzen, gruppiert um eine vierzigjährige Praxis experimenteller Untersuchungen.

In den späten Fünfzigern führte Libet Experimente an nur lokal betäubten Patien­ten des Neurochirurgen Bertram Feinstein durch. Er reizte die freiliegenden Gehirne im Operationssaal mit elektrischen Impulsen und fand heraus, dass zwischen der Reizung der Hirnrinde und der subjektiven Empfindung des Patienten mindestens eine halbe Sekunde Zeit verstrich; eine Verzögerung, derer sich der Mensch nicht bewusst wird.

Als Libets Versuche 1964 Aufsehen im Vatikan erregten, kannte ihr Urheber noch nicht die Ergebnisse von Hans Kornhuber und Lüder Deecke. Auch sie hatten eine Zeitverzögerung festgestellt. Der Weg von der Absicht, eine Handbewegung auszuführen, bis zur tatsächlichen Handlung dauerte fast eine Sekunde. Diese Messungen brachten Libet nun richtig in Furor. Eine Sekunde Unterschied zwischen Absicht und Tun – das widersprach völlig dem gesunden Menschenverstand. Wer nach einer Tasse Tee greifen will, tut es sofort; wo bleibt da die gemessene Differenz von einer Sekunde?

Erst handeln, dann denken?

Die Sekunde, so folgerte Libet weiter, mag verstreichen, aber sie wird offensichtlich zugleich subjektiv wieder reduziert. Im März 1979 begannen jene Experimente, die als «Libet-Experimente» bekannt wurden und ihrem Urheber Weltruhm einbrachten. Er bereicherte die Versuchspraxis um den bislang nicht wirklich messbaren subjektiven Faktor der persönlichen Empfindung. Eine Patientin im Lehnstuhl schaut auf eine große, stark beschleunigte Uhr, einen grünen Punkt, der im Eiltempo eine runde Scheibe umkreist. Willkürlich bewegt sie irgendwann ihr Handgelenk und merkt sich zugleich die Stellung des Punktes zum Zeitpunkt ihres Entschlusses. Den genauen Zeitpunkt der Bewegung zeigte die Spannungs­änderung der Elektrode am Handgelenk, die Bereitschaft zum Handeln zeigten die Elek­troden am Kopf.

Die Reihenfolge des Handlungsablaufs überraschte: Zuerst meldet sich die Elektrode am Kopf, eine halbe Sekunde später liegt der Zeitpunkt, den die Patientin mit Blick auf die Uhr als Moment ihres Entschlusses angibt, und etwa 0,2 Sekunden später erfolgt die Handbewegung. Die Patientin hatte sich entschieden zu handeln – und zwar eine halbe Sekunde bevor sie von dieser Entscheidung wusste. Der vorbewuss­te Reflex, etwas zu wollen oder zu tun, war schneller als die bewusste Handlung. Trifft es demnach zu, dass das Gehirn Willensprozesse einleitet, bevor der Mensch sich dieses Willens überhaupt bewusst wird? Und bedeutet dies nicht zugleich das Ende der philosophischen Idee von der menschlichen Willensfreiheit? Heute, fünfundzwan­zig Jahre später, erleben Libets Versuche
eine Renaissance; allerdings weniger bei Neurologen als bei Philosophen, und der inzwi­schen 88-jährige Autor ist heute so prominent wie nie zuvor.


Was bleibt vom freien Willen?

In der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte Arthur Schopenhauer die ketzerische Frage gestellt: «Kann ich wollen, was ich will?» Die Frage war ein Affront. Denn ohne Willensfreiheit keine Vernunft und ohne Vernunft kein moralisches Handeln. Führen Libets Experimente nun zu einem späten Triumph dieser Skepsis? Ist die bewuss­te oder vernünftige Sicht der Dinge nur schmückendes Beiwerk im Nach­hinein, eine rhetorische Rechtfertigung oder ein verspäteter Kommentar?

Wie ehedem Schopenhauer, so nimmt heute eine ganze Armada von Hirnforschern der Erkenntnistheorie und der Moralphilosophie das Fundament. Die Freiheit des Willens, so die geläufige These, ist eine schlichte Selbsttäuschung. Libet selbst sieht sich weniger als Guru eines neuen Materialismus, sondern vielmehr als Zauberlehrling, der die Geister fürchtet, die er rief. Denn wenn es richtig ist, dass der Zeitpunkt, an dem ein Patient sich seiner Entscheidung bewusst wird, in der Mitte liegt zwischen vorbewusstem Entschluss und Handeln – so bleibt ihm doch immerhin die Chance, die Aktion abzubrechen. Geht der freie Wille mit Libets Experimenten auch dahin, so bleibt der Unwille doch gleichwohl frei genug, um das Schlimmste zu verhüten.

Für Libet sind die Fronten damit geklärt. Der Mensch bleibt kompliziert, und die «nichtphysische Natur des subjektiven Bewusstseins, einschließlich der Gefühle von Spiritualität, Kreativität, des bewussten Willens und der Vorstellungskraft», wird «nicht direkt und ausschließlich anhand von physischen Belegen beschreibbar oder erklärbar».

Die überzeugendste Kritik kommt aus einer Disziplin, mit der Libet am liebs­ten nie etwas zu tun hätte: aus der Semantik. Schon als Student hatte Libet entdeckt, «dass sprachliche Ausdrücke nicht völlig angemessene Repräsentationen der Wirklichkeit» sind. Diese Entdeckung – die wohl auf immer mit dem Namen Saussure verbunden bleibt und nicht mit dem Namen Libet – hatte den jungen Neurowissen-schaftler darauf gebracht, «über die Wirklichkeit auf nonverbale Weise nachzudenken». Unmiss­verständlicher ausgedrückt: Er wollte vor allem messen.


Grauzonen des Bewusstseins

Was aber geschieht, wenn man die Mess-Ergebnisse von Elektroden am Kortex notwendigerweise doch in Sprache übersetzt? Wenn man sie dem «Unterbewusstsein» oder «Vorbewusst­sein» zurechnet und für das Markieren des Punktes auf der Uhr «Bewusstheit» oder «Unbewusstheit» in Anspruch nimmt? Dann führt auch Libet «nicht völlig angemessene Repräsentationen der Wirklichkeit» ein. Denn was ist schon ein «Vorbewusstsein»? Einen Willen, der ein Handgelenk zum Beugen bringt, mag ich vielleicht «vorbewusst» nennen. Aber was ist mit dem Willen, der in zahlreichen Impulsen eine mathematische Aufgabe löst oder eine philosophische Argumentation entwirft?

So aufschlussreich Libets Mess-Er­geb­­nisse erscheinen, sie produzieren keine Antworten, sondern Fragen. Könnte es nicht sein, dass sich die Vorgänge im Gehirn gar nicht auf eine solche Weise in «vorbewusst» und «bewusst» trennen lassen? Dass sie sich gar nicht einhegen lassen durch solche simp­len Zäune der Sprache? Und wäre es zum Beispiel nicht denkbar, dass auch ein bewusster Wille (was immer das sein mag) ungefähr eine halbe Sekunde braucht, um sich dem Selbstbewusstsein (was immer das ist) als ein solcher bewusster Wille mitzuteilen? Dass also weitaus mehr Komponenten im Spiel sind als nur die zwei schlichten Schemata von «vorbewusst» und «bewusst»?

Als Interpret seiner Mess-Ergebnisse ist Libet ein schlichter Handwerker, ein allzu schlichter. Die große Frage nach der Freiheit des Willens lässt sich wohl kaum durch die Frage ersetzen, wie viel oder wie wenig Zeit zwischen einem Gehirnimpuls und dem Gewahrwerden dieses Impulses vergeht. Und das Rätsel des Bewusstseins, dieses nebligsten aller Wörter, bleibt weiterhin bestehen.
 

Richard David Precht, freier Publizist und Autor, lebt in Köln. Zuletzt erschien sein Roman «Die Kosmonauten».

 

Benjamin Libet
Mind Time. Wie das Gehirn Bewusstsein produziert
Aus dem Amerikanischen von Jürgen Schröder.
Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2005. 304 S., 19,80 €

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